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Dem Königlich Preußiſchen
erſten geheimen Kabinetsrath,
Herrn Beyme,
Aller guten Wiſſenſchaft Kenner und Be.
förderer,
ehrfurchtvoll zugeeignet
Do m
Verfaſſer.
Wenn neben der Heldenbahn der Erobe⸗
rer und neben dem öffentlichen Leben der
Häupter und oberſten Diener des Staats,
der Gang der Denkungsart nnd Wirkſam⸗
keit eines Gelehrten feine Annalen vers
dient, fo gebührt eigentlich ſolchen die Eh⸗
re, die, an Geiſt und Art ausgezeichnet,
mit nicht geringerer Weisheit als Wiſſen⸗
ſchaft, auf die Bildung der Menſchheit
ihrer und folgender Zeitalter einflußreiche
Kraft geäußert. Obſchon Verwaltung
und Waffen, wodurch das gemeine Weſen
vi
unmittelbar beſteht, natürlich die Aufmerk⸗
ſamkeit am allgemeinften feſſeln, fo unz
leugbar iſt für unſer Vaterland Europa
nicht weniger wichtig, die Fortſchritte oder
den Rückgang eines jeden Volks in ſeiner
Cultur zu beobachten. Denn auffallender
als zu unſerer Zeit iſt kaum je bewieſen
worden, daß nicht phyſiſche Überlegenheit,
noch angelernter Mechanismus, daß Geiſt
und Character die Oberhand giebt. So
irrig der Wahn wäre, bey dem raſtloſen
Streben der vorzüglichſten Völker, unge—
ſtraft zurückbleiben zu können, fo eitel wä⸗
re die Anmaßung eines Gewalthabers, den
Ideenſchatz, das Erbtheil der Jahrhunder—
te, nach Willkühr ſpärlich unter die len:
ge kommen zu laſſen. Zwey Dinge, die
jedem empfänglichen Menſchen ſein An—
recht ſichern, haben in der eurspäiſchen
Republik einen unbeſtechlichern, muthigern,
unvertilgbarern Demos, “) als jener affi:
ſche geweſen, hervorgebracht: Seit uf:
tenberg die Druckerey gelehrt, ſeit Reli—
gion und Philoſophie durch Luther und
Thomaſius in der Muttern vorge⸗
) Volksgemeinde.
‚va
tragen wurden, hat die Verbreitung und
Verewigung der Kenntniſſe ein Publicum
gebildet, welches hin und wieder auf eini-
ge, auch längere, Zeit, gänzlich aber erſt
alsdann verſtummen kann, wenn wahre
Sitten verderbniß (Trägheit und Selbſtſucht)
ein unwiderſtehliches Weltreich aufkommen
laſſen ſollte. Alsdann erſt könnte der
Deeident, wie Shina, feinen Tſchi⸗Hoang⸗
ti bekommen; welcher ſiegreiche prachtlie—
bende Kaiſer durch Vernichtung der Bü—
cher den Ruhm ſeiner Thaten verdunkelt,
und zu dem (nach kaum fünf Jahren er⸗
folgten) Sturz der Herrſchaft ſeines Hau—
ſes hiedurch hauptſächlich beygetragen hat.
Unter den Männern, welchen wir ei:
ne große und fruchtbare Verbreitung ge⸗
meinnütziger Anſichten und Überzeuguns
gen zu danken haben, iſt Chriſtian Tho⸗
maſius der vorzüglichſten einer.
Die Früchte der Unternehmung Lathers,
welcher den biedern teutſchen Sinn an
fremdem Trug zuerſt gerochen, waren ſeit
mehr als hundert Jahren durch Wort—
ſtreitigkeiten und den Zwang ſcholaſtiſcher
Formen beynahe ungenießbar geworden.
VIII
Die Weisheit, welche für alle iſt, wird ſel⸗
ten lang in der Einfalt, womit ſie aus
der Quelle floß, vorgetragen. Bald wird
ihr Zugang wie mit einem dornichten Ge⸗
ſtrüpp unerhörter Kunſtausdrücke umzäunt;
oder man hüllt fie mumienartig in feſtan⸗
liegende Bande, deren Hieroglyphe für
die e e e Zunft ſelbſt nur auf ei⸗
nige Zeit klaren Sinn hat. Solcher mas
ßen war dazumal auch die Religion (in
ihrem Weſen die Tochter des Gefühls und
der Anſchauung, in ihrer Form eine aus
der höchſten Vorwelt viele erhebende, vie
le lehrreiche Epochen herunter geführte
Überlieferung) ein trockenes, ſtachlichtes
Syſtem von Dogmen und Controverſen
geworden, und die Philoſophie, gebannt
in die Schranken der Lehrform eines miß⸗
verſtandenen großen Geiſtes, fremde der
Natur, ihrer Quelle, fremde der Welt,
welche ſie bilden ſollte, ertönte von Ka—
thedern und Bänken mit amine
dem Geſchrey. | 2
Solchen Mißbräuchen, obere |
große und geiftreiche Völker nicht nur im
Joch der Vorurtheile, ſondern in durch⸗
IX
gängiger Unbehülflichkeit zurückgehalten
werden, begegnete Thomaſius mit kühnem
Schritt auf die rechte Art. Wie Carus
nichts mehr fürchtete, als aus der grau⸗
fen Höhle hervorgezogen zu werden, fo iſt
dem Reich der Finſterniß und aller Tyran⸗
ney nichts verderblicher, als Enthüllung
vor den Augen der Menge. Denn es ijt, es
iſt, in unſerer Natur ein Wahrheitsſinn, wel⸗
cher, einmal aufgeregt und angeſprochen,
ſo lang er den Muth behält, gerade zu
ſehen, ſchwer zu täuſchen iſt. Ihm die
Oberhand, ihm Thatkraft geben, das heißt
5 eine Nation wahrhaft aufklären.
Hiezu würkte Thomaſius, theils durch
die teutſche Sprache ſeines Vortrages,
theils durch fein unaufhörliches Beſtreben,
alles klar, alles gemeinnützig zu machen,
und zu dem Ende in dem urſprünglichen
Weſen ſeiner Tendenz darzuſtellen.
Schwer bleibt jedem auf einer neuen
Bahn raſch vorausſchreitenden Mann, jes
den Schritt zu meſſen, daß keiner ſeitwärts
trete. So mag der Eifer für die Volks⸗
ſprache, und, in einer Periode ſeines Le—
bens für eine beſondere Art von Religio—
X
ſität, Thomaſen für altcelaſſiſche Literatur
unempfindlicher gemacht haben. Ganz der
Mann ſeiner Zeit, wußte er dieſe Früch⸗
te einer verblüheten, ſchönern Welt nicht
nach ihrem Werthe zu ſchätzen, empfahl
jie aber, ohne es zu denken, durch feine
Lobreden auf Lebensweisheit. G iſt io
viele, wie bey den Alten! ).
Wenn nach ihm über felbſterdachte Ber
griffe und Vorſtellungen die Ergründung
und Beachtung von Thatſachen hin und
wieder verſäumt worden ſeyn ſollte, ſo
fehlt viel, daß darum Er, ein Mann von
den vielſeitigſten Kenntniſſen, einer Verach⸗
tung der eigentlichen Gelehrſamkeit beſchul⸗
diget werden dürfte. Das Schwerfällige,
das Ungenießbare, nahm er ihr. Daß
Leichtſinn, Trägheit und Eitelkeit Wortge⸗
pränge dem reellen Gehalt oft vorziehen
würden, konnte er ſo wenig als andere
Ausſchweifungen hindern: doch zeigte er
den beſten Prüfeſtein: auf allem, was
dem Menſchen, was dem Staat unnüz
iſt, hielt er nie. |
Diefer Charakter einer, n e
Art zu reden, durchaus pragmatiſchen f
X1
Denkungsart, ſeine helle freye Anſicht und
feine lebensvolle Ergreifung der Gegen:
ſtände wurde, nach ſeinem Vorgang, wie
das Erbtheil der unter ſeiner vorzüglichen
Beywirkung entſtandenen Univerſität Halle.
Wenn der vortreffliche Geiſt Veit Lu—
dewigs von Seckendorf, der, der er-
ſten einer, das kunſtvolle Räderwerk einer
Staatsverwaltung mit anwendbaren Leh:
ren vor die Augen der Menge gebracht;
wenn Philipp Jacob Speners redli⸗
cher Sinn, der das Chriſtenthum von Ka—
thedern und Canzeln in die Häuſer und
Herzen des Volks bringen wollte; wenn,
in den erſten Zeiten einer Monarchie von
charakteriſirender Duldung, in jenem erſten
regen Streben nach jeder Ehre, jedem Fort—
ſchritt, ſolche Edle, und ein Mann von
Thomaſens Lebendigkeit und Umfaſſung
bey Organiſirung einer gelehrten Anſtalt
zuſammen wirken, ſo muß der Eindruck
bleibend werden.
Der dem Neid und Verfolgungsgeiſt
kaum entwichene Flüchtling fing an, jedem
Zweig der Wiſſenſchaften, den er öffentlich
unterſuchte, eine neue Geſtalt ſo zu geben,
-
4
su.
daß er, was man fonft nur aus Büchern
lernte, jedem in ſich ſelbſt und in der Welt
Lauf beſſer zeigte. Die ſeinem Lehrſtuhl i
gleichſam angebildete Univerfitäf zeichnete
ſich durch gleiche Hinſicht auf das Gemein⸗
nützige aus. Das freye Wirken des Gei⸗
ſtes war ohne Nachtheil für Ordnung und
Sitten, weil auch Thomaſius die muntere
Laune und ſein Feuer ſtrenger Sittlichkeit
unterwarf, und durch warme Religions-
verehrung den Jünglingen zu zeigen ſuch?⸗
ke, welche Ehrfurcht der Grund aller ge⸗
ſellſchaftlichen Verfaſſung und innern en 5
dee verdient. 5
Wie wenn der elektriſche hn einen
ſehr empfänglichen Stoff trifft, ſo, als der
Maſſe teutſchen Wiſſens und dem unge⸗
brauchten Schatz der unerſchöpflichen Mur:
terſprache einsmals wieder Geiſt und Kraft
gegeben ward; in zwanzig, dreyßig Jah⸗
ren wurde durch Thomaſius und zu Halle
mehr Altes neu beſeelt und benutzbar, als
vorher kaum in fünfmal ſo langer Zeit.
Die Religionswiſſenſchaft, in deren
meiſt polemiſchem Vortrag die Dialektik
ſonſt die Oberhand hatte, damals aber ei⸗
4
XIII
ne trübfinnige, harte Methodiſterey ſich
einzuſchleichen drohete, wurde was ſie ſoll⸗
te, einerſeits durch beſſere Forſchung der
Urkunde, anderſeits durch wohlthätige An⸗
ſtalten. Das iſt die Hauptſache, re echt wiſſen,
was Gott will, und es thun.
Man weiß, wie viele Opfer Tho⸗
maſius als Rechtsgelehrter dem Aber—
glauben entriſſen, wie er nach der ſchö—
nen Einfalt ſeiner Freyheit manches in
dem Naturrecht erheiterte; dabey freute er
ſich ſeiner jüngern Collegen, deren einer das
Chaos der Rechte mit der eleganteſten Bes
ſtimmtheit ordnete, ein anderer zeigte daß
ein gutes Kirchenrecht auch Boa Pabſt ſeyn
kann.
Die Weidildung der Rechte mit der Ge⸗
"ne; die ihre Urſachen erklärt, die Ber:
bindung der letztern mit der Politik, die bis
auf dieſen Tag nie ungeſtraft ihr Licht ver⸗
ſchmähet, fühlte er, und widerſetzte ſich nicht
wie andere dem aufblühenden Glück Jos
hann Peter Ludewigs, welchem der er⸗
ſte Ruhm ihrer Anwendung zukömmt. Nur
dieſe Kunſt (Montesquieu's unſterblicher Lor:
beer, weil niemand fie einnehmender entmi»
!
XIV
ckelt) giebt noch einiger Hoffnung Raum,
daß die viertauſenjährige Chronik der Thor⸗
heiten unſeres Geſchlechts nicht ganz verge⸗
bens geſchrieben ſeyn dürfte; zum Beyſpiel,
wenn ſie die Verkehrtheit von dieſer, die
verderbliche Scheinbarkeit jener Maaßregel,
wenn ſie die Geheimniſſe unbenutzter Kraft
und die ſchwachen Seiten der Präpotenz,
wenn ſie die mannigfaltige Liſt offenbart,
durch die manchmal unerſättlicher Ehrgeiz
Völker um ihreSelbſtſtändigkeit getäuſcht hat.
Wenn man den Eindruck der Empfeh⸗
lungen Thomaſens bey Hofe, wenn man
den Eindruck feines Beiſpiels auf die jünges
ren Lehrer und auf die academifche Jugend
bedenkt, fo iſt nicht zu leugnen, daß an als
lem Ruhm der in anderen Farultäten voll-
brachten guten und großen Dinge einiger
Antheil auch ihm gebührt.
Wir danken, was wir ſind, jenem ge⸗
nialiſchen Hauch, welcher in den Erdkloß,
unſern erſten Vater, fuhr. So iſt über alle
Nechnung, was ein academifcher Lehrer von
ſolcher Anziehungs- und Bildungskraft auf
fein und folgende Zeitalter Gutes vermocht.
In der That: Viele, die mit großer Pracht
T
und Macht ihr Zeitalter auf das glorreichſte
unglücklich gemacht, oder mit unſäglicher
Liſt und Kühnheit myſtificirt haben, werden
die Achtung und Liebe wie ſo ein Mann
bey der Nachwelt nicht finden.
Chriſtian Thomaſens gegenwärtiger Bio—
graphe, ein junger Mann, durch Recht:
ſchaffenheit und das trefflichſte Aufſtreben
vielen edlen Menſchen lieb, vor kaum
neun Jahren mit aller Wiſſenſchaft und
Gelehrtheit unbekannt, gebildet in Göttin⸗
gen, freylich durch die Weisheit und Kunſt,
noch mehr aber durch die liberale väterliche
Theilnehmung der ehrwürdigſten Lehrer, hat
1 alſo wol nicht übel gethan, aus den Werken
dieſes Mannes die Geſchichte ihrer Entſtehung
und ſeiner Schickſale zuſammen zu ſtellen.
Die Erzählung, wie vielfältig Thoma:
ſius in dem endloſen Dunkel der Myſtik her,
umgeirrt, die Erwähnung, wie hoch über
Virgil er den Lohenſtein und Hofmannswal—
dau geſetzt, zeigt die Unpartheiligkeit des
Verfaſſers. Im übrigen lebt Thomaſtus
mit großem und verdientem Namen, ſo un—
geleſen aber, wie ſeine Dichter, in der Ge—
ſchichte; die Alten werden bleiben, ſo lang
XVI
als die Natur, deren pollfommenfte Aus⸗
bildung bey ihnen iſt. 1 |
Der Vorredner müßte den Brrſaſſer
ſchlecht kennen, wenn er nicht weit voll⸗
kommnere Arbeiken, als dieſe erſte von
ihm erwarten und verſprechen zu kön⸗
nen glaubte. Hiezu iſt aber die Ermunte⸗
rung eines billigen Publicums dem auf:
ſtrebenden Talent jederzeit nöthig. Lu⸗
den verdient ſie; ſein Werk it Beweis
davon. |
Berlin, d. 4. April 1805. R
Johann von Müller.
Chriſttan Thomaſius
Leben und Schriften.
Kbomafins wurde am erften Tage des Jahrs
1635 zu Le pzig gebohren. Frau Maria, des
Herrn Jeremias Weber, Licentiats der Gottes—
gel hrtheit und Archidiaconi zu S.. Nicolai in
Leipzig, Tochter, brachte ihn ihrem Gatten, dem
Herrn Jacob TChomaſius, Prafeſſor der Bered:
ſamkeit. Er erhielt in der Taufe den Namen
Christian. 5
Die Zeit der Jugend, wo das Gemüth
Form und Character erhält, iſt eine wichtige
Periode; die Äußerungen der Kinder find nicht
minder verſchieden, als die des männlichen Al—
ters; ſie zu beobachten, und aus ihnen den
künftigen Lebensgang zu errathen, iſt kein klei—
ner Genuß: fie erzählen zu hören, die er:
ſten Bewegungen des jungen Geiſtes von dem
Mann ſelbſt, der ſie gewahrte, iſt ergötzend
und belehrend: aber für den Entfernten ver—
ſenkt ſich die erſte Lebensz it des Menſchen in
Vergeſſenheit und die Tage der Kindheit lau—
A 2
u . EN
fen auf gleiche Weiſe bey allen vorbey, Deß⸗
wegen wiſſen wir von dem Thomaſtius aus die⸗
ſer Periode nichts zu erzählen; aber es läßt
ſich erwarten, daß für ſeine Erziehung, obgleich
er feine Mutter im achten Jahre verlohr, von
ſeinem Vater Alles, was er leiſten konnte, ge⸗
ſchehen ſeyn wird; und was er leiſten konnte,
das wird der begreifen, der da weiß, daß er
Leibnitzens Lehrer war, und daß Leibnitz ihn
achtete.) Aber auch das, was Thomaſius
ſelbſt, “) und andre, von den Jahren feines
Lebens erzählen, wo ſich der Knabe an den
Jüngling ſchließt, enthält eben nichts Außer⸗
ordentliches. Seine Thätigkeit zeugt von ei⸗
nem regen Geiſte, wie er Menſchen zu bewoh:
nen pflegt, die, einen Schritt weiter zu gehen
als ihre Zeitgenoſſen, beſtimmt ſind, und ſein
weiterſtrebendes Leben verräth jugendliche
Kraft, die ſich an ihrem eignen Wachsthum
ergötzt. Er verließ die Schulen, wo er Fel—
*) Mehrere von Leibnitzens Briefen find an ihn
gerichtet; auch noch dann, als Leibnitz den
höchſten Punkt ſeiner Philoſophie erreicht N
te, ſprach er von ihm mit Achtung. |
„) In der Vorrede zu feinen institutiones ſu-
risprudentiae diyinae.
5
82
lers, Rappolts und Herrichs Unterricht nebſt
dem ſeines Vaters genoſſen hatte, und wurde
ein Mitbürgrr der Akademie zu Leipzig in ei—
nem Alter, in welchem man es unter uns ſel—
ten gewohnt iſt; aber er entſchloß ſich nicht
ſogleich, wie es meiſtens geſchieht, einen be—
ſtimmten Zweig des menſchlichen Wiſſens aus—
ſchließend zu ſtudieren; ſondern, obwol ſein
Vater wußte, daß ſich der ganze Horizont der
Wiſſenſchaften für Eines Menſchen Geiſt zu
weit dehnt, und daß ein jeder um des Allge⸗
meinen Willen ſich eine beſondre Gränze ſe—
tzen muß, ſo erlaubte er es doch dem Sohn,
ſich die Wahl vorzubehalten bis zu einer rei—
fern Einſicht, und ſich vorläufig blos mit der
Ergründung philoſophiſcher Wahrheiten zu be⸗
ſchäftigen. Wohl hatte dies Verfahren ſeinen
Grund mehr in dem Wahne, obgleich es von
der Philoſophie, die man damals kannte, kein
Wahn war, die Philoſophie ſey eine unterge—
ordnete Wiſſenſchaft, und gleichſam zum ewi—
gen Frohndienſt der andern Wiſſenſchaften be—
ſtimmt, die man damals die höheren, jetzo aber,
vornehm, die Brodwiſſenſchaften nennt, als in
der Ueberzeugung, daß nur der ſein beſondres
Fach durchaus ergründen könne, der das Al:
6
gemeine und Ganze wenigſtens in feinen Prin-
cipien kennt, und daß die Me ſchheit nur als⸗
dann zur Einheit mit ſich ſelbſt kommen kön⸗
ne, wenn ein jeder es erkennt, wie feine Doc—
trin mit den andern auf einem Stamme wur⸗
zelt, wie ſich feine Wiſſenſchaft an die des an⸗
dern anſchließt, und wie alle nur dadurch
Werth haben, daß ſie, um ein Ganzes zu
vollenden, ſich gegenſeitig aufklären und aus⸗
füllen; aber Nachahmung verdient dieſes Ver—
fahren, und es würde manchen davor ſchützen,
daß er nicht verlohrene Jahre vergeblich be—
jammert. Daher beſuchte Thomaſius die Bor:
leſungen Johann Ittig's über die Phyſik, Va⸗
lentin Alberti's über die Metaphoſik, Johann
Kuhns, Otto Menkens, Chriſt. Friedrich Frans
kenſteins und Adam Rechenbergs mathemati—
ſche, politiſche und hiſtoriſche; am meiſten
„aber wel die feines Vaters, der über des Hu:
go Grotius Buch vom Rechte des Kriegs und
Friedens, Vorträge zu halten pflegte. Auch
wurde er von dem letztern fleißig zum Diſputi—
ren angehalten; aber wenn ihm dieſes Veran—
laſſung zum Nachforſchen, und eine gewiſſe
Gewandheit des Geiftes gab, fo war die Ge:
ſchichte der Philoſophie, ſo gut ſie ſein Vater
7
auch lehren mochte, und fo vielen Werth Tho—
maſius ſelbſt darauf ſetzte, doch ſchwerlich heil—
ſam für ſein junges Gemüth, das noch keine
Gewißheit kannte, die auf feſtem Boden ruhte,
und mithin noch keinen Maßſtab hatte, die
größere oder geringere Wahrheit philoſophi—
ſcher Behauptungen zu berechnen. Des be—
rühmten Pufendorfs vielgeprieſenen, heftigbe—
ſtrittenen, aber immer Sachreichen Schriften,
beſonders das Werk über das Natur- und
Völkerrecht, zogen Thomaſtus Aufmerkſamkeit
auf ſich; er las ſie mit Begierde: aber die
freyern Unterſuchungen des Pufendorfs konn—
ten dem Jüngling nicht gefalleu, deſſen Geiſt
noch ſo ſehr vor dem Anſehen der Theologen
zitterte, daß er den der ewigen Verdammniß
würdig hielt, der daran zu zweifeln wagte,
was ſie für Grundlehren ausgaben. Er wuß—
te ihnen keine Gränze zu ſtecken, und welche
hätten ſie ſich ſelbſt geſteckt? Darum zweifelte
er lieber an ſeiner Einſicht, als an der Lehre,
welche die Gewohnheit geheiligt hatte.
Nachdem Thomaſius 1671 Baccalaureus,
und ein Jahr ſpäter, alſo in ſeinem 17. Jahr,
Magiſter der Philoſophie geworden war, ſo
erwählte er zu dem Hauptgegenſtande ſeines
8 |
Studirens mit der Erlaubniß feines Vaters
die Rechtsgelahrtheit. Zu diefer Wahl ver⸗
mochte ihn die Liebe zum Naturrecht, welche
Pufendorf und Grotius ihm eingeflößt hatten,
und die rühmliche Abſicht, auf dieſe Weiſe eine
Lücke der Philoſophie auszufüllen. Dieſe Abſicht
möchte etwas thöricht ſcheinen, weil Thomaſius
nicht etwa durch die Kenntniß des Naturrechts die
beſtehenden Geſetze und Verfaſſungen der Staaten
verbeſſern wollte, ſondern weil er überzeugt
war, das Naturrecht könne nicht von der Phi⸗
loſophie ohne die Jurisprudenz nach ſeiner
Würde ergründet und dargeſtellt werden. )
Aber ſeine Jugend würde ihn noch für einen
größern Irrthum entſchuldigen, und er ſpricht
ja auch nur von der Philoſophie, welche auf
der Akademie gelehrt wurde. Einem ſo thäti⸗
gen Geiſte, wie Thomaſius beſeelte, fehlte wol
der nöthige Fleiß für feine neue Wiſſenſchaft
nicht: aber weil es ihm an einem Führer ger
brach, und er, indem er bald die Vorträge
von dieſem, bald von jenem beſuchte, keine
Einheit, nach welcher er ſtrebte, in die mans
) Am angeführten Orte, woher diefe Erzählung
bis zu ſeinen Schriften genommen iſt.
9.
nigfaltigen Notizen und Sätze zu bringen
wußte, die er auf un Weiſe zuſammen trug,
fo begab er ſich im Jahr 1675 nach Frankfurt
an der Oder, ob er da finden möchte, was er
ſuchte. Er fand es nicht, ungeachtet Stryck
und Rhez feine Lehrer waren. Darum verſuch⸗
te er ſelbſt juriſtiſche Vorleſungen zu halten,
um, wie er ſagt, lehrend zu lernen, in der
That aber wol, weil er weiter zu ſehen glaub—
te, als ſeine Lehrer: und bey dieſen Vorleſun—
gen war er ſchon bemüht — was er auch vor—
her gewollt haben mag — das pofitive Recht
durch das der Natur zu verbeſſern. Er las
nemlich vor einigen Zuhörern über die Juſti—
nianiſchen Inſtitutionen, und andern erklärte
er Klenks quaestiones zu den Büchern des
Grotius, um zu ſehen, wie er ſagt, was Gro⸗
tius und Pufendorf ihm genützt hätten. Sein
Beſtreben ging zugleich dahin, den letztern zu
bekämpfen; aber wie ſehr er ſich gefreuet ha—
ben mochte, wenn man ihn heftig bekriegte,
und wie feſt er gehofft hatte, er würde end⸗
lich von feinen gottloſen Irrthümers ablaffen,
ſo fühlte er bey der Erſcheinung der Apologie
des Pufendorf ſo ſehr die Gewichtigkeit der
Gründe des letzrern und ſein eignes und der
Io
Andern Unvermögen, fie aufzuwiegen, daß ie;
gänzlich auf feine Seite trat. Dieſes Gefühl
aber erweckte in ihm die wohlthätige Einſicht,
daß er vorher nichts gewußt, und zwiſchen ei⸗
nem rohen Chaos von erlernten Kenntniſſen
nur am Kappzaum des Vorurtheils und der
Gewohnheit gewandelt habe: welches eines
Menſchen unwürdig ſey. Dies brachte ihn zu
dem männlichen Entſchluß — der von einem
kräftigen Mann gefaßt ſeyn will, und dann
gewaltig eingreift in des Menſchen Thun und
Leben, der aber auch, wenn er einem ſchwachen
Kopf, wie es leider oft geſchieht, aufgedrun⸗
gen wird, von ſeinen wohlmeynenden Lehrern,
Alles vernichtet, woran ſich das Leben des
Menſchen im Gewühl der Welt noch zuſammen—
halten mag: — zu dem Entſchluß, Alles ſelbſt
zu unterſuchen, keine Autorität der Menſchen
anzuerkennen, nur die Gründe abzuwägen, und
nach eigner Einſicht zu entſcheiden. |
1679 ͤ wurde er Doktor der Rechte, und
machte alsdann eine Reiſe nach Holland, wol
zunächſt in literäriſcher Hinſicht, vielleicht auch
deswegen, weil er mißtrauiſch gegen ſich ſelbſt
geworden war, und keinen andern etwas zu
lehren wagte, worin er ſich felbſt noch ſo
—
N | 11
ſchwach fühlte. Die Aufnahme, welche er in
Holland, z. B. bey dem bekannten Philologen
Grävius fand, hatte vielleicht Einfluß darauf,
daß er nach ſeiner Rückkehr in ſeine Vater—
ſtadt nicht nur das bürgerliche Recht und die
Pandekten lehrte, (wobey er Grotius und Pu—
fendorf ſtets unter ſich, und ſich mit andern
zu vereinigen ſuchte,) ſondern auch ſelbſt ges
richtliche Händel führte; denn das, meynte er,
ſey der Prüfſtein, an welchem die Kenntniß
manches Rechtsl hrers die Farbe verliereu wür—
de, wenn er ſeine Theorie auf einen vorgeleg—
ten Fall anwenden ſolle, und ohne dieſe An—
wendung ſey fie nur ein todter Körper, Tho—
maſius zeigte bey dieſer Gelegenheit großen
Scharfſinn, Gewandheit und nicht gemeine Ge—
lehrſamkeit. Auf die Literatur Deutſchlands
oder auf den innern Zuſtand der Wiſſenſchaf—
ten hatten dieſe Händel freilich keinen weitern
Einfluß, aber ſie zeigen uns in dem Character
des Mannes Redlichk:ir, Gradheit, und Offenheit,
die Vertrauen erwarben, weil ſie Vertrauen
verdienten, und eine Liebe für das Recht, die
keine Arbeit ſcheute, und die dem gemeinen
Advocatenſinn fremd iſt. ) Indeß verließ er
) Der erſte feiner, 1720 heransgegebenen, ju—
riſtiſchen Händel fällt in dieſe Periode.
12 | 1
bald die Gerichtshöfe: denn, obwohl ihm dieſe
Uebungen einen wünſchenswerthen Lohn —
Antheil an der Staatsverwaltung 4 Ander
Ferne zeigten, ſo mochte ſein Gemüth, welches |
bereit war, geduldig zu ertragen, was Gott
ihm auflegte, ſich doch nicht nach dem Vielſinn
des Volks richten, oder dem langweiligen Her⸗
gang der Gerichte folgen. Daher fing er fei«
ne Vorleſungen wieder an; eine große Menge
Zuhörer machte ihn kühner in ſeinem Vortra—
ge: aber dieſe Kühnheit im Vortrage neuer
und ungewohnter Lehren erſchreckte die jungen
Leute ſo ſehr, daß ſie ihn bald mit ſeinem
Grotius allein Lieffen. *) Der überraſchle
Mann ließ ſich durch dieſen Vorfall nicht irre
machen, und auch feine Zuhörer erhohlten ſich |
bald von dem Schrecken, den ihnen eine ſolche
unerwartete Neuerung eingejagt hatte. Sie
) Am angeführten Orte 8. 17. Alacriorem me
reddebat frequentia Vestra, quam tum quidem
1 non expectaveram, sed vix tamen bro primo
absoluto, cum praecedente die Corona vestra
circumdatus docueram , [ubito me solum relin-
quebatis cum Grotio. Ita videlicet terror Pani-
cus ingruentis pestis Vos expulerat a Telietis
nostris.
13
verſammelten ſich wieder um den Lehrer, und
dieſer konnte die Borlefungen, indem er vor:
ſichtiger zu Werke ging, beendigen. Dann un—
ternahm er ein neues Collegium über des Vu:
fendorfs Buch von der Pflicht des Menſchen
und Bürgers. Die Art, welche er bey dieſen
Vorträgen befolgte, hat er ſelbſt beſchrieben,
und fie verdient Lob. Pufendorfs Lehren hat—
ten großen Widerſpruch erregt: darum ſchickte
er eine Geſchichte der Streitigkeiten vorauf,
führte ſelbſt dir Sache der Partheyen, hob den
eigentlichen Nerv der Behauptung heraus,
zeigte die Quellen und den Urſprung der Sä⸗
tze und den Zuſammenhang derſelben unter ſich
ſelbſt: aber der Hauptpräfſtein für die Wahr:
heit einer Hypotheſe blieb ihm doch, wie es
ſcheint, der Einfluß auf das Leben, den man
ſich davon verſprechen konnte. Ob das die
freye Unterſuchung nicht gehindert habe? läßt
fi nicht ausmachen, weil es ſic vielleicht an⸗
ders verhält.
Im Jahr 1683 trat Thomaſius öffentlich
hervor mit Anmerkungen zu Strauchs Diſſer—
tationen über das römiſche Privatrecht; ) eine
) Annotationes theoretico practicae in Joh. Sırau-
chii dissertationes ad universum jus Justinea-
14 5
Schrift, die freylich nicht ohne Scharfſinn ver
faßt iſt; die ihm aber ſchwerlich, weil er nur
dem Grotius und Pufendorf folgte, und ſein Vater
ihn vielleicht abhielt, ſo frey zu reden, als er
fpäter pflegte, einen Platz in der Geſchich—
te der Literatur vindicirt haben würde, zumal |
da fie lateiniſch gefhricben war. Daſſelbe gilt
auch von der lateiniſchen Schrift, die er 1685
über das Verbrechen der Vielweiberey *) herz
ausgab, aber fie ift darum merkwürdiger, weil
ihr Berfnffer merkwürdig geworden iſt, und fie
gewiß Einfluß auf ſeinen Lebensgang hatte.
Sein Vater war nämlich unterdeß geſtorben:
neum privatum. Schon früher find einige Dis—
pufafionen von ihm theils in Frankfurt, theils
in Leipzig gehalten. Alle Disputatiouen und
Diſſertationen des Thomaſius ſind vom Jahre
1775 bis 1780 in 4 Quartbänden von Uhl
geſammelt und zu Halle gedruckt. Für den
Juriſten mögen fie einen großen Schatz ent⸗
halten: wir aber können uns nicht auf ſie
einlaſſen, denn ihre Zahl iſt 138, und fie
behandeln oft nur einen Gegenſtand des übli⸗
chen Rechts. Nur einzelne, durch ihren In⸗
halt, oder die Zeit ihrer Erſcheinung bedeu—
tende, können von uns angeführt werden.
) De crimine bigamiae.
15
wer hätte ihm da Vorſicht gepredigt? Er ging
freyer mit der Sprache heraus, und legte es
der Welt klarer vor Augen, was man ſich bis—
her aus dem Munde der Studenten über ſeine
Vorleſungen erzählt hatte. Freylich griff man
ihn dieſer Schrift wegen noch nicht an, aber
ſie brachte doch den erſten Satz des Unwillens
in manches Gemüth 5 und man verzieh es ihm
nicht, daß, ob er gleich zugab, die Polygamie
ſey durch willkährliche göttliche und menſchli⸗
che Rechte verboten und des wegen ein Frevel,
er es nicht eingeſtehen wollte, ſie ſey wider
das Naturrecht. — ee NR
Die erſte Schrift, welche Thomaſius in
der Sprache ſeines Vaterlandes ausgehen ließ,
war ein Programm, — »welcher Geſtalt man
denen Franzoſen im gemeinen Leben und Wan⸗
del nachahmen folle?« — worin er »der ſtu—
dierenden Jugend zu Leipzig ein Collegium
über des Gratians Grundreguln, vernünftig,
klug und artig zu leben, « eröffnete. Dieſe Ab-
handlung ſchlug er im Jahre 1688 an das
ſchwarze Brett, welches noch nie durch die
deutſche Sprache entweiht worden war: und
a damit war für Deutſchlands Literatur gewiß
ein wichtiger Schritt gethan, und für die Bil—
N
m. et
16
dung ſeiner Sprache das ſicherſte Mittel er:
griffen. Zwar hatte Luthers ſchaffender Geiſt a
die rauhe Maſſe deutſcher Wörter zu einer
Sprache gebildet, voll Kraft und Würde, und
eines ernſten Anſehens, jedoch nicht ohne Bier:
lichkeit und Anmuth; und mancher kräftige
Mann hatte ihm, wie in der Kühnheit des
Denkens, ſo in der Anwendung deutſcher Rede
nachgeeifert. Aber weder die Gediegenheit ſei⸗
ner übrigen Werke, noch die Lauterkeit ſeiner
lleberfegung der heiligen Schriften konnten be⸗
wirken, daß Deutſchlands Gelehrten auf ſeinen
Fußſtapfen fortgewandelt wären. Sein Kampf
mit der deuifhen Sprache war vielleicht nicht
minder wichtig, als der mit der römiſchen Hie—
rarchie; aber die Siegstropäe, die er in jenem
davon trug, glänzte nicht länger ungeſtört, als
die, welche ihn in dieſem verherrlichte. Wer
noch deutſch ſchrieb, der verunſtaltete die
Schönheit feiner Sprache durch Flittern, die
er den Franzoſen abborgte, um ſeine Rede
damit reichlich zu umhängen: jemehr man
franzöſiſche Wörter unter die deutſchen hob.
deſto zierlicher und geſchickter glaubte man zu
ſprechen, und es iſt zuweilen ſchwer zu erken—
nen, ob das Deutſche oder das Franzöſiſche
die
17
die Grundlage iſt. Dieſe Unart war es wohl
zunächſt, was im Anfange des ı7ten Jahr-
hunderts den Palmorden hervorbrachte; eine
Geſellſchaft, die ſich ſelbſt die fruchtbringende b
nannte, und deren edle Mitglieder ſich die
Reinheit der deutſchen Sprache zum Haupt—
zweck ſetzten. Sie wurde im Jahr 1617 nach
Italieniſcher Weiſe durch Caſpar von Teutle—
ben zu Weimar — wo Deutſchlands Genius
ſo oft die goldenen Flügel regte — geſtiftet,
und Herzog Ludwig von Anhalt zum Vorſteher
derſelben ernannt. Sie erhielt ſich bis zum
18ten Jahrhundert und ſtrafte ihren Namen
nicht, wie es oft geſchieht, Lügen. Während
der grauenvollen Verwüſtung, welche der Krieg
30 Jahre lang über Deutſchland ausſchüttete,
. entfloffen dem troſtreichen Munde des edlen
Opitz deutſche Geſänge; zeigte der ſinnvolle
Logau deutſchen Witz, und lehrte der gediege—
ne Flemming fromme Ergebung. Ihnen folg—
ten Andre, von denen ſich, wenn nichts an—
ders, doch das rühmen läßt, daß fie auf Rein-
heit der Sprache hielten. Aber, wenn auch
die Töne dieſer Dichter nicht umſonſt verhall—
ten, ſo hatten ſie auf die Sprache wenigſtens
nicht ſo vielen Einfluß, daß ſich die alte Weiſe
RR
18 |
nicht neben ihrer Reinheit erhalten, und wo
möglich verſchlimmert hätte. Ueberdem herrſch—⸗
te der Wahn, daß ein Gelehrter nur Latein
ſchreiben und reden dürfe: denn die lateiniſche
Sprache ſey die Sprache der Gelehrten; und
wenn ſich jemand herabließ, in ſeiner Mutter⸗
ſprache etwas zu fagen, fo war es gewöhnlich
nur, um ſich in Streitigkeiten — welche mei⸗
ſtens die Religion betrafen — eine Parthey zu
machen. Auf den hohen Schulen wurde der
Jüngling gewöhnt, Latein zu denken, und hat⸗
te dann für das Gedachte nur ein lateiniſches
Wort: denn ſein Lehrer unterrichtete ihn nur
in lateiniſcher Sprache, und lehrte ihn die |
deutſche vergeſſen. So riſſen ſich die Gelehr—
ten von den Ungelehrten los, und bildeten ei⸗
nen eignen Staat im großen Staate des
menſchlichen Geſchlechts. Sie ſollten dieſes er—
ziehen, und waffen ſelbſt eine Kluft zwiſchen
ſich und das Geſchlecht, welche das Eingreifen
ihres Geiſtes ins Leben der Menſchen unmög⸗
lich machte. Es iſt freilich ein Gedanke, der
Vielen erfreulich dünkt, daß man in der latei⸗
niſchen Sprache ſich den Gelehrten aller Völ⸗
ker unmittelbar mittheilen könne: aber der
Menſch ſoll der Welt und nicht den Gelehr ten
19
leben; der Gelehrte ift ein Menſch; und wer
feinem Volke lebt, der hat der Welt gelebt.
Wol iſt es ſchön, daß eine Sprache allen hal—
ben verſtanden, weil fie nirgend geſprochen
wird, und wer eine neue Wahrheit entdeckt zu
haben meynt, der thut wohl, wenn er ſie in
dieſer Sprache verkündigt: aber nicht, um ſie
da zu vergraben, oder ſie dadurch allein den
Gelehrten zu ſichern, ſondern um ſie durch die
letztern deſto ſchneller zu verbreiten, und deſto
früher allgemeiner zu machen. Wenn die
Streitigkeiten der Gelehrten, beſonders der
Er 5
Theologen, immer in einer fremden Sprache
geführt wären, meynt man, ſo wäre vieles Un—
heil, was ſie über die Völker gebracht haben,
vermieden worden: allein kein Streit ſollte ge⸗
führt werden, um des Streits willen; wird er
aber geführt um Wahrheit und Recht: warum
ſollte man ihn zu einem Privatkampf der Ge—
lehrten machen? Iſt es etwa die Wahrheit
nicht werth, daß die Menſchheit wider ſich
ſelbſt für ſie in die Schranken tritt? Freilich
ſcheinen die Beweiſe des Schwerts nicht gründ—
lich, und die Mehrheit ſcheint den Irrthum
vertheidigen zu können: aber der Mexfch
kämpft nicht allein für die Sache der Wahr—
B 2
20
heit, und ein gewaltiger Arm hat die Welt
noch nicht beſiegt. Die Gewichtigkeit des
Rechts iſt ſehr groß, und, ob die Wage zu
ſchwanken ſcheint, ſie ſenkt ſich nach ihrer
Seite! | |
Gewiß war es alfo ein lobenswerther
Schritt des Thomaſtus, daß er die Feſſeln des
alten Vorurtheils zerbrach, und die Gewohn⸗
heit nicht als ſeine Göttin verehrte. Er kün⸗
digte ſein Collegium, deſſen Gegenſtand eben
ſo unerhört war, als die Form, in welcher er
es ankündigte, nicht blos deutſch an, ſondern
verſprach auch, es deutſch zu leſen. Er hielt
Wort; und damit war die deutſche Sprache
auf den Lehrſtuhl verſetzt, der ihr längſt gehört
hätte. Denn ob man gleich allgemein theils
darüber erfiaunfe, theils dadurch aufgebracht
wurde: ſo behielt das Gefühl, ſo ſey es recht,
doch die Oberhand, und nöthigte nach und
nach Deutſchlands akademiſche Lehrer, die la—
teiniſche Sprache mit der deutſchen zu vertau—
ſchen; oder, wenn nicht dieſes Gefühl es that,
ſo wurden ſie auf eine andere Weiſe gezwun⸗
gen, dem Zeitgeiſt nachzugeben. Und ſo wur—
den alle die Nachtheile für die Zukunft aufge—
hoben, welche der lateiniſche Unterricht hervor—
21
bringen mußte. Schon dafür allein verdiente
Thomaſius, weil er den erſten Stoß gab, in
8 dem Andenken ſeiner Landsleute fortzuleben!
Ob nicht neue Nachtheile daraus entſprungen
ſeyn mögen? wer will das leugnen? Aber der
Gewinn bleibt immer groß, weil jene bey mei:
ten minder bedeutend find; und wären fie
größer: wer möchte den Thomaſius dafür ver⸗
antwortlich machen?
Wie groß die Achtung für die esse
Sprache aber auch ſeyn mochte, ſo war die
Unzufriedenheit über die Nachahmung der
Franzoſen doch gewiß bey vielen noch größer.
Thomaſius beginnt ſeine Abhandlung mit den
Urtheilen dieſer Unzufriedenen, daß in Deutſch⸗
land Alles, ſagar die Sünden und Krankheiten
franzöſiſch ſeyen, und daß ein alter Deutſcher,
wenn er von den Todten wiederkehrte, ſich
nicht würde überreden laſſen, er ſey in ſeinem
Vaterland. Er weiſet ſie nicht ohne Scherz
zurück; meynt, ein weiſer Mann müſſe das,
was nicht zu ändern iſt, tragen und zum Be—
ſten kehren. Darum räth er, den Franzoſen
nachzuahmen, »denn fie find doch die geſchickte⸗
ſten Leute, und wiſſen allen Sachen ein recht
Leben zu geben.« Aber, wer dem Alexander
22
nachahmen wolle, der brauche den Kopf nicht
eben ſchief zu tragen, ſondern jeder müſſe das
Hauptwerk ergründen, durch welches ſich der⸗
jenige, ſo nachgeahmt wird, ſeine Hochachtung
erworben. Dann unterſucht er, was die Fran⸗ a
zoſen ſelbſt unter ſich in hohem Werth halten;
darauf: ob die Franzoſea denn auch wirklich
hierin einen Vorzug haben? und macht nun
eine Vergleichung zwiſchen den franzöſiſchen
und deutſchen Gelehrten, die wahrlich nicht
zum Vortheil von dieſen ausfällt. Aber, was
er den Franzoſen am meiſten zum Verdienſt
anrechnet, iſt, »daß fie ans einem überaus klu⸗
gem Abſehen nicht allein ihre Werke mehren⸗
theils in franzöſiſcher Sprache heraus geben;
ſondern auch den Kern von denen Lateiniſchen,
Griechiſchen „ ja auch nach Gelegenheit teut⸗
ſchen Autoren in ihre Mutterſprache uberſetz⸗
ten; denn dadurch wird die Gelehrſalnkeit un⸗
vermerkt mit großem Vortheil fortgepflanzet,
wenn ein jeder dasjenige, was zu einer klugen
Wiſſenſchaft erfordert wird, in ſeiner Landes—
ſprache leſen kann, und es ſich nicht erſt, um
fremde Sprachen zu erlernen, ſauer werden
loſſen muß.“ Dagegen heißt es von den
Deutſchen, daß ſie ihre Sprache nicht ſo hoch
23
halten. „Denn an Statt, daß wir uns be⸗
fleißigen follten, die guten Wiſſenſchaften in
teutſcher Sprache geſchickt zu ſchreiben, fo fal-
len wir entweder auf die eine Seite aus, und
bemühen uns die Lateiniſchen oder Griechiſchen
Terminos technicos mit dunkeln und lächerli⸗
chen Worten zu verhuntzen, ) oder aber wir
kommen in die andre Ecke, und bilden uns
ein, unſre Sprache ſey nur zu denen Handlun—
gen im gemeinen Leben nützlich, oder ſchicke
ſich, wenn es aufs Höchſte kömmt, zu nichts
mehr, als Hiſtörchen und neue Zeitungen dar—
innen zu ſchreiben, nicht aber die philoſophi—
ſchen oder deren höhern Facultäten Lehren
und Grundreguln in ſelbiger vorzujtellen.«
So weit verräth ſich ein edler Eifer für
unſre Sprache; minder gut aber möchte es
ſcheinen „ was Thomaſius gegen das Lernen
der lateinifchen über die Einführung der
franzöſiſchen und überhanpt von dem Uns
terricht ſagt. Aber Folgendes muß man nicht
vergeſſen. Gegen das Lateinlernen ſpricht
) Einige Mitglieder des Palmordens haßten und
flohen jeden fremden Ausdruck nicht minder,
als einige Puriſten ufer Zeit, und machten
ſich dadurch eben ſo lächerlich | B
24 |
Thomaſius nicht in Rückſicht des Gelehrten,
ſondern in Rückſicht des gemeinen Lebens und
Wandels. »Man laſſe diejenigen, ſagt er aus⸗
drücklich, ſo Luſt dazu haben und die vom
Studiren die Zeit ihres Lebens Profeſſion ma⸗
‚hen wollen, Latein und Griechiſch genug ler⸗
nen, denen aber, ſo man im gemeinen Leben
gebrauchen will, und denen das Studiren we⸗
gen des Lateiniſchen ſauer und verdrießlich
wird, helfe man ohne Verdrießlichkeit, mit dem
was fie gelernt haben, fort.« Er ſtreitet ge-
gen das Lateinlernen, »nicht zwar, als ob die
lateiniſche Sprache die Gelehrſamkeit hindern
ſollte, (denn wer wollte ſo unvernünftig rai⸗
ſonniren?) ſondern weil durch die durchge—
hends gewöhnliche Lehrart viel unge⸗
gründet und unnöthig Zeug nebſt den Latein
in die Gemüther der Lehrlinge eingeprägt wird,
welches hernachmals ſo feſte Elebet. und merk⸗
liche Verhinderungen bringet, daß das tüchtige
und geſcheide nicht haften will. Daß Tho—
maſius aber mißverſtanden wurde, und daß
ſich von ſeiner Zeit an die zunehmende Abnei«
gung gegen die alten Sprachen herſchreibt, da⸗
für iſt er wol etwas verantwortlich, weil er
doch behauptete, auch ohne die Sprachen kön⸗
25
ne man gelehrt ſeyn, »Sprachen ſeyen wol
Zierrathen eines Gelehrten, aber an ſich ſelbſt
machten ſie niemand gelehrt; « und weil er in
der That nicht zu fühlen cheint, daß grade
durch die Sprache und durch die Darſtel⸗
lungsweiſe des Schönen und Wahren, das
Alterthum klaſſiſch iſt. Freylich war das Ka:
tein dieſer Zeit nicht die Sprache des alten
Roms; aber eben deswegen hätte er durch ſei⸗
nen Ausdruck fie nicht mit dieſer in eine Klaſ⸗
ſe ſetzen ſollen. Deutſche Wörter mit lateini⸗
ſchen Endungen nannte man auch Latein —
Daß er aber die franzöſiſche Sprache neben
der deutſchen beybehalten wollte: dafür ver⸗
dient er Entſchuldigung, weil jene ſich auf
Deutſchlands Boden ſo feſt eingewurzeſt zu
haben ſchien, daß wol ſein kühner Geiſt daran
verzweifeln mochte, fie je auszurotten. Darum
ſuchte er, ſeinem angeführten Grundſatz getreu,
aus der Lage der Dinge ſo vielen Nutzen als
möglich zu ziehen, und will durch die »natura—
liſirte« franzöſiſche Sprache neben der deut⸗
ſchen die lateiniſche entbehrlich machen. —
Ueberhaupt aber ſcheint ſeine Abſicht bey der
Erziehung ſchon gar zu ökonomiſch, wie bey den
Neuern, zu ſeyn; er dringt immer auf den
26
Nutzen, d. h. auf den Vortheil für Einen be:
ſtimmten Zweig des menſchlichen Lebens, und
will ſchon Alles den jungen Leuten »gleichſam
ſpielende und als durch einen angenehmen Zeit⸗
| vertreib« beybringen: eine Methode, die ſich
jetzt unter ans ſo beliebt gemacht hat, n der
Epigrammatiſt ſpotten konnte:
5 Ueber die Bübchen annoch macht ſch zu
Buben das Volk.
Bey allem Guten aber, was Thomaſtus
von den Franzoſen ſagt, unterläßt er nicht ih⸗
re Anmaßungen, beſonders über die Deutſchen,
lächerlich zu machen, und feine Landsleute das
durch gegen ſie zu reitzen, und meynt endlich
»wenn man dennoch ja denen Frauzoſen nach⸗
ahmen will, ſo ſolle man ihnen hierin nachah⸗
men, daß man ſich auf honnete Gelehrſamkeit,
beauté d’esprit, un bon gout und galanterie
befleißige: « daraus würde »ein vollkommner
weiſer Mann entſtehen.« Als Mittel dazu
bietet er ſeine Vorleſungen an. Der ganze
Aufſatz iſt nicht ohne Laune geſchrieben, und
der Satyt, der ſich in vielen der Thomaſiſchen
Schriften fo verhaßt machte, tritt fchon in die
ſet auf, freylich hier wie immer im Coſtume
ſeiner Zeit.
27
ud Unmittelbaren Einfluß auf die Schickſale
des . hatte dieſes Werkchen nicht;
bgleich es aus den angeführten Urſachen Auf⸗
Nye no machte, und ſehr verſchiedene Ur⸗
theile veranlaſſen mochte. Die Vorwürfe, wel:
che man ihm darüber und über das Collegium
ſelbſt machte, beantwortete er theils indirect in
den monatlichen Gedanken, theils direct 13
Jahre ſpäter; aber dieſe Beantwortung war
wol nicht geeignet, ihm Freunde zu erwerben.
Er habe den Franzoſen einen großen Vorzug
vor den Deutſchen gegeben, ſagte er, weil er,
als einer, der nicht gereiſ't wäre, nicht gewußt
hätte, »ob in Frankreich unter den Vorneh—
men und Gelehrten ſo viel Pedanten, dumme
Teufel und ungeſchickte Kerl gefunden würden,
als in Deutſchland.« Aber er ließ ſich durch
das Lob, was ihm einige hellere Köpfe ertheil—
ten, reizen, ſich durch mehrere Schriften dieſer
Art bekannt zu machen, um ſich, wie er ſagt,
aus der Dunkelheit hervorzuthun, in welcher
er damals noch verborgen lag. Dieſen Ehr—
geiz tadelte er ſpäterhin, aber jetzt war er doch
die Veranlaſſung zur Herausgabe der monat:
lichen Gedanken, die er mit dem Jahre 1688
zu ſchreiben begann.
28
Aber noch vorher, 1687, bewies er, daß er
die lateiniſche Sprache eben nicht abgeſchafft
wiſſen wollte. Es erſchien nemlich f
leitung zur göttlichen Rechtsgelahrthe
dieſer Sprache, *). vielleicht aus dem br
ten Grunde, vielleicht aber auch, weil er die
ſen Gegenſtand lateiniſch zu denken gewohnt
war und weil ihm fein Führer lateiniſch
den Weg zeigte. Dieſer Führer war Pufen:
dorf, über den er, wie wir oben erzählt haben,
Vorleſungen hielt. Er hatte zu den Vorträ—
gen kein Heft geſchrieben, fondern ſie nach ei:
ner vorhergegangenen Meditation frey gehal⸗
ten; nemlich er wollte es ſich bequem machen
und die fleißigen Nachſchriften der Studenten
benutzen, aber er fand — was wol mancher
Profeſſor finden würde — daß ſie ihn nicht
nur mangelhaft, ſondern oft ganz und gar
ei, Institutionum jurisprudentiae divinae libri tres.
Das Buch kam 1709 auch dulſt heraus; aber
ich habe die Ueberſetzung nicht geſehen. Die
lateiniſche Ausgabe von 1730 iſt in 4. Über
ſein Latein hat man dem Thomaſius Vorwürfe
gemacht, und ihn wol gar beſchuldigt, er ſchrei—
be deutſch, weil er das Latein nicht ſonderlich
verſtehe: nicht ganz mit Unrecht.
=
nicht gefaßt und zuweilen völligen Unſinn Bin:
geſchrieben hatten. Dies veranlaßte ihn zu⸗
nächſt, das genannte Werk auszuarbeiten, um
für die Zukunft ähnliche Mißverſtänduiſſe zu
verhüten. Das Buch enthält 460 Seiten, und
war für die damalige Zeit gewiß wichtig: aber
für uns hat es ſeinen Werth verlohren, und
ſelbſt in einer Lebensbeſchreibung des Thoma-
ſius verdient es nicht ſo vielen Raum einzu⸗
nehmen, als die vorige kleine Abhandlung,
weil er in dieſem Werke nur unter Pufendorfs
Fahne focht. Was etwa Gutes und Neues
darin enthalten iſt, davon fällt die Ehre auf
Pufendorf und deſſen Vorgängern, und Tho⸗
mafius hat nur das Verdienſt, ihn erläutert
und verbreitet, ohne die Wiſſenſchaft dadurch
weiter gebracht zu haben: ein Verdienſt, das
nach unſrer Meynung die Geſchichte verſchwei⸗
gen darf. Was dem Thomaſius eigen zu ſeyn
ſcheint, das iſt, was das Weſen der Wiſſen⸗
ſchaft betrifft, höchſtens eine Folgerung aus
einer, oder ein Grund mehr für eine Pu—
fendorfſche Behauptung; oft liegt es wol
mehr in den Worten), als in der Ga:
che, oft auch in der Anordnung der Mate:
—
0
3o
rien. ) Was dieſe Ordnung aber felbjt an: -
langt, fo ſcheint Thomaſius darin richtig geur⸗
theilt zu haben, daß es auf die analytiſche
oder ſynthetiſche Methode nicht, fondern dar:
auf ankomme, daß man vom Leichtern zum
Schwerern fortgehe. Das heißt aber nicht et⸗
wa, daß er einen an und für ſich evidenten Satz
aufſtellte und daraus mit logiſcher Stren—
ge weiter folgerte: ſondern er wendet jene
Weiſe an, die ſich ſo beliebt gemacht hat, und
die durch Eintheilungen uud Abtheilungen
gewiſſer Erſcheinungen im menſchlichen Ge⸗
müth dahin führt, wohin man will. Er geht
von der Erklärung des Namens der Jurispru—
denz aus, ſetzt dabey die Fertigkeiten des Men⸗
ſchen auseinander und bringt es auf dieſe Wei—
ſe durch Unterſcheidungen und Abtheilungen in
17 Schröckb führt in der Lebensbeſchreibung Pes
Thomaſius (allgemeine Biographie Th. 5. .
284.) einige Sätze deſſelben an, die er aus den
Theſen abſchrieb, über welche Thomaſtut dis
putiren ließ, und die er dem Werke anhäng-
te — Schröckh, ſage ich, ſchrieb einige die⸗
ſer Sätze ab, und ſagt von ihnen, ſie ſeyen
dem Thomaſius eigenthümlich. | 1055
31
99 Ss. zu dem Axiom, was Pufendorf und an:
dre als Grundſatz des Naturrechts aufgeſtellt
hatten. Dieſes Axiom iſt: nur in der Geſell—
ſchaft giebt es ein Recht. Es Fönnte aller:
dings ſcheinen, als ob Thomaſius in dieſen
Worten den richtigen Begriff des Naturrechts,
daß es ſey das nothwendige Verhältniß freyer
Weſen zu einander, zum Grunde gelegt hätte:
aber eine Note, worin er ſagt: »Adam hatte
alſo vor der Eva kein Recht,« würde ſchon al:
lein beweiſen, daß Thomaſius die Moral mit
der Rechtslehre vermengte, wenn es auch nicht
aus dem Folgenden erhellte. Übrigens ver:
ſteht es ſich wol von ſelbſt, daß in einem Wer—
ke dieſer Art vom Thomaſius eine Menge
Wahrheiten enthalten find, die ewig Wahrs
heiten bleiben werden, aber von einem Syſtem,
zu welchem ſie als Theile und als nothwendige
organiſche Glieder gehörten, kann nicht die
Rede ſeyn. Thomaſius wußte es recht gut, daß
zwiſchen Naturrecht und Moral ein Unterſchied
ſey, aber er „ nicht, und wo er
mit jenem nicht auskonnte, da nahm er zu
dieſer ſeine Zuflucht, und ſogar kommt er zu—
weilen mit der Offenbahrung dazwiſchen: auch
hat er ſelbſt ſeine Ueberzeugung fpäterhin ver—
—
32
ändert, wie wir zu feiner Zeit bemerken wer:
den. Aber 4 Jahre nachher las er noch über
dieſes Buch in Halle, und wahrſcheinlich
deutſch; wenigſtens kündigt er das „ e
an in einem deutſchen Programm.
Was dieſes Buch für die Schickſale des
Thomaſius wichtig machte, das war feine po:
lemiſche Seite. Valentin Alberti hatte Pufen⸗
dorfs Grundſatz des Naturrechts heftig beſtrit⸗
ten und an deſſen Stelle den Stand der Un—
ſchuld oder das Ebenbild Gottes, welches man
wiedererlangen müffe, gefegt. *) Thomaſius
kam natürlich auf dieſen Punkt und widmete
ihm eine eigne Digreſſion, in welcher er den
Alberti, ohne ihn zu nennen, widerlegte und
beſonders ſeine Idee einer chriſtlichen Philoſophie
gänzlich verwarf; und hier iſt es, wo er der Na⸗
tur der Sache nach etwas Neues, von Pufen—
dorf nicht berührtes, vorbringen mußte. Nun
war, wie wir erzählt haben, Alberti einer der
Lehrer des Thomaſius, und es gehört bekannt—
lich zu den Sonderbarkeiten menſchlicher
Schwäche, daß man es dem Schüler verargt,
wenn
„) In feinem Compendio juris naturae ortho-
doxae theologiae conformato.
33
wenn er es wagt, andrer Meynung als der
Lehrer. zu ſeyn: das nennt man Undankbarkeit.
Thomaſius aber war überzeugt, daß die Wif-
ſenſchaften ſchlecht gedeihen würden, wenn der
Schüler ſtehen bliebe, wo der Lehrer ſteht;
daß nicht jener wider dieſen, ſondern daß Mey⸗ |
nungen mit Meynungen für die Wahrheit
kämpften, dir nur dadurch erforſcht werden
könne; daß im Reiche der Geiſter nicht das
Alter gelte; und daß bey der Einrichtung un—
ſerer Univerſitäten das Verhältniß des Lehrers
zum Schüler ſelten von der Art ſey, daß jener
ſich zur Dankbarkeit gegen dieſen gedrungen
fühlen könnte.) Dennoch nannte er, um die
Schwachheit zu ſchonen, ſeinen Gegner nicht,
und dieſe Schonung ſollte jeder Schüler gegen
den Lehrer beobachten. Aber Alberti konnte
auch ſo dem jungen Mann nicht verzeihen;
und er fand bald Gelegenheit, eine unedle Ra—
che zu üben. — Ueberdem warf Thomafius
in dieſem Werke manchen Blick auf ſein Zeit—
alter und auf den Zuſtand der Gelehrſamkeit
*) Er ſpricht weitläuftig darüber im Juliusſtü—
de der Monatsgeſpräche, und an vielen an:
dern Orten.
n
34
und die Leipziger Gelehrten fühlten ſich durch
ſeine Ausdrücke — nachdem Alberti ſie ihnen
erklärt hatte — ſo getroffen, daß ſie nachher
auf einige Sätze dieſes Werks ihre Anklage
wider ihn gründeten. Vielleicht würde doch
ihre Rachgier in ſich ſelbſt ausgebrandt ſeyn,
hätte nicht der Gegner durch einen neuen
Schritt den Ausbruch der Flamme befördert.
Seit dem Jahre 1665 war durch die Fran⸗
zoſen — denn des Photius Myriobiblon läßt
ſich hier wol nicht herrechnen — ein neuer Weg
literariſcher Mittheilung — oder, wenn man
beſonders auf die neuen Zeiten ſehen wollte,
fo könnte man fagen, eine neue Quelle ſchrift⸗
ſtelleriſchen Erwerbs — entdeckt worden in der
Bekanntmachung wöchentlicher oder monatli⸗
cher Schriften. Das Journal des Savans hatte
die Ehre das erſte, aber nicht das Gläck lange
das einzige Werk dieſer Art zu ſeyn. Die
Franzoſen ſelbſt ahmten ſich nach, und die
Engländer und Italiener ließen ſich bald in
die Bahn rufen. Otto Menke, Profeſſor in
Leipzig, fing, nach einer in England und Bel:
gien gemachten Reiſe, ein ähnliches Journal
in Deutſchland an, aber in lateiniſcher Spra⸗
35
che (acta Eruditorum), in welchem eine Ges
ſellſchaft Leipziger Gelehrten Auszüge aus
neuen Büchern zu geben, auch wohl ein Ur—
theil darüber zu ſprechen ſich erlaubte. )
Thomaſius hatte im Jahre 1685 »die Ehre ge—
habt, als ein Mitglied dieſer berühmten So—
cietät angenommen zu werden.“ Aber er blieb
es nicht lange. Mit ſeiner Disputation über
die Bigamie hatte er manchen verdrießlich ge—
macht, aber er »ſtieß dem Faß gar den Bo—
den aus, als er das erſchreckliche, und ſo lan⸗
ge die Univerſttät geſtanden hatte, noch
nie erhörte Crimen begienge, ein deutſch
Programm an das ſchwarze Brett zu
ſchlagen, und über die Anleitung zur göttli—
chen Rechtsgelahrtheit zu leſen anfing Dies,
die Sorge für ſeine Familie, und der Beyfall,
den ſein deutſches Programm erhalten hatte,
) Die acta Eruditorum behielten auch in fremder
Sprache in Deutſchland nicht lange den Platz
allein. 1686 kam zu Hamburg heraus Epheme-
rides savantes; 1698 zu Lübek Nova litteraria;
; 1703 36 Hamburg nova litteraria; 1700 zu Sal»
le observationes selectae ad rem litt. spectan-
tes etc.
u
C 2
56 | |
brachten ihn auf den Gedanken, eine Monats⸗
ſchtift in deutſcher Sprache *) herauszugeben, da
er überdem vieles über den Zuſtand der Wiſ⸗
ſenſchaften und der wiſſenſchaftlichen Inſtitute
zu erinnern hatte, und manches zu vetbeſſern
180
wünſchte.
Wenn man dieſen Schritt des Thomaſtus,
wodurch er das Journalweſen auf Deutſch⸗
) Die Sprache des Journals iſt treuherzig und
kräftig, zwar nicht rein, d. h. nicht ohne
Einmiſchung ausländiſcher Wörter, auch nicht
grammatikaliſch richtig, aber doch deutlich, und
ſelbſt das hat einen gewiſſen Reiz, daß ſie
etwas unbeholfen iſt; ſie gleicht dem Kinde,
das ſeinen erſten Gang verſucht, und es iſt
nicht unintereſſant, den Wachsthum zu beobach⸗
ten, und die Feſtigkeit, die ſie erlangt. Schief
und unbeſtimmt, wie Eichhorn in ſeiner Sitte:
rärgeſchichte fie nennt, hab' ich fie nicht ge⸗
funden. Daß z. B. zwey Negationen ſtatt einer
gebraucht werden, (wie keiner nicht für keiner)
und andre Kleinigkeiten dieſer Art muß man
überſehen; aber ſo etwas kommt auch noch
55 in unſern ſchönſchreibenden Zeiten vor;
manche Wendung durch Partikeln verdient
nicht die Verachtung, in welche der Cuxialſtyl
ſie gebracht hat.
| 37
lands Boden verpflanzte, nach den Früchten
beurtheilen wollte, die der Baum getragen hat,
ſo würde man zweifeln müſſen, ob er Lob oder
Tadel verdiente. Das unverkennbare Sinken
unſerer Literatur, das Verſchwinden des deut—
ſchen Fleißes und deutſcher Würde, die Halb—
heit und Räſonnirſucht jüngerer Gelehrten
(wie ſie ſich nennen), die Schwäche des Gei⸗
ſtes, der deſto entnervter und unheilbarer ift,
jemehr der Dunſt erlernter Kraftwörter ihm
ſein eignes Weſen verhüllt, der gränzenloſe
Ungeſchmack, der ſich für gewichtig hält, weil 1
er ſich mit Entzückung an unverſtandenen Aus: |
drücken ergötzt — an Allem dieſen haben die
Journale und ihre Verfaſſer unleugbar einen
unſeligen Antheil. Der Anſtrich von allgemei⸗
nerer Bildung, den ſie verbreitet haben, was
ift er? — nichts weiter, als eben ein Anſtrich, |
auf den man ſich defto mehr zu Gute thut, je
höher er auf der Oberfläche klebt. Der Becher
der Gelehrſamkeit und der Wiſſenſchaft iſt durch
ſie umgeſtürzt, ſein Gehalt zu Schaum gepeitſcht
und in einem Staubregen weit umher verſtreuet.
Eine unglückliche, ſogenannte Aufklärung „ we⸗
gen welcher man unfer Zeitalter hoch⸗
38
geprieſen hat, iſt durch ſie in Köpfe gekommen,
die ihre Leerheit nur im Dunkel hätten verber⸗
gen mögen, und ſie hat in das Zeitalter nur
ſo viel Licht gebracht, um, wie Milton ſagt,
die Finſterniß ſichtbar zu machen. Aber leug⸗
nen wird es auch keiner, daß einige Journale,
deren Verfaſſer ihren Zweck und ihren wahren
Werth kannten (was ſelten der Fall iſt), und
die Deutſchlands Bildung gegründet und ge⸗
tragen haben, dazu beytrugen, die Literatur
der Deutſchen zu der Höhe zu erheben, daß ſie
ſinken kann, und noch dazu beytragen, daß ſie
nicht ganz untergehen wird. Wollte man den
Thomaſius tadeln, fo müßte dieſes dafür ſeyn
— was in keines Menſchen Macht liegt —
daß er die ganze Reihe ſeiner Nachfolger nicht
überſehen konnte. Die Folgen unſers Thuns
aber hängen nicht von uns ab, und der Menſch
iſt höchſtens für ſich verantwortlich!
Was den Thomaſius aber auch zur Her—
ausgabe des Jonrnals bewogen haben mag,
ſo hatte an der Form und der Schreibart def⸗
ſelben doch gewiß die Luſt des gereizten Manns
Antheil, ſeine Gegner zu züchtigen. Die Er—
bitterung zwiſchen ihnen war ſehr hoch geſtie—
gen, und obgleich ſie ſich nicht öffentlich ange—
1 g . 36
griffen hatten, ſo konnte es ihnen, da ſie in
Einer Stadt lebten, doch nicht verborgen blei—
1 ben, wie ſie gegen einander geſinnt waren.
Alberti ſchickte Späher und Horcher in Thomas
ſius Collegia, und ließ ſeine Vorträge nach—
ſchreiben. Dieſer nahm ſich in Acht, aber der
lebhafte Geiſt des Mannes, der ſich feiner gu:
ten Sache bewußt war, ließ ſich nicht immer
durch den Willen bändigen. Und da Thomas
ſius erfuhr, Alberti habe ſich erklärt, er
wolle ſein Haupt nicht ruhig niederlegen, bis
dem Thomaſius das Handwerk des Collegien⸗
leſens gelegt ſey; da er, ſeit fremde Autorität
ihm nicht mehr galt, gefunden hatte, daß man
ſie auf ohnmächtiges Feſthalten am Alten und
Herkömmlichen gründete, und mit dem gefürch—
teten Schilde des ächten Lutherthums verthei⸗
digte, dabey kleinlicher Handlungen fähig war,
die »kein ehrlicher Heide vollbracht haben wür⸗
de,« fo mochte ihn dies wol beſtimmen, ihnen
die Maske ſo weit wegzuziehen, daß die Welt
ihr wahres Geſicht erkennen könnte. Er gab
dem erſten Monate ſeines Journals den Titel:
»ſcherz⸗ und ernſthafter, vernünftiger und einfäl:
tiger Gedanken über allerhand luſtige und nütz—
liche Bücher und Fragen, erſter Monat oder
40
*
n in einem Geſpräche vorgeſtellt von
der Geſellſchaft derer Müßigen, « und widmete
es den Herren Barbon und Tartuffe, die aus
Molieres Luſtſpielen als ein pedantiſcher pä⸗
dagog und ein ſcheinheiliger Heuchler bekannt
genug waren. 1 Er räth ihnen darin, ſich
mit Leſung der nichtswürdigen Gedanken doch
ja nicht die Zeit zu verderben, und giebt ihnen
überhaupt zu verſtehen, was ſie zu erwarten
haben. Denn »obgleich die Heucheley eben
keine Freundin des Lichts ſey, fo wollte er des
ſto weniger der Heucheley heucheln; und
»weil die Welt gern bilderte,« fo ließ er, aber
erſt bey den folgenden Monaten, Kupfer ftes
chen, die einer mehrfachen Auslegung fähig
waren. a 1 |
Die Form, in welcher Thomaſius ſeine
Er nennt fie Tarbon und Bartuffe; ron.
wie Hercules und Valisca ſich 25 Liebe ver⸗
| einigt, daß jener ſich Valicules und dieſe Her-
culisca genannt, ſo habe er, um den Sbenehl
men Leuten nichts von ihrem Range zu ver⸗
geben, das Bar zu dem tuffe, nnd das Tar zu
dem bon geſetzt; daher ſtehe Barbon mit dem
Hintertheile oben, mit dem Vordertheile aber
unten, und vice versa Tartuffe.
| 48
Gedanken mittheilt, iſt ein Geſpräch, in mel:
ches er 4 Perſonen auf einer Reiſe verwickelt
N und das nur darin fehlt, daß, auf griechiſche
Weiſe, die redende Perſon immer mit einem:
ſagte Herr — eingeführt wird, was deutſchen
Ohren, wie, nach Cicero, den römiſchen, höchſt
unangenehm klingt. Chriſtoph, ein Kaufmann,
hat die fröhliche Anſicht der Welt, die das Le:
ben genießt, wie es der Augenblick erlaubt;
Auguſtin, ein gereiſ'ter Kavalier, ſieht auf
Völker und Staaten, weil er die Politik zu
verſtehen meynt; Benedict, ein Gelehrter, hält
auf Gründlichkeit, und David, der eben Con-
rector werden ſoll, ſpielt die ſchmähliche Rolle
des in Vorurtheilen gefeſſelten Verſtandes,
und muß den dermaligen Stand der Gelehrs
ſamkeit und der Kirche immer als den Canon
aufſtellen, den man heilig zu halten habe:
daß Er aber allein der Punct iſt, auf den die
andern zielen, verſteht ſich von ſelbſt. Die
Recenſionen neuer Bücher, die das Journal
enthält, beweiſen, daß Thomaſius wußte, was
die Kritik ſeyn ſoll; nemlich nicht ein freches
Aburtheilen, das in ſchnöder Witzeley ſeine
Anmaßung verbirgt, noch eine gedankenloſe
Wiedergabe des geleſenen Werk's, ſondern ein
*
42 | 4
ſubjectibes Urtheil über den Werth oder Un⸗
werth der Schrift, das nur deßwegen auf Ob
jectivität Anſpruch macht, weil es ſich auf
Gründe ſtützt, die allgemein gültig ſind. Ging
Thomaſius auch nicht von den Grundſätzen |
aus, die jeder Kritik zum Grunde liegen ſoll—
ten, ſo leitete ihn ein gewiſſes Gefühl der
Wahrheit, was beſſern Naturen eigen iſt, auf
die richtigere Bahn; und davon iſt ſchon das
ein Beweis, daß er die Form des Dispüts
wählte, in welcher jedes Urtheil nothwendig
als ſubjectiv erſcheinen muß, bis die endliche
Vereinigung der Streitenden ein objectives
gleichſam abſetzt. Das Geſpräch wird dadurch
eingeleitet, daß Herr Chriſtoph eine Predigt
des bekannten Abraham a 8. Clara, hervor:
zieht, und der Geſellſchaft theils zum Arger,
theils zur Ergötzung vorließt. Sie vereinigen
ſich, nach manchem »Sprachwechſel,« endlich
dahin, daß es freylich etwas arg ſey, ſo luſti—
ge Dinge, wie der ehrwürdige Vater thue, in
Predigten vorzubringen, daß ſie indeß doch
recht artig wären, und ſogar Lob verdienten,
eben weil fie beluftigten: ) Dadurch wird das
) Vielleicht iſt es den Leſern nicht unangenehm
an einigen Beyſpielen mehr zu hören, auf
43
Geſpräch auf die beluſtigenden Bücher über—
haupt gelenkt, und vieles zu ihrem Lobe ge—
ſagt »in Anſehen ein Menſch unter den zeitli⸗
chen Gütern doch eine gemäßigte Fröhlichkeit
für ſein höchſtes Gut zu achten hat, maßen
welche Weiſe Vater Abraham ſeine Gemeine
erbauete? darum wollen wir einige vom Tho—
maſtus angeführten »inventiones« deſſelben her⸗
fegen, Von des Jephta's Wunſch, ſagt er,
hat er dieſe Gedanken: Jephta habe nie—
6 5 ee zu Hauſe gehabt, als ſeine Frau und
Tochter, habe ſich deßwegen eingebildet, feine
Alte werde am Fenſter ſtehen, und wenn ſie
ihn erſehen werde, ihn unverzüglich enfge:
gen gehen, und dieſe ſeine Alte wollte er dem
Herrn gar gerne ſchenken. Er führt mit vie⸗
len Exempeln aus, daß Gott im alten Teſta⸗
ment Ihr Geſtreng geheißen: im neuen aber
heiße er Ihr Gnaden; daß Chriſtus Malcho
das Ohr angebeilet, ſey darum geſchehen, weil
er in Willens geweſen, durch eine Predigt am
Kreutz noch gar viele zu bekehren, ſich aber be—
fahret habe, Malchus möge wegen der ſchar—
fen Wunden das Tüchl ſtets für die Ohren
halten, und alſo ſein göttliches Wort nicht
anhören, an einem andern Orte aber führe
er an, als wenn es zu Ehren des geiſtlichen
dieſe ein deutliches Merkmal einer inner:
lichen Gemüthsruhe if. G c Darum wer:
den die Romane, beſonders die |
ſiſchen, ſehr gerühmt. Herr David der das
Vorige nicht ſonder Unwillen, gehört, brich
jeg in die Klagen aus, die Thomaſius bey der
Ordens geſchehen ſey, in Anſehen Malchus dem
ui Hohenprieſter aufgewartet, und es sp übel
Br würde grſtanden haben, wenn er ohne Obr
ii dem Hohenprieſter hätte nachtreten ſollen.
Ferner giebt er für, daß Jonas die drey Ta⸗
| ge im Wallfiſch mit ausgeſtreckten Händen ge⸗
legen, wovon ihm die Arme dermaßen er⸗
ſtarret, daß er nachgehends dieſelben kreuz⸗
weiſe ausgeſtreckt behalten, und weil er ohne⸗
dem bleich und todtenfarbig ausgeſehen, ſo
habe er eine Geſtalt gehabt wie ein Erucifir,
und deßhalben ſo viele bekehret. — Die Spra⸗
che des Mannes iſt den Gegenſtänden angemeſ⸗
ſen. Thomaſtus giebt ihm indeß das Zeug⸗
niß, daß er am Ende gute Moralia daraus zu
ziehen verſtehe, und es iſt kein Zweifel, daß er
ſeine Gemeine erbaut habe. Man ſieht, es
kommt auf 2 4 Weiſe an, wie man hört,
nicht darauf, was man hört. Das religiöſe
Gemüth bedarf nur Töne, die feinen Gefüh—
len etwas gleich klingen; das unreligiöſe
hört auch die Wahrheit der Predigt nicht.
1
45.
Abhandlung über die Nachahmung der Fran—
zoſen, angeführt hat. Ein anderer aber iſt
der Meynung, daß noch ſchlimmer, als dieſe
Nachahmung, die neue Mode ſey, »ſtatt der
herrlichen librorum politicorum Aristotelis anjes
tzo gar die franzöſiſche Galanterie der ſtudie—
renden Jugend einzuflößen, zumal da dieſes
ſich Leute zu thun unterfangen, die weder am
Hofe geweſen ſeyen, noch gereiſet haben z
woraus man ſieht, welche Urtheile jenes Unter⸗
nehmen des Thomaſius veranlaßt hat. Auf
die Frage, welche Bücher man vor andern
hochachten ſolle? weiß Herr David eine ganze
Menge anzuführen; und da man annehmen
darf, daß er die Tendenz und den Stand ſei⸗
nes Zeitalters — nach Thomaſius Anſicht —
ausſpricht, ſo ſind ſeine Meynungen literariſch
wichtig, obgleich der Thomaſiſche Satyr den
Pedanten wol zu grell mahlt. In der Logik,
meynt er, ſolle man »ein Consilium ſchreiben,
wie mit geringen Koſten der edle pons Asino-
zum, der nicht nur von fo vielen vortrefflichen,
viris gravibus bisher ziemlich ausgetreten, ſon—
dern auch von vielen Spöttern ſehr ruiniret
worden, wieder gebeſſert, ausgeflickt und zu
dem vorigen Splendor gebracht werden könne.«
1
In der Nhetoril, wie die Jugend in 5 Jahren
wenigſtens dahingebracht were könne, daß
ſie (nicht nur sum, sus, sut, conjugiren, ſon⸗
dern auch) ganze Orationes von 12 Bogen
ſchnell verfertigen könnte, »als wodurch nicht
allein die Redekunſt vortrefflich emporkommen,
ſondern auch zugleich das Reich der glorwür⸗
digſten Metaphyſik, der die andern Disciplinen
doch mit Fug und Recht den Pantoffel küſſen
müſſen, hauptſächlich befeſtigt werden würde, «
in der geiſtlichen Hiſtorie ſolle man unterſuchen
vob David ſchon Coffee getrunken, weil gleich⸗
wohl Abigail ihm unter andern Präfenten ge:
dörrete Bohnen überbracht;« in der weltlichen
»ob Dido, nach gehaltener Tafel, nicht mit dem
Aenea ein Pfeiffchen Tobak grraudet?« In
der Phyſik ſolle man — nach Anleitung der
gemeinen Lehre, daß die Luft und nicht das
Waſſer das feuchteſte Element ſey — dacthun,
es könne Waſſer geben, das nicht naß ſey; in
der Mathematik ſolle man eine chriſtliche Arith⸗
metik mit lauter geiſtlichen Exempeln erfinden,
und erweiſen, »daß die Probe beym Addiren,
ſo mit dem Creuze geſchieht, viel chriſtlicher
und richtiger fen, als die per subtrsctionem, &
die practiſche Philoſophie aber ſolle zeigen, die
47
eilf Tugenden des Ariſtoteles ſeyen ſchon vom
Salomon in feinen Sprüchwörtern approbirt;
die Medicin ſolle den Umlauf des Bluts durch
Induction leugnen, weil die Anatomie zeige,
daß es im todten Körper keinen gebe; und
um die Theologie würde ſich der unendlich ver—
dient machen, der »ausſpinthiſirte, wie vermit—
telſt einer einzigen ſubtilen Diſtinction — viel⸗
leicht unter 20 or und dier — alle Ketzer in
allen Streitfragen widerlegt werden könnten.
Vom Herrn Chriſtoph werden die Roma:
ne dagegen ſehr vertheidigt und alles mit Bey—
ſpielen belegt, denn auf dieſe Weiſe recenſirt
Thomaſius. Man ſieht, er hat ein richtiges
Kunſtgefühl, und die Idee, die der Darſtellung
zum Grunde liegt, die artige invention, wie er
es nennt, iſt, was ihn anſpricht; aber er wag⸗
te es noch nicht, aus einem andern Grunde die
Sache der Romane zu führen, als ihres Nutzens
wegen, neben der Beluſtigung: denn Beluſtigung
und Nutzen geben, wie die Geſellſchnft über:
einkommt, einem Buche ſeinen Werth. David
weiß auch beyde in ſolchen theologiſchen Schrif—
ten zu verbinden, »in welchen die Ketzer tüchtig
geſtriegelt werden, woraus der Eifer für Got—
tes Ehre handgreiflich zu merken.« Aber Be:
48 }
nedict erkennt ſolche Schriften nicht für theo⸗
logifih, und empfindet dabey, »anftate der gro—
ßen Freude nut i nerliche Herzens: Wehmuth,
daß Chriſten mit einander ſo unchriſtlich ver⸗
fahren, und geſteht, daß er ſich mehr beluſtige,
wenn er ja Streitſchriften leſen ſoll, an ſolchen,
woraus der Geiſt der Sanftmuth allenthalben
hervorwehet, und die nach Speners Styl eins
gerichtet ſind.« Die geiſtlichen Bücher aber
werden von der Frage ausgeſchloſſen, und da
Benedict den Schaden der Romane gegen ih—
ren Nutzen abwägt, ſo führt Auguſtin als uns
terrichtende und beluſtigende Bücher die politi—
ſchen an. Von dieſen nun werden wieder eine
Anzahl beurtheilt, deren Inhalt ſich größten⸗
theils auf den Türkenkrieg bezieht, und gute
Rathſchläge an die Hand giebt, wie der Erb—
feind der Chriſtenheit am ſicherſten zu beſiegen
ſey. David unterläßt nicht, bey dieſer Gele⸗
genheit wieder in frommen Eifer zu gerathen,
beſonders über die Behauptung Ludolphs:
man würde die Türken am beſten beſiegen,
wenn man gegen ſie Güte, Gerechtigkeit,
Treu und Glauben beobachte. Auch war ihm
das unleidlich, daß ein anderer »den Professo-
ribus ihren wohl hergebrachten Titel: Ihrer
Ex-
49
Excellens ſtreitig macht und fie damit aushöh—
net. Die politiſchen Bücher werden aber
von der übrigen Geſellſchoft verworfen. Benee
dict meynt, in Geſellſchaft über politiſche Ge:
genſtände zu ſprechen, ginge an, aber darüber
zu ſchreiben, ſey ein unnützes Unternehmen,
und dazu gefährlich. Unnütz: weil ein jeder
meyne, ſo wie ihm, dem Privatmann, der
Sinn ſtehe, ſo müſſe der Fürſt handeln; dieſer
könne das aber nicht, weil ihm geheime Ver—
hältniſſe beſtimmten, die der Schriftſteller nicht
kenne: und wozu ſolche Kannengießereyen
dem Privatmann frommen möchten? Gefähr—
lich, »weil hohe Häupter lange Arme hätten,
und, wenn man aufrichtig ſeyn wolle, man ihs
rer doch, weil Fürſten und Herren auch menſch—
licher Schwachheit unterworfen find, nicht ims
mer zum beſten erwehnen kann.« — Einer
fragt darauf den Benedict, weil dieſer ein Heft
von Actis Eruditorum hervorzog, wie es ſich
mit dieſen Actis eigentlich verhalte? Wie er
abet grade erzählen will und kaum des Herrn
Menke's, ihres Herausgebers, erwähnt hat, ſo
fällt der Wagen um, und »ihr Discours nahm
ein beſchneyetes Ende. |
D
30
And damit endigte ſich dieſer Monat. Er
verſandte gewiß manchen Pfeil, der den Ges
lehrten nach alter Weiſe ſchwere Wunden ver:
urſachte: aber dieſer letzte Ausdruck reizte die
Herausgeber der Acta beſonders wider Thoma:
ſius. Sie meynten, wie man leicht vermuthen
mag, ſein Zweck ſey nur, ihr Inſtitut herun—
terzubringen, und in dieſen Worten habe er
ihm ein ſchmähliches Ende verkündigen wollen.
Thomaſius dagegen behauptet, er habe nur zu
dem Schnee ſeine Zuflucht genommen, weil
ihm der Monat zu ſtark geworden ſey, aber
an nichts Arges gedacht, »und, ſagt er, ich
müßte ja ſplitter tolle geweſen ſeyn, wenn ich
als ein junger Mann ohne allen Beyſtand und
Autorität mir hätte den thörichten Gedanken
in den Kopf kommen laſſen wollen. «) Ger
nug die Herren wollten ſogleich beym Ober⸗
conſiſtorio in Dresden es dahin zu bringen
ſuchen, daß der Verleger wegen des Autors —
denn Thomoſius hatte ſich nicht genannt, ob»
) Und um dies wahr zu finden, leſe man nur
Bayle's und andrer Urtheile uber die Acta,
z. B. Huholds vergl. Struvii Introduct. in no-
titiam rei litter. cap. 6. &. 20.
*
51
wol man den Löwen an den Klauen erkennen
mochte — eidlich vernommen werden ſollte,
aber Thomafius, der es merkte, kam ihnen zu:
vor, und gab ſich für den Verleger aus, (was
er auch war) der dem Buchhändler für ſeine
Beſorgung des Werks bezahle; zugleich aber
bat er, daß man ihm ſeine Verläumder nennen
und ihn wider ſie hören möchte.
Dies geſchah im Monat Februar, während
das zweyte Stück des Journals gedruckt wurs
de. Der Jahalt deſſelben ſcheint darauf hin—
auszugehen, den Verfaſſer ſicher zu ſtellen, und
eine Vorrichtung treffen zu wollen, jeden An—
griff abzuleiten. Nachdem wir aber beym vo—
rigen Stücke ſeine Methode beſchrieben haben,
ſo können wir jetzt etwas kürzer über das
zweyte „ und noch kürzer über die fol⸗
genden hinweg gehen. — David hatte bey
dem unglücklichen Vorfall eine Wunde am Kopf
erhalten: deßwegen mußte er in der nächſten
Stadt in den Händen des Barbierers bleiben:
das Geſpräch der drey übrigen aber fiel auf
die onera und Herrengefälle. Daher wird von
zweyen Büchern, die das Acciſeweſen unterſu—
chen und einander entgegen ſtehen, der Inhalt
erzählt, und dann das entſcheidende Urtheil
| 2D 2
52 | | | 3 | y
auf eine witzige Weiſe abgelehnt. Aus dem
Axiom: weil die Obrigkeit verbunden ſey, der
Unterthanen Leben und Hab' und Gut zu be: 5
ſchützen, ſo ſind dieſe verbunden, die Koſten zu
tragen, folgert der eine — der, wie man ſieht,
aus dem Grunde raiſonnirt — da das Leben
wichtiger ſey, als die Güter, ſo müßten alle,
welche leben, zu den Koſten beytragen; auch
die Armen, dieweil ſie leben; daher müſſe die
Acciſe nicht auf das, was einer hat, ſondern
auf das, was er verzehrt, gelegt werden, und
damit die Armen doch dabey beſtehen könnten,
ſo müßten ſie etwa Brod aus Kleyen eſſen.
Der zweyte aber fühlt die Ungerechtigkeit, die
der Staat begeht, (d. h. die alle gegen einen
begehen,) wenn er Armen, denen er ſelbſt ei⸗
ne große Schuld abzutragen hat, darum weil
er ſie arm läßt, noch Steuern abzwingen woll—
te: aber von der Freyheit des Adels, von den
ſchnöden Kopfſteuern und von andern Dingen
dieſer Art hat er noch ſchlechtere Begriffe, als
jener. Weil aber beyde nur darauf ausgehen,
dem Fürſten eine reiche Einnahme — zum Tür—
kenkriege — zu verſchaffen — (wovon der eine
ſein Buch die entdeckte, und der andre die ge:
prüfte Goldgrube nennt) u fo weiß der luſtige
Be
PD
* —
53
Chriſtoph einen andern, noch einträglichern
Weg, »wenn nemlich ein Fürſt anordnete, daß,
ſo oft ſich eine herzen ließe, ſowol Monsieur
als Madame 2 Pfennige Acciſe. erlegen follten ;«
durch eine Erzählung beweißt er die Richtig:
keit der Behauptung, und meynt, auch die
Clerici und Nobiles würden auf dieſe Weiſe
ſchön beſteuert werden können, wenn man das
Doppelte von der Dame verlangte. Schnöder
und zugleich treffender konnte Thomaſius der—
gleichen unwürdige Schriften über einen ſo
wichtigen Gegenſtand gewiß nicht abferti⸗
gen! — | |
Bey einem Beſuche, den fie in Leipzig dem
kranken David machen, wird der Churfürſt von
Sachſen gewaltig erhoben: Auguſtin, der ge:
/ reiſete, hatte ihn geſehen. Thomaſius hatte
freylich immer einen ziemlichen Reſpect gegen
die Großen: aber es ſcheint doch in der That,
als ob er diesmol die Schmeicheleyen — wo⸗
für er fie aber nicht gelten laſſen will — nicht
ohne Abſicht geſagt hätte. — Herr David
ſcheint durch den Fall auf den Kopf zu Ver⸗
ſtande gekommen zu ſeyn, und erzählt der Ge
ſellſchaft, wie er ſeit jenem Geſpräch lange
darüber nachgedacht, welche Bücher in deut⸗
er HU.
ſcher Sprache die nützlichſten, und zugleich
beluſtigend wären; wie er gefunden, dies
ſey die Satyre; wie er deswegen beſchloſ⸗
ſen, den Philander von Sittwald nachzuah—
men, und wie er ſchon die Titel und den In⸗
halt zu feinen Traumgeſichten entworfen habe,
Bey dieſer Gelegenheit wird die ſcholaſtiſche
Behauptung, das Naturrecht könne nicht apo—
dictiſch bewieſen werden, lächerlich gemacht;
und dann über Boileau's unn Petit's Satyren
geſprochen. Die andern ermahnen Herrn Da:
vid von ſeinem Vorhaben abzuſtehen, und ſa—
gen ihm alle die Folgen vorher, die Thoma⸗
ſius erwarten mochte: Er würde ſich die ganze
Welt auf den Hals hetzen; jeder würde Gift
aus feinen Worten faugen: er würde för eis Fi
nen Pasquillanten ausgeſchrieen werden, wenn 1
er auch nur das Laſter beftraft und nicht an
eine Perſon gedacht hätte, und wozu es nützen
könne? Man leſe Satyren nicht, um ſich zu
beſſen, ſondern um zu lachen, und, was darin
enthalten iſt, auf andre anzuwenden. »Denn
wir ſähen zwar gerne unſre Leibesgeftalt im
Spiegel, aber das Portrait unſers Gemüths,
welches wir doch am beſten erkennen ſollten,
ſähen wir mehrentheils für die Geſtalt andrer
95
Leute an.« David läßt ſich durch nichts irre
machen, und ſetzt ſich faſt bey dem Leſer in
Reſpect, aber was keine Gründe vermochten,
das thut ein Zufall. Ein Hund, der keine Ka—
tze leiden konnte, verfolgt ein ſolches armes
Thier ſo heftig, daß es keine andre Zuflucht
ſahe, als den Kopf unſers Davids, der dick
mit Betten umwunden war, In dieſem Betra—
gen des Thiers — welches ein Bild der Saty—
re ſey, „weil es vorn leckt und hinten kratzte —
und den dabey vorfallenden Unannehmlichkei—
ten erkennt der fromme Mann einen Wink
des Himmels, feinen Uebermuth fahren zu
laſſen. | | |
Der Monat endigt mit einem Geſpräch
über Zeitſchriften, was ſie ſeyn ſollen, und wie
ſie das am erſten werden können, und manche
treffende Bemerkung wird darüber geſagt. Die
Acta Eruditorum werden auf das Ehrenvollſte
erwähnt, und Bayle's lobreiches Urtheil dar—
über angeführt. Dann läßt uns Thomaſius
durch ſeine Perſonen die Grundſätze entdecken,
nach welchen er ſie ſelbſt erſchaffen, und, um
den Witz vollkommen zu machen, hätte er nur
einen Schritt weiter gehen, und ſein Journal
namentlich anführeg dürfen (denn er läßt wirk—
=
56
lich den einen zum andern ſagen: Du ſtichelſt
auf unſer Geſpräch). Er iſt der Meynung:
»es wäre nicht undienlich, wenn man in dem
teutſchen Journal ſowol die einfältigen, als
vernünftigen Judicia mit berührete, und damit |
die Sache deſto beffer von Statten ginge, ſoll⸗
te es ſich nicht übel ſchicken, wenn man der—
gleichen Journal in Form eines Geſprächs
verfertigte, und einen oder ein Paar alberne
Kerl einführete, die ihr einfältig Bedenken mit
vortrügen, die andern aber mit vernünftigen
Urſachen ihre Meynung vorbrächten; allein ſie
ſollten nur Einwürfe und kein entſcheidendes
Urtheil wagen, um ſich nicht zum Richter zu
machen; und den Leſern würde das pro und
contra zu hören, angenehm ſeyn; ja, weil es
unmöglich, daß ein Autor zwey widerwärtige
Meynungen zugleich behaupten könne, würde
man den Journaliſten ſelten anfaſſen können.
Aber zum Beweis, daß er nicht ein albernes
Hin: und Herſchwatzen, und die Stümperey,
die ſich für nichts entſcheiden mag, vertheidige,
ſetzt er hinzu: »unpartheyiſche und verſtändige
Leute würden doch wol ſehen, wohin er am
meiſten reflectiret hätte, die partheyiſchen aber
würden jeder für ſich etwas antreffen, das
57
ſie ergreiſen könnten, als wenn der Journaliſt
auf ihrer Seite wäre. Daher iſt es nicht zu
verwundern, daß die Frage: welche Bücher
man vor andern zu achten habe? unentſchie—
den zu bleiben ſcheint. Denn nur für die
Verſtändigen wird ſie eneſcieden ‚ wie es
recht iſt. 5 a
Bey dieſer Vorſiche Gelbe Thomaſius
doch noch einen Schritt weiter gehen zu müſ—
ſen. Daher veränderte er im Märzmonate
ſeine ſatyriſche Schreibart, obwol es nicht ganz
in ſeiner Macht ſtand, ſie zu vermeiden, und
erwähnte der vorigen Perſonen nicht wieder,
ſondern ſchaffte neue, um durch fie feine Mey:
ee e ) Drey Männer, von
IN ’ ?
79 EN ſagt, er habe du dem März den
Titel des Journals verändert, und, da er
es vorher »Freymüthige, luſtige und ernſthaf⸗
fe, jedoch vernunft- und gefesmäßige Gedan:
fen oder Monatsgeſpräche über allerhand, vor⸗
e aber ueue Bücher« überſchrieben, fo
habe er es jetzo »ſcherz⸗ und ernſthafte, ver⸗
nünftige und einfältige Gedanken“ genannt.
Daſſelbe erzählt auch Brucker historia philoso-
pPbiae Nai IV. part. alt. pag. 455; anch ſteht
es ſchon im Univerſallexicon unter dem Artikel
„
welchen der eine nichts gelten ließ, als die Ver⸗
nunft, der andre es aber »mit den lieben Alten
hielt, und es für Unrecht achtete gr: daß ein
Menſch unſerer Zeit ſich weiſer d ken ſollte,
als unſre Vorfahren, « und der dritte in bey⸗
der Mitte ſtand, leiſteten ihm dieſen Dienſt.
. ganzen Monat herrſcht freylich derſelbe
Geiſt, der das Ketzermachen der Theologen ber
klagte, die Pedanterey der Grammatiker ver:
lachte, und die Ignoranz der Philoſophen ver⸗
achtete; auch kommt noch wol ein derber
Ausdruck vor, der den Meiſtern der Discis
plinen nicht anſtehen mochte — über Reforma:
tionen der Akademieen und über den »ehrlis
*
ell
Thomaſtus. Aber er hatte der Schrift im An⸗
fang den von uns angeführten Titel gegeben,
und daran änderte er jetzt nichts, als daß er
f hinzuſetzte: durch E. D. F. U. K. ſtatt: von
der Geſellſchaft derer Müßigen. Erſt das De: 1
centre erhielt den Titel: „ernftbafte Ge
danken über etliche ernſthafte Bücher und Fra⸗
gen;“ der Januar 1609 aber hieß: „freymü ⸗
fhige u. ſ. w. Thomaſtus ſagt: er habe 12
März das thettrürt verändert‘ — aber nur da-
durch, daß er die Müßigen abdankte; und er
ändert es faſt in jedem Monat. ö
59
chen alten teutſchen Ariſtoteles:« aber die
Sprache iſt viel weniger anzüglich, die Aus⸗
fälle auf beſtimmte Perſonen, die man wenig—
ſtens in den erſten Monaten finden wollte,
weniger derb, und der größte Theil des Mo—
nats mit Recegſionen franzöſiſcher und deut-
ſcher hiſtoriſcher und philoſophiſcher Bücher an—
gefüllt. Dieſe Veränderung, ſagt Thomaſius, “)
habe er gleich anfangs beſchloſſen gehabt; ſein
Zweck ſey geweſen, »die Lehren von der wah—
ren Tugend und von rechtſchaffener Gelahrt—
heit, dem von der Pedanterey und Gleisnerey
guten Theils verblendeten menſchlichen Ge—
ſchlachte vorzutragen;« weil er aber befürch⸗
tet, zu viel Licht ſchade blöden Augen, ſo ha—
be er die Welt vorbereiten und deßwegen, um
ſie zu reizen, im Anfang dem Satyr etwas
nachſehen, aber immer, »damit ſein Abſehen
nicht ein bloßes Geſpötte ſcheinen möchte ernſt—
hafter werden wollen:« abet vielleicht hatte
die Rückſicht auf ſeine gereizten Gegner doch
etwas Antheil daran. Dieſen entging er in⸗
deß nicht; denn er hatte dem Monat eine
Einleitung vorgeſetzt, die ihre Rache heiſchte,
' In der Vorrede zu dem Januar 168g.
95
Er erzählt darin, die Geſellſchaft der Müßigen
habe ſich aufgelößt, und er habe die Fortſe—
tzung des Journals übernommen; aber er nennt
ſich nicht, und giebt ene en in
ſich mit ihm bekannt zu machen, eine Be
bung ſeiner Perſon. Die Leute, 60610 er, „ ſelbſt
ſeine Feinde, nennten ihn einen Gelehrten, aber
das ſey er nicht, denn er ſey zu keiner Facul⸗
tät zu bringen: er ſey kein Theologe, denn er
könne nicht predigen, noch mit den Ketzern
disputiren; kein Juriſt, denn die Praxis habe
ihm wenig eingebracht, und er halte dafür,
das Recht ſey ſeit den Zeiten Trebonians ſo
verdorben, daß es nicht mehr in formam artis
gebracht werden könne; kein Mediciner, denn
er liebe den Rheinwein mehr, als die Perleſ—
ſenz; kein Philoſoph, denn er halte dafür,
daß die Logic, die man in Schulen und Aka⸗
demieen lerne, zur Erforſchung der Wahrheit
ſo viel helfe, als wenn er mit einem Stroh⸗
halm ein Schiffpfund aufheben wollte, « und
von der Metaphyſic glaube er, »daß die dar⸗
innen enthaltenen Grillen fähig find, einen ges
ſunden Menſchen dergeſtalt zu verderben, daß
ihm Würmer im Gehirn wachſen, und daß das
durch der meiſte Zwieſpalt in Religionsſachen
61
entſtanden, auch noch erhalten werde.« Eben
ſo ſpricht er von den andern Wiſſenſchaften,
und ſchließt: Alſo, nachdem ich bey dieſer Be—
wandniß für keinen Gelehrten paſſiren kann,
bemühe ich mich noch überdem, daß ich andern
Leuten, die als Gelehrte zu mir kommen, ihre
Gelehrſamkeit benehmen und dieſe Ignoranz
beybringen möge.« |
So wenig Thomaſius erwarten mochte,
daß dieſer Prolog den Facultätsgelehrten ge:
fallen würde, ſo wenig hatte er wol vermuthet,
daß man ein großes Verbrechen, und noch we—
niger, daß man ein Verbrechen gegen die Ma—
jeſtät darin finden könnte; aber die Herren
würden einen ſchlechten Beweis ihrer wohl er—
lernten Dialektik abgelegt haben, wenn ſie
nicht in den Worten hätten finden können,
was ſie hinein legten. Alſo ſagten ſie, weil
Thomaſius die Disriplinen verſpottet, fo ver:
ſpottet er die Churfürſtliche Durchlauchtigkeit
und dero Vorfahren, weil dieſe verordnet ha—
ben, daß nach jenen Disciplinen auf der Uni—
berfität gelehrt werden ſolle; und die philoſo⸗
phiſche Facultät unterließ nicht, deßwegen eine
Anklage wider ihn an das Oberconſiſtorium
gelangen zu laſſen. Um den Schlag abzuwen—
62
den, überſandte Thomaſius die drey Monate
feinee Geſpräche an den erſten Miniſter am
ſächſiſchen Hofe, Herrn Oberhofmarſchall von
Haug witz, dem, wie er wußte, die erſten Stü⸗
cke gefallen hatten, und bat ihn um ſeinen
Schutz wider die verfänglichen und boshaften
Angaben kleinlicher Menſchen. Der Miniſter
verſicherte ihn ſeiner Gewogenheit: und der
Anſchlag ſeiner Gegner ward vereitelt.
Tho maſius aber, aufgebracht durch das ſchnö⸗
de Betragen ſeiner Gegner, legte die Materia—
lien, welche er für den April beſtimmt hatte,
zurück, und verfertigte für dieſen Monat einen
Aufſatz, wodurch er jenen zeigen konnte, wie
wenig er ihrer achte und ihres Götzen. 5 Es
iſt bekannt, wie die Scholaſtiker dem Ariſtote⸗
les überall Altäre erbauet hatten, von denen
man wol ſagen kann, ſie waren errichtet einem
unbekannten Gott. Und obgleich mehrere geiſt⸗
reiche und kräfrige Männer das Bild, dem
man auf dieſen Altären opferte, umzuſtürzen
) „einen Aufſatz in ſolchen Ausdrücken, daß fie
nothwendig dadurch ein heftiges Reißen im Lei-
be empfinden, oder doch zum wenigſten zu ei,
nem verdrießlichen Mieſen bewogen werden
mußten,“ ſagt er ſelbſt.
63
geſucht hatten: fo erkannten doch die Gelehr—
ten die feinen Dienſte, die es ihnen bey ihren
Streitereyen geleiſtet, zu wohl, und die Ohn—
macht ſchätzte die Zuflucht in den Schutz ſeines
faltenreichen Gewandes, wo ſie ſo oft ihre
Schmach verborgen hatte, zu hoch, als daß
man nicht von allen Seiten herbeygeeilt wäre,
dem drohenden Fall vorzubeugen. Zwar wür—
de Ariſtoteles ſich in dem Bilde, das ſeinen
Namen führte, ſchwerlich wieder erkannt has
ben: aber ſein Name war doch die Aegide,
womit man es vertheidigte, und der Stempel,
der es heiligte. Darum lag an dem Namen
eben ſo viel, als an der Sache, denn dieſe ru—
hete nur in jenem. Das wußte Thomaſius,
und darauf bauete er ſeinen Angriff. Deßwe—
gen beſchrieb er in einem Roman das Leben
des Ariſtoteles, wobey er manche Wahrheit
aus ſeiner Geſchichte zum Grunde legte; aber
er erzählte Alles auf eine ſolche Weiſe, daß
der gute Stagirite höchſt lächerlich erſcheinen
mußte, und in dem fpöttifh= ſchadenftohen
Tone, womit der Menſch ſo ungern etwas Hei—
liges profaniren hört. Ariſtoteles erſcheint in
dieſem Roman — dafür giebt Thomaſius die
Beſchreibung ſeines Lebens ſelbſt — beſtändig
64
von der Periode an, wo er ſich mit Verferti⸗
gung von Schminke und Fleckkugeln ernährt,
bis zu dem Augenblick, wo er der Olympias
eine gewiſſe Gunſt abzwingt, als ein eiteler,
pedantiſcher, heuchleriſcher, niederträchtiger,
ſchmutziger Bube; aber er macht auch zugleich
die feinen Diſtinctionen, durch die Thomaſius
Zeitalter Alles zu beweiſen ſich getrauete, dis⸗
putirte auf dieſelbe Weiſe, wie vielleicht man⸗
cher Profeſſor in Leipzig gethan haben mochte, |
und hatte zur Verfertigung ſeiner Schriften
immer eine Veranlaſſung, die ihm nicht eben
zur Ehre gereicht. — Das Ganze iſt nicht
ohne Witz geſchrieben, und was ihm oft an
Feinheit abgehen mag, das erſetzt eine gewiſſe
Treuherzigkeit und Derbheit; ſeinen Kynismus
hingegen würden unſere Zeitgenoſſen wol nicht
loben: ſie ſind ja gebildeter! Aber für jene
Zeit trug, wie Schröckh richtig bemerkt, dieſer
leichtfertige Angriff des Thöomaſius vielleicht
mehr zum Sturz der Philoſophie bey, die den
Namen des Ariſtoteles führte, als die ernſthaf—
teſten Gründe von Luther, Ramus und an:
dern. )
2
War
) Zu dieſem Monat gehörte, nach Schröckh, ein
Kupfer,
65
War es die Keckheit des Thomaſius, die
ſeine Gegner betäubte, oder war es die Gunſt
des Miniſters, dem Thomaſius auch ſogleich
das Aprilſtück zuſchickte, was ſie im Zaum
hielt: genug ſie ließen ihn unangefochten; und
deßwegen konnte er ſein Journal ruhig fortſe—
tzen. Im folgenden Stücke zeigte er ſo wenig
die kritiſche Miene, als er die ſatyriſche Fahne
ſchwenkte, ſondern er ſchien nur ein Unterhal—
tungsblatt — unſchuldig und nichts weiter, wie
die Unterhaltungsblätter gewöhnlich — liefern
zu wollen, indem er einen franzöſiſchen Ro:
man — von der vernüuffigen Liebe — über:
ſetzte. Das Juniusſtück aber ſollte wiederum
Recenſionen enthalten; allein ein Streit mit
Tſchirnhauſen verhinderte dieſen Votſatz.
Tſchirnhauſen nemlich hatte ein philoſophiſches
Werk in lateiniſcher Sprache herausgege—
Kupfer, auf welchem Speuſtpp, von andern
Schülern des Platon begleitet, dem letztern,
eine gedruckte Nachtmuſik überreicht. Dem
Exemplar, was ich habe, fehlen die Kupfer der
6 erſten Monate Sie waren aber alle ſatyriſch
und ſtanden mit dem Inhalte in Verbin.
dung: |
E
65
| ben, “) welches Thomaſtus im Märzſtücke ſei⸗
nes Journals deutſch excerpirt, und wider wel;
ches er viele Einwürfe gemacht hatte. Tſchirn⸗
hauſen war unſtreitig der wahren Philoſophie
viel näher, als Thomaſius — denn ſeine An⸗
ſicht war am Ende wol die des Spinoza; aber
er gehört zu den Schriftſtellern, welche, weil
ihnen ein inneres Licht aufgegangen iſt, in der
Entzückung darüber vermeynen, Alles ergrün⸗
det zu haben, und was ſie ſehen, müßten auch
die andern erblicken: darüber bemerken fie nicht
die große Kluft, welche die Eine Einſicht von
den verſchiedenen Anſichten trennt, und, indem |
fie philoſophiſche Kunſt mit philoſophiſcher An
ſchauung verwechſeln, behaupten ſie, immer mit
dieſer beſchäftigt, hier, was ſie dort leugnen:
daher ſind ihre Werke im Ganzen tadelhaft,
und wenn man will 5 unphiloſophiſch. Dem
Thomaſius, dem ein großer Schaiffinn für das
philoſophiſche Genie geworden war — (wie
gewiſſe Geiſter dazu beſtimmt ſind, andre von
) Medicina mentis sive tentamen genuinae Lo-
gicae, in qua disseritur de methodo detigendi
incognitas veritates. N
u.) ”
den Melden Wegen abzuhalten obwol ſie
ſelbſt den richtigen nicht wiſſen und nicht zu
entdecken vermögen) — war es leicht, dem
Tſchirnhauſen eine Menge Einwürfe zu mas
chen, Widerſprüche zu beweiſen, und ihm die
Quelle aufzuzeigen, woraus ſein Syſtem ge—
floſſen war. Es iſt nicht zu leugnen, er that
dies auf eine Weiſe, in der man auf den er⸗
ſten Blick nicht den graden und biedern Mann
erkennt, und deßwegen iſt es leicht begreiflich,
wie Tſchirnhauſen darüber ſo erbittert werden
konnte, daß er ſich in einer eignen kleinen
Schrift wider ſeinen Beurtheiler nicht ohne
Heftigkeit vertheidigte. Dieſe Schrift ließ Tho⸗
maſius in dem Stücke des Junius abdrucken,
und ſie, nebſt ſeiner Antwort, füllt es beynahe
völlig aus. Die Antwort aber beweiſet
nicht etwa blos, wie es gewöhnlich der Fall
iſt, daß ein Journaliſt das letzte Wort behal⸗
ten müſſe, ſondern ſie rechtfertigt Thomaſius
vollkommen wegen feines Verfahrens und ſei—
ner Abſicht. Allein, obgleich der entſchloſſene
Mann dem erzürnten Tſchirnhauſen Gerechtig—
keit wiederfahren ließ, und ihre Differenz wol
nur, wie jeder Streit um die Wahrheit, auf
E 2
68 a
Mißverſtändniſſe beruhete, fo wurde he a
fein Freund nicht. e |
Diefe erften he Runder eignete Thoma:
ſius dem Churfürſten von Sachſen, Johann
Georg III. zu, dem ſie, wie er erfuhr, gefallen
hatten. Er that dies in einem Schreiben, in
welchem er dem Churfürſten ſagte, daß er es
nicht etwa thue, um ſeinen Schutz dadurch zu
erflehen: denn es ſey frech von einem Unter⸗
thanen, wenn er, bey ſeiner gere Sache,
dieſen nicht mit Vertrauen von ſeinem Landes⸗
fürſten erwarte! — auch nicht aus einer andern
Urſache, als nur der, für den genoſſenen Schutz
zu danken. Der Churfürſt nahm ſein Schrei⸗
ben wohl | auf; daher feste Thomafius fein
Journal ruhig fort; und erwarb ſich im Mo⸗
nat Julius ein neues Verdienſt, wenn es ans
ders ein Verdienſt iſt, einen großen und edlen
Mann von der Beſchimpfung zu befreyen, die
lange auf ihm ruhte, und ihm die Achtung der
Nachwelt zu erwerben, die er verdient: zu⸗
gleich aber bewieß er Tſchirnhauſen und der
Welt, wie weit er entfernt ſey von aller Ke⸗
tzermacherey, und wie viel er wagen möge für
die Wahrheit und das Recht. Tſchirnhauſen
a; 69
hatte den Thomaſius beſchuldigt, als ob er ihn
eines unlautern Chriſtenthums hätte verdäch⸗
tig machen wollen, weil er es unter andern
1 auch der Welt geſagt, Tſchirnhauſen habe den
Lucretius empfohlen; denn diefer, zur verhaßten
Schule des Epicurs gehörend, durfte nur ver—
abſcheuet und verflucht, aber nicht empfohlen
werden. Ohne dem Tſchirnhauſen auf die häß⸗
liche Beſchuldigung viel zu antworten, über:
nahm Thomaſius hier förmlich die Vertheidi⸗
gung des Epicurs, und ſuchte ihn aus der un⸗
verdienten Verachtung zu ziehen, in die er
durch das unabläßige Lärmen der Stoiker —
die ihrer geptiefenen Apathie ungeachtet auf
das Nichts der eitlen Ehre eiferſüchtig genug
waren — und durch den niedern Sinn gemei:
ner Seelen geſtürzt war, die ſich deßwegen ſei⸗
ne Anhänger nannten, weil ſie in der Worte
Doppelſinn eine Entſchuldigung ihrer Schlech—
tigkeit fanden, aber von ſeinem Geiſt und ſei⸗
ner Tendenz nichts ahndeten. Wenn ſeine
Ato miſtik zur Erklärung des Urſprungs der Din—
ge auch wenig genügt, fo beweiſ't fie doch,
daß Epicur wußte, was die Philoſophie zu lei»
ſten hat, und zeugt eben ſo ſehr von ſeinem
Streben nach Einheit, als die Vorſtellung ir⸗
BP" fi
gend eines Philoſophen der alten Zeit; ſeine
Wolluſt aber, worein er den Zweck des menſch⸗ a
lichen Lebens ſetzte, iſt eben ſo vortrefflich, als
das Wort, mit unſchuldigen Augen angeſehen,
ſüß und ſchön iſt; denn ſie iſt nichts anders,
als die vollkommenſte Harmonie des Menſchen
mit ſich ſelbſt und mit der Welt. Thomaſius
war freylich nicht der erſte, der dies einſah;
Gaſſendus, deſſen Buch ) er zum Grunde leg⸗
te, hatte es ſchon früher eingefehen und es zu b
ſagen gewagt; aber er war der erſte, der es
deutſch und in Deutſchland laut ausſprach.
Freylich konnte er, wie Gaſſendus, den Epicur
wegen ſeiner Gottloſigkeit und wegen ſeiner
Vorſtellung von der Vorſehung nur kompara—
tiv vertheidigen, indem er zeigte, fie fey eben
nicht ſchlechter, als die der andern Philofophen
des Alterthums; (wie hätten ſie das gekonnt,
da ſie ihre Idee von der Vorſehung nicht etwa
in dem Fato der Stoiker, ſondern in ihren
Göttern ſuchten? woraus erhellt, daß ſowol
Thomaſius als Gaſſendus ſchwerlich die richti⸗ ’
Idee darüber, aber vor dem Worte Gott
einen eignen Reſpect hatten), allein wegen
) de vita et moribus Epicuri.
er
71
ſeiner Moralität ertheilten ihm beyde das ver—
diente Lob.) — Die Art, mit welcher Tho.
maſius ſeine Vertheidigung übernimmt, ver—
dient bemerkt zu werden. Unter uns ſcheint
die Meynung herrſchend zu ſeyn, daß, wer auf
ſein Zeitalter wirken wolle, der müſſe es für
ſo ſchlecht als möglich halten, damit er nicht
glaube, dieſer oder jener Schritt zum Beſſern
ſey nicht mehr nöthig. Dieſe Meynung könn—
te leicht die richtige ſeyn, wenn ſie das Prin—
eipium unſers Handelns bleibt: aber ob man
es dem Zeitalter laut ſagen ſolle, es ſey ſchlecht,
ſchwach oder niedrig, wenn man ihm niche zu:
gleich dazu ſagt, daß dieſes nothwendig, und
daß mithin ſeine Schlechtigkeit, die nur relativ
ihm anklebt, ihm eben ſo wenig zur Schande
gereiche, als einem andern Zeitalter feine (re—
3 dieſem Monate gehört ein Kupfer, auf
welchem Epicur im ſüßen Schlafe liegt, mit
dem Kopfe in Reno's Schooß; Platon weht
ihm die Mücken weg (eine Anſpielung auf deſ—
ſen Ideen), und Ariſtoteles fängt dis Gril⸗
len auf, damit fie jenes Leibes- und Seelen—
ruhe nicht ſtören. — Daß Thomaſius von Pla:
tons Ideen ſo gering dachte, wird man ihm
gewiß gern verzeihen; er kannte ſte nicht.
72 |
lative) Vortrefflichkeit Ehre bringt? — das
iſt eine andre Frage. Freylich iſt es wahr, daß
alle große Männer, die für die Menſchheit et:
was Wichtiges leiſteten, tüchtige Strafprediger
waren: aber dafür wurde ihr Werth auch erſt
von der Nachwelt erkannt. Welche Anſicht
Thomaſius von ſeinem Zeitalter hatte, darf 5
wol nicht mehr geſagt werden: aber dennoch
fängt er hier, (wie mehrmals, wenn er etwas
Auffallendes unternahm), damit an, daß er
ſagt: ein ſolches Unternehmen wäre in frühern
Zeiten gefährlich geweſen „aber jetzt ſey die
Welt dahin gekommen, daß man es wagen
dürfe der Wahrheit zu huldigen. Ob man das
Heucheley nennen kann, das mögen die Mio:
raliſten entſcheiden: wenn es ſich aber mit der
Erziehung des menſchlichen Geſchlechts eben ſo
verhält, wie mit der des Menſchen, ſo iſt ihr
ſchwerlich etwas nachtheiliger, als geäußertes.
Mißtrauen gegen den Willen und die Kraft ei—
ner lebenden Generation.
Die nächſten drey Monate beſchäftigen
ſich durchgängig mit Recenſionen neuer Bü—
cher aus verſchiedenen Fächern der Gelehrſam⸗
keit. Thomaſius zeigt in ihnen, was man an
ihm gewohnt iſt, eine vielſeitige Kenntniß, eis
5
12 ne ausgebreitete Beleſenheit, Scharfſinn und
1 Witz, eine Unterhaltungsgabe, die ſich
durch Erfindung und eingeſchaltete Anekdoten,
belehrend und belu tigend, verräth, und die
man felten findet. Sein Ton ift bey weiten
ernſthafter, als in den erſten Stücken, aber .
noch immer munter, fo wie er ſich überhaupt
ſo leicht und ſo fröhlich bewegt, daß man an
ihm von der Steifheit nichts gewahrt, womit
die Gelehrſamkeit ihre Verehrer zu belaſten
pflegt. Er läßt ſein Zeitalter nie aus dem
Auge, macht durch Bemerkungen „die er an
fremde Gedanken knüpft, auf ſeine Gebrechen
aufmerkſam, aber er ſcheint eben dadurch nicht
fo auf das Reformiren auszugehen. Einen
Auszug erlaubt der Inhalt nicht; einzelne
treffliche Gedanken find zu ſehr mit den Res
cenſionen der Bücher verwebt, als daß wir ſie
lostrennen könnten; Erinnerungen gegen an—
1 dre würden jetzt nutzlos ſeyn, und das, was
aus dieſen Monaten Einfluß auf ſeine Schick⸗
ſale hatte — denn der Grimm ſeiner Gegner
kochte im Stillen fort, und Thomaſius unter—
ließ nicht durch einzelne Anſpielungen, die ſie
wenigſtens auf ſich beziehen konnten, ihn zu
unterhalten und zu vermehren — das werden
74
j * . u 189
wir beſſer dann erzählen können, wenn ſich die
Folgen davon zeigen. * MN be-
) Eine Bemerkung mag bier wenigſtens in ei⸗
ner Note ſtehen. Thomaſtus klagt derber,
daß man die Literärgeſchichte fo vernachläſſige,
und daß man nicht wiſſe, was dazu gehöre,
das Leben eines Gelehrten zu beſchreiben, da
es doch ſo lehrreich und ſo nützlich ſey. Ueber
das, was eine ſolche Beſchreibung enthalten
ſoll, heißt es; Gelehrte, gleichwie fie von an-
dern durch ihre Gelehrſamkeit entſchieden
werden; alſo ſollte auch in ihrem Leben
dasjenige hauptſächlich berühret werden, was
zur Gelehrſamkeit gehört, in was für einen
Theil derſelben ſte für andern excellirt, was
ſie für Bücher geſchrieben, was ſie ihrer Schrif⸗
ten und Lehren halber für Adversarios bekom⸗
men, was ſie dieſerwegen für Verfolgungen
ausſtehen müſſen, wer ſich ihrer angenommen,
fie geſchützet, gelobet und getadelt, wie ihre
Schreibart geweſen, ob fie in denſelben ihre,
Affecten blicken laſſen u. f. w. — Gleichgül—
tig, meynt er, ſey es, daß fie Doctoren oder
Räthe geweſen, daß ſie geheyrathet und Kin⸗
der gezeuget u. ſ. w. — Für die Schnelligkeit
oder Langſamkeit, mit der er arbeitete, mag
0
0
N 7
e,
Wi 1 0 7⁵
Auch das Novemberſtück enthält Kritiken,
aber nur von Einem Buche, das ſchon im vo—
rigen Stücke angefangen wurde, von Mor—
hoffs Polyhiſtor; ) deßwegen können wir
leichter ein Paar Sätze aus dieſem Monate
anführen. Morhoff redet von dem Göttlichen
* in den Wiſſenſchaften, und die Bemerkungen,
die Thomaſius darüber macht, verrathen von
Neuem ſeinen philoſophiſchen Standpunct, —
der auch wol daraus erhellt, daß er den Spi—
noza gottlos und leichtfertig nennt, und von
ihm ſagt, er habe die Kreaturen zu Gott ge—
macht; und daß er meynt, »alle Grundregeln
würden verfertigt durch Abſtrahirung derer Ga:
das Geſtändniß zum Maßſtab Bieten, daß er
ſagt: ich will den gern pardonniren, der in
J rast vier oder fünf ſolche vitas verfer—
tiget. Wie er aber ſtudirte, erhellt aus fol-
genden Worten: mein Gemüth iſt nicht ruhi⸗
ger und geſchickter zum Studiren, als wenn
ich aan nüchterſten lebe. Der Wein macht
mich wohl kühle, aber das Waſſer giebt mir
ſolidere Meditationes. Und je länger ich ſchlafe,
je fauler und verdrießlicher werden meine Kräf—
1 te, etwas gelehrtes zu thun. —
*) Polyhistor literarius, philosophicus et practicus.
76 i
chen, die ſich in unterſchiedenen Exempeln be⸗
finden.« Von jenem Göttlichen in den Wiſ⸗
ſenſchaften meynt er: es müſſe entweder natürlich
oder übernatürlich ſeyn; im erſten Fall verdiene
es einen ſo hohen Namen nicht, im letzten
aber leugnet Thomaſius das Daſeyn deſſelben,
und zwar, wie er ſagt, aus Reſpect zu der
Gottesgelahrtheit. In der Philoſophie, die er ;
von der Theologie ſtreng geſchieden haben will, 0
obwol er ſie ſelbſt vermiſcht, und in der welt⸗
lichen Beredſamkeit gäbe es ſo wenig, als in
der Mathematik etwas Göttliches. »Und ob—
gleich Seneca, Cicero, Ariſtides und andre
Heiden viel von dem Nee zu ſchwatzen wiſſen,
ſo weiß ich doch, daß dieſes Alles aus einer
irrigen Meynung, die dieſe Heiden von Got—
tes Weſen und dem Urſprung der menſchlichen
Seele gehabt, hergerühret. Woraus ebenmä⸗
ßig gefloſſen, was Plato und ſo viele andre
Heiden von dem Nee in der Poeterey, imglei⸗
chen was Jamblichus von dem Göttlichen,
das in der Muſik ſtecken ſolle, geſchrieben« —
ja öfters, ſetzt er hinzu, ſey dies Göttliche nur
die Wirkung von einem Glas Wein oder
Brandtwein. — Der Hiſtorie ertheilt er im
Allgemeinen mit Morhoff das Lob, was ihr
Er
77
gebührt; aber er meynt ſogar, daß wer die Hi:
ſtorie von einer jeden Disciplin genau wiſſe,
| der wiſſe mehr, als alle Meiſter derſelbigen, —
5 als ob man die Geſchichte einer Wiſſenſchaft
wiſſen könnte, ohne darin Meiſter zu ſeyn, d.
h. ohne von ihr eine Anſicht zu haben, die
für uns wahr und gewiß iſt! — Auf die Mne⸗
monik, die grade jetzt wieder Mode werden zu
wollen droht, hält Thomaſius nichts, und »iſt
der wunderlichen Meynung, daß ein Menſch
ſich hüten ſolle, an ſeinem Gedächtniß zu kün⸗
| ſteln; nicht allein, weil mehrentheils was dem
Gedächtniß zugeht, das gehet gewiß dem Ju-
dicio wieder ab, da doch ein Loth Judicium
viel beſſer, als ein Pfund Memorie, ſondern
anch, weil insgemein diejenigen, die ihr Ge⸗
dächtniß durch Kunſt forciret, wenn fie alt wor⸗
den, daſſelbige nebſt dem Judicio gar verloh⸗
ren haben. — Wenn alle Leute fo humorirt
wären, fährt er fort, wie ich, wollte ich wohl
einem jeden für denen subsidiis mnemonicis
durch Bildungen warnen, weil ich meine, daß
ſie unter allen denen Mitteln die geſchickteſten
ſeyn, einen Menſchen, ich will nicht ſagen,
zum Narren zu machen, ſondern nur ſeines
Verſtandes in einem ziemlichen Grad zu be—
—
78 4738 u
rauben.«e — In Anſeßung d der Erziehung und
des Unterrichts aber ift er freylich noch immer
der Meynung, daß die Sprachen ſo gar noth⸗
wendig nicht wäre, ſelbſt nicht zur Gelehrſam⸗
keit, »denn der Menſch iſt nicht auf der Welt
der Sprachen halber, und die Geleheſankeit v
beftehet nicht in Worten, fondern in wahrhafr ⸗
tigen Gedanken«: aber von der Spielme-
thode, auf die er vor einem Jahre ſo viel
hielt, iſt er doch ſchon etwas zurück gekom⸗
men; dagegen dringt er auf Verbeſſerung der
Sitten des äußerlichen Lebens, und ſchließt,
man müſſe in den Schulen auf eine ſolche
Methode bedacht ſeyn, durch welche denen
Knaben zugleich die Sprachen, die mathemati⸗
ſchen und hiſtoriſchen Wiſſenſchaften, die got⸗
tesfürchtige Sittenlehre, und die manierliche
Höflichkeit eingeflößet werde.
Das Decemberſtück beſchließt das Jahr
auf eine Weiſe, die dem Character, dem Muth |
und der Einſicht des Thomafius Ehre macht,
aber nicht zur Ruhe feines Lebens beytrug.
Schon der Titel — »ernfthafte Gedanken über
etliche ernſthafte Bücher« — läßt etwas
von dem Bisherigen Verſchiedenes erwarten;
und die Erwartung wird nicht getäuſcht. Wol
79
war die Sprache des Journals in den ſpätern
Monaten viel ernſthafter geworden, wie in den
erſten: aber nicht ſelten fiel Thomaſius in
den alten Ton zurück, wenn die Gelegenheit
ſich darbot, feinen Muthwillen zu zeigen. In
dem December aber herrſcht durchaus ein ern—
ſter Ton voll Nachdruck und Kraft, wie ein
Mann redet, der ſeinen Unwillen über einen
unwürdigen Gegner zurückhält, durch den Ge—
danken an die Würde des Gegenſtandes, über
den er ſtreitet: daher hin und wieder der An—
ſtrich von Bitterkeit, und das raſche Leben in
ſeinen Aeußerungen! Nach einer Schilderung
der menſchlichen Gemüther bey einem heran⸗
nahenden Bußtag, führt Thomaſius einen Stu—
denten der Theologie mit einem Obriſten zu-
ſammen, der auch ehemals ein Theologe war,
und noch in der theologiſchen Literatur fort⸗
lebt. Der Student iſt zehen Jahr auf der
Akademie geweſen, und hat die Ariſtoteliſche
Philoſophie und die poſitive ſcholaſtiſche und
polemiſche Theologie ſo wohl ſtudirt, daß er |
jetzt in Einer Stunde über jeden beliebigen
Text eine Predigt zu halten verſteht. Aber,
obwol man ſieht, daß er ein Repräſentant der
gewöhnlichen Theologen ſeiner Zeit ſeyn ſoll,
80
und daß Thomaſius ſeinen Zeitgenoſſen Yen
die Vernachläſſigung der praktiſchen und mora⸗
liſchen Theologie — (die freylich neben jener
andern Eintheilung nothwendig iſt) — die
Wahrheit zu ſagen wünſcht, ſo gehört er doch
nicht zu »den albernen Kerlen, die ihr einfäl⸗
tig Bedenken mit vortragen ſollen ze ſondern en
hat Verſtand und guten Willen, aber er trägt die N 1
Feſſeln der Autorität. — Herr Hector Got:
fried Maſius, Doctor und Profeſſor der Theo-
| logie und Hofprediger des Königs von Däne—
| mark, hatte ein Buch geſchrieben »über den
Vortheil, welchen die wahre Religion den Für—
ſten gewähre; « *) und darin zwar einen hefti—
gen Eifer für das ächte Lutherthum bewieſen,
aber wenig Geiſt und noch weniger Religion.
Dieſes Buch beſtreitet der Obriſt und von
dem Theologen wird es vertheidigt. Ma—
ſius hatte in ſeinem Buche geſagt, daß die
wahre, d. h. die Lutheriſche Religion einzig
und allein den Frieden des gemeinen Weſens
erhalte; er hatte ſie wegen ihrer äußerlichen
Vortheile für die Fürſten, dieſen ſehr empfoh⸗
len, weil ſie lehre, die Gewalt der Fürſten
| komme
. * 4. . 5 * „
*) Interesse principnm circa veram Religionem,
81
komme unmittelbar von Gott und behaup—
tet, Fürſten und Herren müßten die lutheriſche
"Religion, wo nicht aus Gottesfurcht, doch um
ihres zeitlichen Vortheils willen zu der ihrigen
machen; dabey hatte er zu verſtehen gegeben,
daß die katholiſche und beſonders die reformir—
te Religion Rebellen und Aufrührer machen
| müſſe. Er hatte von den Reformirten gefo:
dert, daß ſie ſich mit den Lutheranern vereini—
gen müßten, weil ſie ja zugäben, daß dieſe im
Fundament nicht irrten, was ihnen aber von
dieſen abgeleugnet würde; und überhaupt war
das ganze Buch ſo voll ſchiefer, einſeitiger und
abgeſchmackter Sätze, daß man ſieht, es war
aus dem bekannten Grundſatze gefloſſen, jede
Unwahrheit und Schlechtigkeit ſey erlaubt fär
den ächten Glauben. Wie Thomaſius darüber
denken mochte, iſt dem klar, der da weiß,
„daß er der Religion zugethan war, die der
Apoſtel an dem Orte, da er die Liebe ſo ſehr
herausſtreicht, und die guten Werke ſo hoch
treibt, feinen Corinthern einpredigen will;«
aber dennoch würde er den Maſtius ſchwerlich
ſo kräftig angegriffen haben, wenn nicht ſeine
Lehre die gewöhnliche ſeiner Zeit geweſen wä—
re. Die erſte Behauptung, daß die lutheriſche
F
82 | | 8
| Religion allein den Frieden des Staats ſiche—
re, widerlegt Thomaſius vollkommen aus der
Geſchichte, und meynt mit Recht, daß der Bor:
theil, den eine Religion dem Fürſten gewährt,
wenn die lutheriſche darin auch vor andern 0
ſich verſchwenderiſch bewieſe, ein ſchlechter
Maaßſtab für ihren Werth ſey: denn entwe⸗
der ſey die Religion ſchlecht, die ſich ſo weit
ihrer Heiligkeit entäußere, daß ſie ſich als Er⸗
halterin menſchlicher Ordnungen und Einrich⸗
tungen gebrauchen ließe, oder der Staat ſey
ſchlecht eingerichtet, der eine ſolche Stütze be⸗
dürfe, und nicht auf ſeine eigene Feſtigkeit
wol gegründet, bejtände. *) Von der Behaup⸗
) Unter andern ſagt er: »Ich bin der Mey⸗
nung, daß 95 eine unanſtändige Sache ſey, ſei⸗
ae hohen potentaten wegen des zeit⸗
lichen Intereſſe zu recommandiren. Ein an⸗
dres iſt, wenn man der wahren Religion Schuld
giebt, daß ſie dem Inkereſſe des gemeinen
Weſens zuwider ſey, ein andres, wenn man
behaupten will, daß fie den e Nutzen
großer Herren an und für ſich ſelbſt beför⸗
dere. Jenes iſt offenbar falſch, wannenhehre
auch die Väter erſter Kirche der Chriſtlichen
Religion, ſoviel dieſen Punct betrifft, öfters
„ | 2 83
fung hingegen, daß Gott die unmittelbare Ur⸗
ſache der Majeſtät ſey, ſagt Thomaſius, „daß
nicht leicht eine abgeſchmacktere und von aller
Vernunft und Schrift mehr entfernte Mey—
das Wort geredet. Aber daraus folget das
Andre nicht. Die wahre Religion zielet nur
auf das ewige Wohl. Dieſes aber iſt nicht
nothwendig mit 455 zeitlichen verknüpft, zu
geſchweigen, daß das zeitliche Intereſſe ſo
ein wächſernes Wort iſt, daß ſich ſolches nach
eines jeden ſeiner Meynung gar leichte ddeh en
und formiren läßt. Die Wahrheit braucht zu
ihrer Recommendation weder die unwahrheit
noch die Alberkeit. Dannenhehro halte ich da⸗
0 für, daß man ſich um die Religion mehr ver—
dient mache, wenn man die albernen Der:
fechter derſelben — (nemlich diejenigen, die
fie dem Fürſten als Stütze des gemeinen We:
ſens emibfehlen} — bey Seite ſchaffe, als wenn
man dieſelben hegt; denn ſie kämpfen für ſie
nur mit Steckenpferdru, hölzernen Degen und
Klatſchbüchſen.“ — Seit Thomaſtus find hun—
dert Jahre verfloſſen, und doch hört man noch
ſo oft Fi tennung daß die Religion
bauptſächlich deßwegen zu erhalten ſey,
weil fie dem Staat en Sand reiche, und den
Pöbel bändigen helfe. — Iſt das nicht eine
F 2
L x
84 0 6
nung geweſen ſey, als W e Schon Pr
fendorf hatte ſie beſtritten, und Thomaſius
war ihm darin gefolgt in feiner. göttlichen
Rechtsgelahrtheit; aber dort konnte er ſeine
Meynung nicht ſo bündig und vollſtändig an
den Tag legen. Er leugnet nicht, daß die Ma⸗
jeſtät urſprünglich von Gott komme, aber er
behauptet, daß die Zuſtimmung des Volks als
eine mittelbare Urſache ſchlechterdings dazu ge⸗ 1
höre; Er zeigt die Nichtigkeit der damals ge⸗
wöhnlichen Behauptung, daß keine Obrigkeit
ohne von Gott ſey, und folgert aus der For⸗ |
derung des Maſius, (die Reformirten müßten
ſich mit den Lutheranern vereinigen,) 1 die
Lutheraner dieſelbe Schuldigkeit gegen die
Katholiken hätten, weil ſie dieſen die
Möglichkeit des Seligwerdens — welche ſie
ihnen abſprechen — zugeſtünden; und ſchließt
das Geſpräch damit, daß der Ob iſt dem Theo:
logen eine Anweiſung, die Theologie zu ſtu—
diren, ins Stammbuch ſchreibt, in welchem er
ihm thätige Liebe und Den empfiehlt, und
Läſterung gegen das Heilige und ein ach.
volles Geſtändniß über die Unvollkommenheit
der Staaten? — Und ſeitdem ſind wir doch
fo hoch aufgeklärt! A
# 85
vor Heucheley, theologiſcher Hoffart und Haß
warnt. «Aber wo bleibt der Glaube? Dieſen
mußt du mitbringen, ehe du Theologie zu ſtu⸗
diren anfängſt.« — 0
Wie Maſius dieſe nion BR,
und welche Folgen fie hatte, das werden wir
bald erzählen. — Aber noch im Laufe dieſes
Jahrs ließ Thomaſius noch zwey andre Schrif⸗
ten drucken, die wir wenigſtens anführen mol:
len. Schon um Oſtern — alſo um dieſelbe
Zeit, in welcher er das Leben des Ariſtoteles
in ſeinem Journal beſchrieb — eröffnete er in
einem Programm »von den Mängeln der Ari—
ſtoteliſchen Ethik der ſtudirenden Jugend zwey 2
Collegia über die Chriſtliche Sittenlehre und
über das jus publicum, und beweiſet dadurch,
daß er den monatlichen Gedanken nicht ſeine
ganze Thätigkeit ſchenkte, ſondern daß er ſie,
wie ihre Titel ſagte, nur in müßigen Stunden
verfertigte, obwol ſie leicht beſſer ausgefallen
ſeyn dürften, als die übrigen Arbeiten. Er bes
ſchrieb darin die elende Weiſe, wie man die
Sittenlehre — die er einen habitum practicum
nennt — bisher gelehrt habe, und wie ihn
dies Fp auf eine beſſere Methode zu
denken. Er verſpricht, in dem Collegio die
86 > *
Fundamente der Ethik nicht auf heidniſche zu
gründen, weßwegen er ſie eben chriſtlich nennt,
ſondern ſie blos aus der geſunden Vernunft
herzuleiten, und dann die ethiſchen Principe
„eines neuen Philoſophen, die den Atheismus
ganz offenbar inculciren, und alſo dem Chri⸗
ſtenthum, wie jeder andern Religion, zuwider
| ſind, deutlich und mit guten Gründen zu mi:
derlegen. Nemlich, fährt er fort, es iſt den
Gelehrten bekannt, daß in des Benedicts Spi—
nofä feinen Operibus posthumis gleich vor:
ne an eine Ethik enthalten , in welcher
| zugleich diefer ſcharfſinnige Jude die Fun⸗
damente feiner ganzen Philoſophie oder
vielmehr ſeines Atheismi geſetzt. Weil denn
dieſes Gpinofä feine Schriften, die bey uns in
Dieutſchland bisher eben ſo bekannt nicht ge⸗
weſen, anjetzo anfangen, ſich allmählich einzu:
ſchleichen, das darinnen enthaltene Gift aber
deſto gefährlicher iſt, weil es im erſten Anfe:
hen recht raiſonnabel zu ſeyn ſcheint, und weil
über dieſes ſich Leute finden, die ich jetzo eh⸗
renthalben nicht nennen will, die daſſelbe has
miſcher Weiſe unter die Gelehrten auszubrei—
ten ſuchen; als habe ich gemeint ein nützliches
Werk zu verrichten, wenn ich ſolches der ftu:
87
direnden Jugend entdeckte, damit ſie ſich deſto
5955 beſſer dafür hüten.« Dem Thomaſius aber iſt
»die Ethik nichts anders, als eine Lehre und
Anweiſung, wie ein Menſch feine Affecten gu⸗
berniren ſoll, damit dieſelben nicht vermögend
werden, ihn zu etwas, ſo denen Geſetzen zuwi⸗
der wäre, anzureizen.«
Denſelben Standpunkt in der Philoſophie
verräth auch das zweyte Werk, das er im
Herbſt drucken ließ, und „Einleitung in die
Hofphilofophie« nannte.) Den Titel erhielt
es wol aus der Meynung „daß die Philoſo⸗
phie, die man bisher auf den Akademien zu
lehren gewohnt war, nur für die Schule, die
aber, welche er lehren wollte, auch für das
höhere Geſchäftsleben tauglich ſey. Aber Tho—
maſius war ein deſto ſchlechterer Philoſoph,
jemehr ſeine eigentliche Tendenz die Philoſophie
war; bey ſeinen Kritiken blickt ein heller Geiſt
durch die Polemik hindurch, aber wenn er ſy—
ſtematiſch verfahren will, ſo erhebt er ſich nicht
ſo hoch, daß er nach Spinoza als Philoſoph
) Introductio ad philosopbiam aulicam, seu lineae
primae libri de prudentia cogitandi et ratioci-
nandi.
88
8 angeführt werden dürfte. Ja hätte er ſich in
dieſen Jahren ſeines Lebens mit dieſem nur
eingelaſſen: er hätte vielleicht gefunden, wo
es ihm fehlt; aber da ſein Chriſtenthum ihm
nicht erlaubte, ſich dem ruchloſen Mann, wie
er ihm ſchien, ganz hinzugeben, ſo behielt er
dieſe Ehre einem größern Geiſte auf. In der
Vorrede zu dieſer Einleitung — welche die
Mitte zwiſchen den Carteſianern und Peripa⸗
tetikern halten ſollte — klagt er über den Zu⸗
ſtand der Akademien und den Verfall der Aka⸗
demiſchen Würden, und meynt, das komme
von der unnützen Lehrart: fie zu verbeſſern
ſey ſein Zweck und der Zweck dieſes Buchs,
über deſſen Inhalt er ſchon vorher Vorleſun⸗
gen gehalten hatte, "I, BE aus dem ange⸗
führten Programm erhellt. Das erſte Kapitel
rechnet die philoſophiſchen Secten her von An:
fange der Welt bis auf den Carteſius, weil
der Gegeuſtand doch zur Philoſophie gehört,
und weil, wie wir wiſſen, Thomaſius auf die
Geſchichte der Diſciplinen fo ſehr viel hielt.“)
) Er hatte dazu eingeladen durch ein andres
Programm: Intimatio lection. priv. de pruden-
tia cogitandi et ratiocinandi 1689.
„) Er fängt wirklich vom Anfange der Welt an.
89
>: |
Er kann aber keine Gectenphilofophie leiden,
ſondern ertheilt der eclectiſchen den Vorzug,
weil ſie nicht ſelbſt Lehrſätze behauptet, ſon—
dern nur aus den andern Philoſophieen die
beſten Blumen auswählt; leider vergißt er nur
zu beſtimmen, nach welchem Princip man ſie
für die beſten erkennen ſolle, ob der Geruch
oder die Farbe ſie unterſcheidet; denn das
Kriterium der Wahrheit, welches er im Sten
Kapitel angiebt, (logiſch wahr ſey die Ueber—
einſtimmung des Gedankens mit der gedachten
Sache außer uns; moraliſch wahr ſey die Ule⸗
bereinſtimmung der Worte mit dem Gemüthe)
dürfte ſchwerlich wider den Irrthum ſchützen.
Freylich macht er ſich über ſeine eclectiſche
Philoſophie wol ſelbſt einige Scrupel, aber er
beruhigt ſich mit der bekannten Ausflucht aller
Unphiloſophie, daß die Schwäche des menſch—
lichen Geiſtes nicht weiter zu gehen erlaube,
Adam, ae er, lehrte ſeine Kinder eine ge—
funde und nüchterne Philoſophie; Cain ver—
darb fie ſchon, und da entſtanden fogleich zwey
Secten, die der Sethianer und der Cainitaner
u. ſ. w. — Man muß ſich wundern, daß ein
Mann, der oft ſo hell ſah, zuweilen ſo im
Dunkeln tappt.
9 | |
und meynt, die eclectifhe Philoſophie erford
re doch nur eines Menſchen würdige Bemü⸗
hung, eine andre hingegen eine eſelhafte. 15
*
e:
Auch behauptet er, Plato, Xeno und fogar |
Ariſtoteles ſeyen Electiker geweſen, wahrſchein⸗
lich darum, weil einzelne Sätze — (denn als
ein Ganzes ſah Thomaſius ihre Philoſophie
wol nicht an) — des einen mit einzelnen Sä⸗
tzen des andern zuſammen fallen. Das Den⸗
ken beſchreibt er im 3ten Kapitel alfo: es ſey
eine Handlung der Seele, wodurch der Menſch
oder die Seele im Gehirn etwas über die Bil:
der, die dem Gehirn von der Bewegung dus
ßerer Körper durch die Sinne eingedrückt wer⸗
den, durch eine in Worten beſtehenden Rede
entweder bejahet, oder verneinet, oder fragt. * |
Doch genug und zuviel über ein Werk,
das, ungeachtet der Wahrheit einzelner Sätze,
) Phil, Electica laborem requiret ingenuo homine
dignum, sectaria asininum,
/ 3
*) Cogita io est actus mentis, quo homo vel
mens in cerebro de schematibus motu corporum
externorum per organa sensuum cerebro im-
pressis aliquid per modum discursus et oratio-
nis verbis constantis vel affirmat, vel negat, vel
qua erit.
.
8
.
9
91
auf philoſophiſchen Werth keinen Anſpruch
nach dem Spinoza machen kann! Aber das
dürfen wir nicht unbemerkt laſſen, daß er zu
gleicher Zeit in einem Programm — von den
N Mängeln der heutigen Academteen, beſonders
aber der Jurisprudenz — ein Collegium dispu-
tatorium in ſeinem Hauſe darüber ankün⸗
digte. Der Inhalt des Buchs, dieweil es vom
Gewöhnlichen abwich und mit der göttlichen
e eee auf Einem Grunde ruhte,
(wenn es and rs ein Grund war,) mißfiel ſei⸗
nen Gegnern, die Sprache des Programms,
| das übrigens nichts enthält, was Thomaſius
nicht an andern Orten beſſer und würdiger ge—
ſagt hätte, als in dieſen witzelnden Avertiffer
ment, miß fiel noch mehr: aber das Collegiale—
ſen in ſeinem Hauſe fanden ſie wider die Se:
fehr der Akademie.
Im Anfange des 168gſten Jahrs, das für
das Leben des Thomaſius ſo bedeutend werden
ſollte, als dieſer grade damit beſchäftigt war,
eine Zueignung der letzten ſechs Monate ſei⸗
nes Journals an ſeinen Londesherrn drucken
zu laſſen, in welcher er zwar ſein kühnes Un—
terfangen geſteht, weil er den Kampf gegen die
Gleißnerey und Pedanterey gewagt habe, aber
92
auch ein noch größer Vertrauen auf den Schutz
des Churfürſten an den Tag legt — erhielt
Thomaſius von der Univerfität einen Befehl des
Churfürſten, worin der erſten, auf eine Klage
der philoſophiſchen Facultät und beſonders des
D. V. Alberti, aufgetragen wurde, den Tho⸗
maſius vor ſich zu fordern, ihn über gewiſſe 5
Puncte ſeiner Schriften und über das Colle⸗
gium in ſeinem Hauſe zu befragen, darüber in
Wittenberg erkennen zu laſſen, und ihm dabey
die ſatyriſche Schreibart, den Druck ſeiner
Schriften ohne Cenſur und die Fortſetzung je⸗
nes Collegiums bey einer Strafe von [oo Du-
katen zu unterſagen. Dieſer Befehl kam dem
Thomaſias um ſo unerwarteter, da er ſich in
der letzten Zeit keiner Sünde bewußt war, und
zugleich auf den Schutz des Miniſters Haug⸗
witz ſicher rechnen zu dürfen glaubte; aber er
hätte das Septemberſtück ſeines Journals nicht
vergeſſen ſollen. In dieſem Stück harte er
heftig über den Mißbrauch der Cenſurfreyheit
und die Kenfisgirung neuer Bücher geſprochen;
und dabey, wle er ſelbſt geſteht, auf allerley |
kleine Umftände, Handlungen und Worte, die
man theils wider ihn, theils wider andre be;
ging, und äußerte, mit vielem bittern Spott
angeſpielt, der für uns freylich ſeinen Stachel
95
verlohren hat, der aber feine Gegner deſto
. ſtärker reizen mußte, weil ein jeder ihn vers
i ſtand. Ferner hatte Thomaſtus eben daſelbſt
| Pufendorfs ſchwediſche Geſchichle gegen die er:
bärmlichen Einwürfe »eines vornehmen Man—
4 nes⸗ vertheidigt und beſonders darüber geſpot⸗
tet, daß dieſer geleugnet, ein Theologe habe,
„durch 10000 Thaler beſtochen, den Churfürſten
zu Sachſen zum P. (Prager) Frieden bere—
det.« Dieſer vornehme Mann, den Thoma—
ſius zwar nicht nannte, den aber jeder kannte,
weil er ſeine Worte anführte, war D. Alberti;
1
und über die tosoo Thaler, ſagt er unter an:
dern, ſie ſeyen keine Kleinigkeit, und ſelbſt
Ariſtoteles, under doch das Meſſergeſteck der
Justitiae universalis mit allen eilf Tugenden im
scrinio pectoris hatte, würde bey dergleichen
Stücken aus der ſechſten Bitte haben zugeſte⸗
1 hen müſſen, daß der Menſch ein armer Erden—
FE kloß fey;« durch den Fall ſey feine Natur fo
| verderbt, daß er kaum einer Summe, »die ſo
viel austrägt, als arme Stipendiaten von ih⸗
reen akademiſchen Stipendien erhalten,« zu wi—
leſen, 2 daß M. Gratius ſich ſogar durch eine
Saufen mit Pfannkuchen habe beſtechen laſſen,
em
derftehen vermöge, denn er habe irgendwo ger
94
einen unwürdigen Magiſter zu machen, d en
man deßwegen zum ewigen Andenken den
Pfannkuchen : Magifter genannt. Wirklich
ſollte dieſes in Leipzig vorgefallen 3 we⸗
nigſtens führte ein Magiſter dieſen Ehrenna—
men; und da Alberti zugleich Ephor der Sti⸗
pendiaten war, ſo glaubte er, Thomaſius habe
ihn beſchuldigen wollen, daß er die Kaſſe be⸗
ſtöhle. Thomaſius ſpielt mehrmals auf die
Stipendien an, und man darf ihm wol zu—
trauen, daß er den Alberti, der ihn auf ſo viel:
fache Weiſe kränkte und um Ehre und Brod
zu bringen ſuchte, dabey im Auge hatte: aber
er leugnete, daß dieſes in ſeinen Worten läge,
höchſtens möchte man die Beſchuldigung her⸗
ausbringen, daß Alberti die Gerechtigkeit der
Stipendienvertheilung nach kleinen Geſchenken
abwäge. — Alberti hatte damals die philoſo⸗
phiſche Facultät ſogleich zu der Anklage ver-
mocht; aber die Sache war liegen geblieben |
bis Haugwitz einmal nicht gegenwärtig war.
Sobald Thomaſius den Befehl erhalten
hatte, ſo beſchwerte er ſich über das wider⸗
rechtliche Verfahren bey dem Churfürſten und
legte zugleich dem Oberkonſiſtorium 5 Dres⸗
den in einer anefchseche Fr des Ur⸗
*
IE 2 05 9⁵
ſprungs nnd Wachsthums ihrer Uneinigkeit
eine ſo vollkommne Rechtfertigung ſeines Be—
tragens vor, daß man am Hofe es für beſ—
ſer hielt, beſonders da ſich Thomaſius in zwey
Schreiben an die Miniſter zum Vergleich be:
reit zeigte, ihnen anzurathen, ſich zu verglei-
chen. Alberti, dem es bey der Rechtfertigung
des Thomaſius bange werden mochte, und der
zugleich in der Ferne eine günſtigere Gelegen—
heit ſah, den verhaßten Gegner zu ſtürzen,
ohne daß er nöthig hätte, in ſeiner Blöße her—
vorzutreten, ſchien dazu ſehr bereit, und wuß—
te die ganze Aufrichtigkeit zu heucheln, die dem
Thomaſius eigen war; aber die Forderung,
deren Gewährung er als einen Beweis der Ver—
ſöhnung vom Thomaſius begehrte, iſt nur ein
ſchmähliger Beweis ſeiner gemeinen Seele.
Er verlangte nemlich, daß Thomaſius ihn in
ſeinem Journale einmal loben ſollte; und die—
ſer, der da glaubte, die Welt würde ein ſol—
ches Lob zu ſchätzen wiſſen, verſprach es. Da—
mit ward dieſer Handel geendigt, und der Be—
feht blieb ohne Wirkung.
Unterdeß hatte Thomaſius das Journal
roten ind das Januar- und Februarſtück
drucken laſſen. Sein Geiſt und ſein Scharf
6
ſinn war derſelbe, aber die Methode, in wel—
cher er ihn zeigte, war verſchieden; denn er
veränderte nicht blos den Titel, ) ſondern er
vertauſchte auch die dialogiſche Form mit der
didaktiſchen. In der Vorrede giebt er, (nach—
dem er die Geſchichte ſeines Journals nicht
ohne Witz beſchrieben und ſeine Tendenz, wie
wir ſie angeführt haben, entdeckt hatte,) über
dieſe Veränderung, die ſonſt Verwunderung er⸗
regen könnte, Aufſchluß. Die 0 Geſpräche, ſagt
er, haben zwar den Vortheil, den er vor einem
Jahre davon rühmte, »aber es iſt auch diefer
. Ver⸗
0 Von jetzt an hieß es: Freymüthige, jedoch
Vernunft und Gefegmäßige Gedanken u. s.
w. Da der Scherz und Ernſt alſo aufhörte,
ſo wollen wir nicht unbemerkt laſſen, daß ein
Stück des Journals 2 gute Groſchen, alſo der
Jahrgang Einen Thaler koſtete. Scherz und
Ernſt iſt jetzt nicht ſo wohlfeil. Kommt das
daher, weil die Freymüthigkeit mit ihnen ver—
bunden iſt, die Thomaſius darauf folgen ließ?
oder iſt die Waare im Preiſe geſtiegen? oder
ift der Scherz etwa ernft- und der Ernſt ſcherz⸗
hafter ? oder wiſſen wir den Gehalt beſſer zu
ſchätzen? _
97
Verdruß dabey, daß die Leute ſo verfluchte
und alberne Applicationen auf alle Dinge ma—
chen. Die Leſer haben eine ſo unzeitige Sorg—
fältigkeit, aus einem jeden Umſtand ein Ge—
heimniß zu machen, und Perſonen auszuſuchen,
auf die ein Autor mit aller Gewalt reflectirt
haben ſolle, ob ihm ſolches gleich nie in den
Sinn gekommen. Ich habe keinen Namen
der unterredenden Perſonen erfinden dürfen,
ich habe den Character einer Perſon zu expri—
miren keine dazu gehörige Redensart brauchen
dürfen, ſo hat man alſobald Gloſſen darüber
gemacht, wer der Herr ſey.« Eine andre Un:
bequemlichkeit des Geſprächs, über welche Tho—
maſius klagt, hatte er ſich ſelbſt gemacht: nem—
lich, daß der Autor ſo viel fingiren und erfin—
den müſſe, um Anfang und Zuſammenhang
heranszubringen; dadurch werde man verhin⸗
dert, ſie kurz zu machen: als ob dieſe Erfin—
dungen zum Dialog gehörten; ſie ſind ein
Fehler bey demſelben und keine Zierde. )
) Dieſe Unbequemlichkeit legte fi) Thomafius dar—
um auf, weil er einen Unterſchied machte zwi—
ſchen dem Geſpräch und der unterredung.
„Die unterredungen, ſagt er in der Schrift
G
GB
Dieſe Gründe, ſagt er, hätten ihn bewogen,
künftig über die Bücher »einen Discurs zu for⸗
miten, aber nur über ſolche = denn die ans
dern ſchließt er von feinem Journal aus —
die auf Beluſtigung des Gemüths und recht⸗
1
wider Tenzeln, dünken mich daran ben den
Geſprächen verſchieden zu ſeyn, daß in jenen
entweder gleiche Perſonen, oder doch ſolche
eingeführet werden, die mehr Wein Stande,
als den Sitten und Verſtande nach von eine
ander entſchieden find; in dieſen aber wer⸗
den gemeiniglich Perſonen von ungleichem Ver⸗
ſtande und Sitten eingeführt, deren eine jede
demnach ihren abſonderlichen Character be⸗
kömmt, und die Redensarten nach denſelben
müſſen eingerichtet 5 ſonſt wird ein Ue⸗
belſtand daraus. Daher geſchiehts, daß man
bey den Geſprächen keine Beſchreibung deſſen, g
was zu der Converſation Anlaß gegeben, bey⸗
füget, ſondern man macht nur ſo viel Abſätze
mit den Nahmen, als eine Perſon der andern
antwortet. In Unterredungen aber mahlet
man durch eine anmuthige Beſchreibung den
Leſer die Charactere der Perſonen ab, und
miſcht artige Inventiones ein, um dem Leſer
die Abwechſelung der Gegenſtände angenehm
zu machen.““
7 99
ſchaffene Erbauu g gerit tet find, oder die un:
ter dem Deckmantel einer ſcheinbaren Gelahrt—
heit und Gottesfurcht, Ungelahrtheit und
ſcheinheiliges Weſen zu verbergen und zu ver-
theidigen geſucht.« k Und darin hält er Wort,
nicht nur in dieſen beyden erſten Stücken, fon»
dern auch in den folgenden. Die Recenfionen
einzeln durchzugehen, würde wenig Lob verdie:
nen, zumal da fie, wiewol fie des Thomajiug
nicht unwürdig ſind, eben nichts Neues enthal—
ten, wenigſtens nichts, was man nicht von ih⸗
rem Verfaſſer erwarten würde; aber die recen:
ſirten Bücher geben ihm doch von Neuem Ge⸗
legenheit „ feine Religioſität „oder vielmehr,
(wenn das Wort, obgleich es wahr und be—
zeichnend iſt, nicht fo häßlich und unreligiös
wäre,) ſeinen Proteſtantismus, den man ihm
abſprach, ſeine Liebe für beluſtigende Bücher
zu beweiſen, und zugleich zu zeigen, daß er in
Rückſicht des Naturrechts eigentlich nicht ſehr
weit vom Ziele, wenigſtens ihm viel näher
war, als die meiſten ſeiner Zeitgenoſſen, und
daß nur das Vorurtheil für die Heiligkeit der
Theologie ihn davon abhielt; denn dieſes Vor—
urtheil ſaß um ſo feſter, je früher er es einge—
ſogen, und je freyer er davon zu ſeyn glaub:
G 2
Ico
te. — Was aus W Monaten Einfluß auf
ſein Leben hatte, werden wir beſſer bey Gele⸗
genheit einſchalten, aber das Eine wollen wir
doch bemerken, daß er im Aprilſtück dem D.
Alberti das Lob ertheilte, welches er ihm,
ſeines Lebens Ruhe wegen, verſprochen hatte.
Er that dieſes bey Gelegenheit eines Buchs,
in welchem ein Katholik von den Proteſtanten
in Strasburg ihre Vereinigung mit ſeinen
Glaubensgenoſſen fodert, indem er hofft, es
werde den Proteſtanten nicht an einem gründs
lichen Vertheidiger ihrer Religion fehlen, und
ſagt: des berühmten Leipziger Theologen, D.
Alberti's, gelehrte Schriften, der ſchon vor 20
Jahren feine Derterität habe blicken laſſen,
könnten davon Zeugniß geben. Indeß verrieth
Thomaſius ſpäterhin der Welt, aus guten
Gründen, wie Bern hehe zu dieſem Lo⸗
be gekommen ſey. | .
Aber während der Vergleich zwiſchen Tho:
maſius und Alberti noch untechandelt wurde,
zog ſich in den letzten Tagen des Februars
wider jenen ein mehr drohendes Gewitter zu—
ſammen, deſſen bemerkte Annäherung eben den
Alberti ſo verſöhnlich gemacht hatte, und deſ—
fen Schläge nur ein gewandter Mann, mie
101
Thomaſius vermeiden konnte. Das ganze
theologiſche Miniſterium zu Leipzig nemlich,
aus neun Männern beſtehend, die größ—
tentheils in dem Rufe der Gelehrſamkeit,
der Orthodoxie, und bey dem Volke in
dem der Frömmigkeit ſtanden, verklagten ihn
bey dem Oberkonſiſtorio in Dresden, ohne wei—
ters als einen der ruchloſeſten Menſchen, der
Gott und die Religion verachte, ſeine Lehrer
ſchmähe, das Miniſterium beſchimpfe, indem
er ihre Predigten durch Bilder und Gleichniſſe
lächerlich mache, und ſeinen Beichtvater, von
dem er in denſelben Augenblicken die Abſolu⸗
tion und das heilige Abendmahl empfangen,
ſchrecklich geläſtert habe. Sie ſchloſſen ihre
Eingabe alſo: »da wir erachten können, daß
unſre treue Erinnerung — (die fie aber nie ge:
macht hatten) — bey ihm nichts fruchten, ſon—
dern zu mehrern Calumnien veranlaſſen dürf—
te, zumal zu befahren ſtehet, daß er ein öf—
fentlicher Verächter Gottes und des heiligen
Amts, ſo wir führen, endlich in den verkehrten
Sinn getathen möchte: als find wir genöthigt,
ſolches Ew. ꝛc. zu denunciten, und zu bitten,
Ew. ıc. wollen gnädigſt geruhen und befehlen,
daß dieſer unruhige Menſch zur gebührenden
102
ö Inquisition gebracht, und vac t ſchuldigſter
Abbitte an alle, die er unbillig beleidigt, an⸗
dern, ſo er mit ſündlichen Schriften geärgert, zur
Abſcheu und Warnung exemplariſch beſtrafet,
und das Uebel und große Argerniß aus unfes
rer chriſtlichen Gemeine ausgerottet werde. «
An der Spitze dieſer Ankläger ſtand frey⸗
lich der Name des friedliebenden und ehrwür⸗
digen D. Lehmann, der im Grunde Thomaſius
Freund war; aber die eigentlichen Urheber und
Anführer waren der berühmte Theologe D. Au⸗
guſt Pfeifer, und D. J. Benedict Carpzov, der
nicht minder im Rufe der Gelehrſamkeit ſtand.
Pfeiffer hatte ſchon ſeit längerer Zeit die
Schriften des Thomaſius „nach damahliger
Weiſe, öffentlich auf die Kanzel gebracht, und
gepredigt, um fie bey den Studenten, die das
mals das Kirchengehen noch nicht für überflüs
ßig hielten, herunter zu bringen, und die Volks—
meynung wider den Thomaſius zu erregen. Ur⸗
ſprünglich mochte Pfeifer wol aus wahrer Anhäng—
lichkeit an dem Alten und an Luthers Lehre die
Neuerungen des Thomaſius getadelt haben, und,
da dieſer eben keine Beleidigung ungerächt
hingehen ließ, ſo mochte er manche Anſpielung
in ſeinen Schriften angebracht haben, durch
103
die ſich Pfeiffer gekränkt fühlte: und fo moch⸗
te es endlich zu einer unverſöhnlichen Erbitte—
rung bey ihm gekommen ſeyn, die in ihren
| Äußerungen keine Gränzen mehr kannte. Bey
Carpzov aber, ſeinem Beichtvater, war der er⸗
fie Grund zur Feindſchaft wider den Thoma:
ſius durch ein Scherzgedicht gelegt, welches ein
Student auf die Hochzeit des letztern verfer—
tigt hatte, und durch welches ſich Carpzov be—
leidigt hielt; und dies um ſo mehr, da er
glaubte, Thomaſius ſelbſt habe es gemacht.
Dem unverſöhnlichen Mann genügte keine Er⸗
klärung des Thomaſius; er brachte die Sache
auf die Kanzel, ſetzte ſeinen Groll, den jener
ebenfalls durch Anzüglichkeiten vermehrte,
Jahrelang fort, und ſuchte ihn auszulaſſen,
ſo oft er konnte. Nun hatte Thomaſius in
dieſem Winter eine Schlittenfahrt gemacht;
Carpzodb hatte darauf auf der Kanzel ge—
ſchmäht, und Thomaſius hatte alsdann im
Januarſtück ſeines Journals eine Erzählung
angebracht, die Carpzov auf ſich bezog. |
Thomaſius recenſitte daſelbſt ein Buch, das
von der beſten Secte der Chriſten ſprach,
und viel über die proteſtantiſche Geiſtlichkeit
anzumerken wußte. Er gab zu verſtehen,
104 Mr
es fen eine mißliche Sache, in dem Wespen⸗
neſte der Geiſtlichen zu rühren, und viel beſſer,
daß man der Sache zu wenig, als zu viel
thue. Dabey brachte er als Beweis jene Er—
| zählung an, die er aus einem franzöſiſchen
Werke genommen haben wollte, und worin er
einen alten Geiſtlichen wider Alles, wider je:
des Vergnügen und jede Converſation eines
andern weiſen Mannes auf der Kanzel eifern,
dieſen aber mit der größten Ruhe dabey blei-
ben läßt, und von dem Geiſtlichen ein ſolches
Gemählde von Ungeiſtlichkeit, Rachſüchtigkeit
und Unverſchämtheit entwirft, daß man ſein
Wort: man müſſe ihm, wie einem Betrunke⸗
nen, aus dem Wege gehen, ſehr billig finden
muß. Carpzov, wie geſagt, erkannte ſich in
dieſem Bilde, und daher wurde es dem Pfeifer
leicht, ihn gänzlich auf ſeine Seite zu bringen.
Dieſer zog zugleich einige Sätze, die, aus dem
Zuſammenhang geriſſen, gefährlich klangen, wie
alle dergleichen, und auch offenbar verdreht
waren, wie es gewöhnlich geſchieht, aus Tho—
maſius Journal, erklärte ſie dem Miniſterio,
bezog den einen auf dieſes Mitglied deſſelben,
den andern auf jenes; und dadurch wurde von
einigen, und durch Eifern und theologiſches Toben
U
105
von dem Reſte die Unterſchrift zu jener Ankla⸗
0 erlangt.
Es war ein Glück für 5 Thomaſſus ai
und er erkannte nachher auch ſtets darin die
waltende Gnade der Vorſehung —, daß dieſe
Anklage nicht die erſte wider ihn war. Durch
Alberti's Beſchuldigung, und ſeine Vertheidi—
gung wußte man am ſächſiſchen Hofe und im
Conſiſtorio, daß Leidenſchaften und gekränkte
Hoffart mehr als Liebe für die Wahrheit und
das Recht die Gegner des Thomaſius erfülle;
und daher brachte das Miniſterium, das ſonſt
unendlich weit über ſeinem Gegner im Vor—
theil geftanden hätte, nichts zu Wege, als ei—
nen Befehl, den Thomaſius zu vernehmen und
ſeine Verantwortung einzuſchicken. Thomaſtus
beſchloß mit vieler Beſonnenheit: er wolle ſu—
chen, Zeit zu gewinnen, unterdeß, um die Theo⸗
logen zu beſchämen, ihnen einen gütlichen Ver—
gleich anbieten, übrigens ſich herzhaft, aber
nicht trotzig beweiſen. Und als er darauf
im Termin vor dem Univerſitätsgerichte er:
ſchien, ſo wollte er ſich auf keine Vertheidi—
gung einlaſſen, weil im Conſiſtorialbefehl nicht
ſtehe, daß er perſönlich erſcheinen ſolle; er ha—
be es nur gethan, um ſeinen Gehorſam zu be⸗
106 i N
weiſen, und um eine Abſchrift der Beſchuldi⸗
gungen zu bitten, *) wie auch um Zeit zu ih⸗
ter Beantwortung. Er erhielt zur Antwort,
man wolle darüber berichten. Darauf wandte
er ſich ſelbſt mit einer Supplik an das Con⸗
ſiſtorium, worin er ſich über das Gericht be-
ſchwert, den Zuſammenhang der Sache erzählt,
und ſein Vorhaben enthüllt, ſich Nas mit
ſeinen Gegnern zu vergleichen.
Unterdeß kündigte D. Pfeifer, um 8
Gegner ſobald als möglich zu ſtürzen, weil
ihm der Weg des Rechts zu langweilig ſchien
— (denn er hatte auf jene Denunciation ge⸗
wiß einen andern Befehl erwartet) — ein anti⸗
atheiſtiſches Collegium an in einem lateiniſchen
Programm, worin er über den Atheismus auf
eine ſolche Weiſe ſpricht, und die Gränzen deſ⸗
ſelben ſo weit ausdehnt, daß man ſchwerlich
) Dieſe ad acta gebrachten Beſchuldigungen
ſollten nur die Belege zu dem in der Anklage
ſelbſt angeführten punkten ſeyn, und ſind eben
die, von uns angeführten, Sätze, die D. Pfei⸗
fer aus dem Journal zog. Sie waren ohne
Unterſchrift des Concipienten eingegeben; und
Thomaſius nennt das Ding, eine Schandſchrift,
die lauter Lügen enthalte. — 5
9 *
X
2 Platz e wird, um er
Küche. des Thomaſius verräth, iſt, we
in der Beſchreibung der verſchiedenen Arken
des Atheismus, grade RR Sätze, die man in |
der Anklage wider den Thomaſius aus deſſen
Schriften gezogen haben wollte, hier als athei—
ſtiſch anführte. Sobald Thomaſius davon Nach—
bin e. fo ſtellte er dem Prorector der
Y Be Abſicht vor, und
me, einen „ Mitbürger einer 0
inde zu beſchuldigen? Pfeifer
r ı Gegenfohreiben ſich ſehr über
? ed des Thomaſius, und behaup—
| zumal da er weder ihn noch feine Schrif—
ten genannt, rechtlich zu verfahren; und zu⸗
gleich machte er ſich anheiſchig, für Alles bey
ſeinen Obern verantwortlich zu ſeyn. Darauf
ſandte die theologiſche Facultät ein Schreiben
an das Oberconſiſtorium, in welchem ſie die
Abſicht »ihres lieben collegae, c. des D. Pfei⸗
tete,
77
= -
—
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fest lobt, Zsomafus hin
“ ein gewiſſes Gefühl der Kestticpeit zu v
then ſchien. Das Ober: onfiftorium: biligte
Pfeifers Vorleſungen, aber, obwol es dem Tho⸗
maſius auflegte, zu beweiſen „was er gegen
daſſelbe geſagt hatte, es verordnete 9
nicht die Inquiſition wider ihn; zugteid 0 |
befahl es, daß man ihm die Anklage 125 w
—
Ti
109
| niſteriums mittheilen, und daß er fi in 10
Tagen dagegen verantworten ſollte. Thomas,
ſius ließ ſich dadurch nicht abhalten von einer
| Reiſe, die er ſich zum Pufendorf in Berlin und
dann nach Hamburg zu machen vorgeſetzt hat⸗
| te, aber er ſchickte zuvor eine Bitte um Auf:
ſchub und um andre Puncte, ſeine Sache be—
treffend, ans Conſiſtorium. Während ſeiner
Abweſenheit war ſein bisheriger Beſchützer, der
Miniſter Haugwitz, in Leipzig, und Pfeifer und
Conſorten unterließen nicht, ihn bey demſelben
ſo zu verläumden, daß er wenigſtens irre an
dem Thomaſius ward, und dieſer auf ſeinen
Schutz nachher nicht weiter mit Sicherheit rech—
nen durfte. Nach ſeiner Zurückkunft wurden
ihm von dem Univerſitätsgerichte 14 Tage
(vom Conſiſtorio war ihm ein Monat zuge—
| ſtanden, aber der Befehl wurde dem Ihonia:
N ſius nicht bekannt gemacht) bewilligt, aber der
Concipient jener Anklagepunkte wurde, obwol
Thomaſius wußte, daß es Pfeifer war, nicht
genannt. | |
Thomaſius mußte ſich freylich darein erge—
ben, als D. Pfeifers Collegium wider ihn hö—
hern Orts gebilligt wurde, aber er ertrug es
nicht mit Gleichgültigkeit, die auch keinem
.
110 f *
ehrlichen Mann geziemt, wenn ſein guter Na.
me und ſeine Ehre geſchmäht wird. Deßwe⸗
gen ſchlug er, ſobald er zurück kam, an das
ſchwarze Brett einen Zettel, wodurch Pri⸗
vatvotleſungen über ſeine göttliche Rechtsge⸗
lahrtheit, aber vorher einige öffentliche Vorträ⸗
ge ankündigte über den Unterſchied des Rechts
und der Sittſamkeit (de differentiis justi et de-
cori) zur Vertheidigung ſeiner Ehre; zugleich,
ſagte er, wolle er darin reden über die Natur
des Atheismus und über die wahre Weiſe, ihn
zu widerlegen. Er wählte dazu dieſelbe Stun—
de, in welcher D. Pfeifer ſein Collegium ſchon
ſeit einigen Tagen las. Kaum hatte Pfeifer
davon gehört, ſo ließ er den Anſchlag abrei⸗
ßen, und brachte die Pluralität der theologi⸗
ſchen Facultät dahin, daß fie an das Univerfi-
tätsgericht eine Supplik ſandte, man möchte
dem Thomaſius das Collegium verbieten, weil
ihm, dem Juriſten und Philoſophen, nicht zu⸗
komme über den Atheismus zu leſen. Dies
geſchah; aber weil es mit der Clauſel geſchah,
»da er etwas Erhebliches einzuwenden hätte,
ſolches ad acta zu berichten, « ſo fing Thoma—
ſius, der den Werth einer ſolchen Clauſel kann—
te, ſein Collegium doch an, und die Studenten
7 5 i . 1 111
verließen größtentheils das Auditorium des D.
Pfeifer, um ſich bey ihm zu verſammeln. Er
begann mit dem Spruche aus dem Johannes:
verwundert euch nicht, meine Brüder, ob Euch
die Welt haßt; zeigte an dem Beyſpiele Chri⸗
ſti, Ariſtidis, Socratis, Luthers u. ſ. w., daß
es eben kein Beweis für die Schlechtigkeit ei—
nes Mannes ſey, wenn er viele Feinde habe;
und erzählte dann ſeine Geſchichte und die Ab:
ſicht ſeiner Vorleſungen: nemlich ſeine Ehre
gegen ſeine Feinde zu retten. — Pfeifer aber
berichtete die Sache ſogleich ans Conſiſtorium;
dieſes befahl darauf, daß er das Collegium
nicht leſen ſolle, bevor er ſich nicht gehörig ver:
antwortet hätte. Pfeifer, der aus Mangel an
Zuhörern ſeine Vorleſungen hatte einſtellen
müſſen, kündigte ſogleich in einem triumphiren—
den Tone die Fortſetzung derfelben an, *) Aber,
weil in dem Bonfiftorialbefehl nur vom Colle⸗
gio und nicht von der Einleitung die Rede
) Dies iſt eine Stelle aus dieſer Ankündigung:
proximo die ad majorem Dei gloriam et confu-
sionem Satanae, qui sibi suisque Atheis jugulum
peti videt atque dolet, agrediemur alacriter
evolutionem ipfarum quaestionum.
*
112 | 5 9 80
war, ſo ließ ſich Thomaſius nicht irre machen, |
fondern fagte nur feinen Zuhörern: aus dem
Collegio könne freylich, wegen des Befehls,
nichts werden, aber die Einleitung wolle er
vollenden. Seine wüthenden Gegner bewirk⸗
ten darauf einen. . Befehl, worin dem
Thomaſius die Befolgung des vorigen
(denn man war im Conſiſtorio wol weniger
Juriſt, als Thomafius!) bey einer Strafe von
Funfzig Thalern von Neuem geboten wurde.
Thomaſius ließ ſich von ſeinen Zuhörern be
ſcheinigen, daß er das Collegium nicht zu leſe en
angekündigt und folglich dem Befehl Gehor—
ſam geleiſtet hätte; ſetzte dann ſeine Vorträge
der Einleitung fort, und wandte ſich mit einer
Supplik an das Oberconſiſtorium, die in einem
ſolchen gefaßten und beſonnenen Ton geſchrie—
ben iſt, daß man zwar darin den gehorfamen
Unterthanen, aber auch den redlichen und gröb⸗
lich beleidigten Mann erkennt. Er beweiſ't
darin Pfeifers Unwiſſenheit nnd böſe Abſicht
wider ihn; wundert ſich über den Befehl des
Conſiſtoriums, dem er gleichwol Folge gelei⸗
ſtet, und bittet um Nichts, als daß man ihm
mit ſeinen Gegnern gleiches Recht widerfahren
laffen, ihn wider ihre Beſchuldigungen, ehe
man
113
man eine Execution oder Inhibition gegen ihn
decretire, genugſam hören und nicht einſeitig
den Berichten der Univerſität Glauben bey—
meſſen möchte. N Mit dieſer Bittſchrift verband
er, weil ihm der Befehl des Conſiſtoriums vor—
enthalten war, eine andre, um Zeit, ſich zu
verantworten, zu erlangen, und überſandte
beyde an den Präſidenten des Conſioriums.
Zugleich hatte er einen weitläuftigen Vorſchlag
zur Güte, ſeinem Verſprechen gemäß, an ſeine
Gegner, das Miniſterium, aufgeſetzt, worin er
einigen derſelben zu Gemüthe führt, wie ſie
ſich ohne Urſachen und Recht durch fremde Lei—
denſchaft hätten verwirren laſſen in den An—
ſchlag wider ihn, wie er ihnen dieſes verzeihen
und mit ihnen ruhig, friedlich und freundlich
leben wolle; Anderen ſtellt er vor, indem er
ihnen den Urſprung und die Geſchichte ihrer
Feindſchaft ins Gedächtniß zurück ruft, wie fie
ſich durch Erbärmlichkeiten, Klätſchereyen und
Gemeinheiten hätten verführen laſſen zu Unge—
rechtigkeiten und bitterer Gehäßigkeit, und wie
ihn das aufgebracht und zu Heftigkeiten ver—
leitet habe. Dennoch hielt er es für möglich,
ſich mit Allen zu verſöhnen, nur den Pfeifer
ſchloß er aus, wofern dieſer ihm nicht ſeine
H
114 | |
Beleidigungen abbitten „und ſich bey einer be⸗
ſtimmten Strafe verbinden toller, ihn *
wieder auf der Kanzel zu nennen.
Ehe er aber von dieſem Bols die
Folgen fah, erhielt er vom Conſiſtorio den drit⸗
ten Befehl, auch die Einleitung nicht zu leſen,
bevor er ſich gehörig verantwortet hätte, bey
einer Strafe von 100 Goldgulden. Obwol
nun Thomaſius Zeit gehabt hatte, ſeine Ehre
zu retten, und den Angriffen des D. Pfeifer
"den Stachel zu entreißen, fo machte er feinen
Gegnern doch einen neuen Arger. Er ließ
nemlich die Studenten, wie gewöhnlich, ſich
verſammeln, und fing alsdann ſeinen Vortrag
damit an, daß er freylich jetzt auch nicht mehr
die Einleitung leſen dürfe, daß er aber, um ſie
ſchadlos zu halten, ihnen philoſophiſche Vor⸗
leſungen eröffnen wolle von den Borurtheilen
(de praejudiciis): eine Ausflucht, durch welche
er ſeinen Gegnern entging und den Weg zu
jeder Vertheidigung offen behielt. Da der
Vorſchlag zum Vertrage durch Carpzovs una
verſöhnliche Halsſtarrigkeit ſich aber gänzlich
zerſchlug, und da Thomaſius, auf einen hinter—
liſtigen Bericht der Univerſität, er habe den
Termin zur Vertheidigung verſäumt, den Be⸗
| ; 115
fehl erhielt ’ ſich innerhalb 14 Tage bey 30
Goldgulden Strafe zu verantworten: fo über:
reichte er, nachdem er die Acten erhalten hat⸗
| te, dem Gerichte zwey Schriften, die mit der
ganzen Beſonnenheit und Kunſt des erfahre—
nen Juriſten, mit der Kraft des beleidigten
Mannes, und mit der Würde, welche dem Be:
wußtſeyn des Rechts eigen iſt, verfaßt waren.
In der einen vertheidigte er ſich nachdrücklich
gegen die Beſchuldigungen des Miniſteriums,
ie er alle für Lügen und Verleumdungen er:
klärte und als ſolche zu beweiſen ſich eibot;
in der andern erklärte er ſich über das, was er
ſelbſt in ſeinen Suppliken wider Pfeifer und
die theologiſche Facultät gejagt. Beydes ge:
ſchah im Monat Auguſt, ) und zwar mit ſol⸗
chem Nachdruck und ſolcher Klarheit, daß das
Gericht entweder die Schriften nicht überſandte,
oder das Oberconſiſtorium, weil die Unſchuld
a Wir haben das Datum zu den Factis nicht
f hinzu geſetzt, weil wir glaubten, es läge
wenig daran; die Dauer des Streits iſt aber
darum zu bemecken, damit man in der Fort⸗
ſetzung der Erzählung, beurtheilen mag, wie
weit er des Mannes Seele beſchäftigte, und
wie groß feine Thätigkeit war,
H-2
116 *. N
des Mannes zu einleuchtend und das Gewebe
der Verleumdungen ſeiner Gegner zu enthüllt
war, hielt es fürs Beſte, die Sache bey
Seite zu legen. Zur Verwunderung Al⸗
ler, die Theil daran genommen hatten,
geſchah nichts weiter, und dieſe Verwunderung
war nm fo größer, je heftiger Thomaſius in
den letzten Schriften ſeine Gegner angegriffen
hatte. Jetzt wäre es an ihm geweſen, die
Sache zu betreiben, und wahrſcheinlich würde
es nicht unterblieben ſeyn, wenn nicht Alles
ſtillſchweigend in die alte Ruhe gekommen,
und wenn er nicht ſchon unterdeß von einer
andern Seite in einen neuen Kampf verwickelt
wäre, der nicht minder heftig werden, aber
länger dauern ſollte. Und dieſer Kampf war
es vielleicht, in welchen ſich, ſo wie der erſte
den Alberti dem Außern nach zur Ruhe ge—
bracht hatte, der Grimm ſeiner Gegner ein
wenig beſänftigte, weil fie hofften, ihre Ab»
ſicht würde erreicht werden, ohne daß ſie eben
nöthig hätten, ſich länger der Verachtung der.
Redlichen auszuſetzen.
Wir haben oben angeführt, wie Thoma—
ſius im Decemberſtück ſeines Journals 1688
ein Buch des Herrn Hector Gottfried Maſius,
*
| a |
Königl. Däniſchen Hofpredigers, »über den
Vortheil, welchen die wahte (d. 9 die lutheri,
ſche) Religion den Fürſten gewähre,« nach—
drücklich, aber würdig und mit guten Gründen
recenſirt und beſtritten habe; jetzt wollen wir
die Folgen dieſer Recenſion, wenigſtens den
Anfang derſelben, erzählen, denn ſie ſind gra—
de der Kampf, von welchem wir ſo eben ſpra—
chen. Kaum nemlich war das Stück des Jour⸗
nals gedruckt, ſo überſandte es ein Verwand—
ter des Maſius, der in Leipzig ſtudirte, dem
letztern, und ein zweytes Exemplar erhielt er
von einem Bruder des D. Carpzovs, den wir
oben kennen gelernt haben, zugleich mit einer
Nachricht von den Vethältniſſen in Leipzig,
und von der Geſinnung der theologiſchen und
philoſophiſchen Facultät gegen Thomaſius.
Dem Maſius war es ſo unbegreiflich, als es
vielleicht unerhört ſeyn mochte, daß ein Luthe—
taner einen Lutheraner wegen Behauptungen
tadeln konnte, die er ja eben zum Vortheil
des Lutheranismus vorgebracht hatte, und da
er die Fürſten, weil er ihnen die Gewalt un:
mittelbar von Gott ertheilte, auf ſeiner Seite
zu haben glaubte, ſo trieb der gekränkte theo—
logiſche Stolz den heftigen Mann zur Rache
118
gegen den unverſchämten Nicht Theologen, der
ihn ſo nackt in ſeiner geiſtigen Armuth darge:
ftellt Hatte; zumal da er durch Carpzov wuß⸗
te, daß er dabey auf die treueſte Unterftügung
der vornehmſten Leipziger Gelehrten zählen
konnte. In einem Briefe an feinen Verwand—
ten in Leipzig, der dem Thomaſius durch einen
Zufall in die Hände fiel, ſpricht er davon, daß
nächſtens eine Widerlegung des letztern erfihei-
nen, in welcher er derbe Hiebe erhalten
würde, und die zwar wider ſeinen (des Ma⸗
fius) Willen, aber nicht ohne fein Wiſſen
(ipso quidem non inscio sed tamen invito) ge⸗
ſchrieben würde; in einem zweyten Briefe aber,
an einem ſächſiſchen Miniſter, deſſen Beichtva—
ter er geweſen war, verklagt er gleichſam den
Thomaſius und redet über ihn mit der vorneh⸗
men Verachtung, welche die Ohnmacht in ih—
rer letzten Noth affectirt, als über einen Men—
ſchen, den man keiner Antwort würdigen, ſon—
dern nur zur gebührenden Inquiſition zu zie—
hen fuchen müſſe. Bald darauf überſandte er
jenem Verwandten ein Exemplar der Schrift,“
) Sie führt den Titel: abgenöthigtes Geſpräch
von dem Bande der Religion und Sorietät,
5 BT
in welcher Thomaſius widerlegt ſeyn follte,
Hund in welchem Geiſt (wenn man's anders
Geiſt nennen dürfte) ſie geſchrieben war,
wird man ſchon daraus errathen, daß fie in
Leipzig fo begierig geleſen wurde, daß D. Pfei-
fer ſich nicht entbrechen konnte, ſie zum gro—
ßen Aergerniß ſeiner Gemeine während des
Gottesdienſtes im Beichtſtuhle zu leſen, und
daß er und ſeine Conſorten einen Leipziger
Buchhändler durch Verſprechungen ſeine Ehr—
liebe ſoweit zu benehmen ſuchten, daß er jenes
Exemplar nachdruckte. Es dürfte ſchwer hal⸗
ten, Expectorationen der neuen Zeit, die es
im Schimpfen doch zu einer wahren Virtuoſi—
tät gebracht haben ſoll, aufzufinden, die reicher
an Schimpfwörtern wären, als Herrn Schip—
pings Geſpräch. Zwey Beſchuldigungen waren
es, um welche fich das Ding drehte, und von
welchen man hoffen mochte, daß ſie die Fürſten
wider den Thomaſius aufbringen würden; die
worinnen D. Masii interesse principum circa
Religionem Evangelicam gegen eines neulichen
Scribenten ernſthafte Gedanken vertheidigt
wird, verfaſſet von Peter Schipping Th. C. —
der Verleger hatte ſich geſchämt, ſich zu nen:
nen; auch der Druckort war nicht angegeben.
120
eine, er habe geleugnet, die Majeſtät komme
unmittelbar von Gott; und die zweyte, er
habe die Majeſtät mit Maulſchellen vergli⸗
chen.“) Maſius ließ freylich dem Thomaſius
„) Wir wollen die Stelle, worin dies liegen fol,
aus dem Deremberſtücke des Journals herſetzen,
theils um des Thomaſius Schreibart willen,
theils aber, weil man in ſeiner Beweis und
Disputirart vielleicht einige Ahnlichkeit mit
einem andern großen Deutſchen erkennt, deſſen
Geiſt und Scharfſinn ſich auch ſonſt am ſchön—
ſten in der Polemik zeigte. Der Theologe A,
um dem Obriſten B zu beweiſen, daß das Volk
keine Majeſtät geben könne, weil es ſelbſt
keine habe, ſagt zu dieſem: mein Herr leihe
mir doch eine Tonne Goldes. B. der Herr
wird mir verzeihen, ich habe keine. A. Da
recht, wie ſollte denn der Conſens des Volks
dem Könige die Majeſtät geben, da doch das
Volk keine Majeſtät hat? das, das bleibt mir
unumgeſtoßen. B. Kann mein Herr ſehen oder
zehlen, wie viel ich Ohrfeigen im Schubfacke
habe? A. Wie fragt mein Herr fo wunder:
lich? B. Der Herr ſehe mich an, wo er wol⸗
le, er wird keine Ohrfeigen bei mir finden.
Gleichwol habe ich das Vermögen, einem eher
einen Dienſt mit ſo viel als er will zu leiſten,
121
ſagen: er habe die Schrift nicht geſchrieben
Innd keinen Antheil daran, darum möchte er
(Thomaſius) ihn aus dem Spiele laſſen, falls
er ſie zu beantworten gedächte, ſonſt würde er
5
als mit hundert Thalern. Iſts nicht wahr,
wenn der Herr Röhrwaſſer in ſeinem Hauſe
pätte, und ich ſpreche ihn darum an, ſo kann
er mir den Abfall von feinem Röhrwaſſer zu:
kommen laſſen. A. Warumb nicht? B. Hat
aber der Herr den Abfall ſelbſten? A. Das iſt
aber ein unförmlich Gleichniß zwiſchen der
| Majeſtät und dem Abfall vom Röhrwaſſer.
B. Es iſt eben ſo förmlich, ja noch förmlicher,
als zwiſchen der Majeſtät und einer Tonne
Goldes. Aber damit der Herr ſteht, daß ich
ihm auch ſeinem Begehren nach antworten will,
er 0 da, ich will ihm die Tonne Goldes
geben, ſobald er mir eine Obligation darüber
wird gegeben haben. A. Dazu wollen wir
bald kommen. Ich will ihm gleich eine aufſe⸗
tzen; und ſiehe da hat Er ſie. B. Ehe mir der
Herr ſie giebt, iſt es da ſchon eine Dblige-
tion? A. Mit Nichten, denn ich kann mir ja
ſelbſt nicht verbunden ſeyn. B. So bin ich fie
auch nicht anzunehmen ſchuldig. Denn wie
will mir der Herr eine Obligation geben, wenn
er fie ſelbſt nicht hat? — Wie nur Schip—
122 | 1
genöthigt ſeyn, ſich über feine Angriffe bey ſei-
ner Königlichen Majeſtät von Dännemark zu
beſchweren; aber Thomaſius, der das ange⸗
führte Geſtändniß des Maſius in Händen hat⸗
te, und überdem Ausdrücke wieder fand, wel⸗
che er ſchon aus den erwähnten beyden Brie-
fen kannte, erklärte, wenn das Geſpräch auch
nicht vom Maſtus ſelbſt ſey (wie er doch über—
zeugt war), ſo habe Peter Schipping doch nach
ſeinem Willen und unter ſeiner Auleitung es
verfaßt: darum wolle er es auf ſein Drohen
ankommen laſſen. Er ließ daher im Monate
May und Junius ſeines Journals das ganze
Geſpräch ſelbſt abdrucken, und machte dazu ei⸗
ne Reihe Anmerkungen „ die mit Mäßigung
ping den Thomaſtus beſchuldigte, er habe in
dieſer Stelle die Majeſtär mit Maulſchellen
verglichen, ſo antwortete Thomaſius: Wenn
Peter Schipping alſo argumentirte; Wer Hec⸗
tor heißt, der iſt lutheriſcher Pabſt. Atqui Ih⸗
re Excellenz der Herr Maſius etc. Ergo. Und es
wäre zu allem Unglück ein Bettelvoigt, der
auch Hector hieße, und ich gäbe von ſelbigem
die Inſtanz, wer wollte ſo einfältig ſeyn und
ſagen, daß ich dieſe beyden Hertores mit eins
ander verglichen hätte?
123
und Würde geſchrieben waren, und die es ber-
rathen, daß Thomaſius einen ſolchen pöbelhaf—
ten Angriff gänzlich ignoriet haben würde,
wenn er ſich nicht, in ſeinen Verhältniſſen,
eine Vertheidigung und Rechtfertigung ſchul⸗
dig geweſen wäre. Maſtius aber, der es fühl
te, daß, obwol Ihomafius es nicht gradezn
geſagt hatte, die ganze Welt ihn für den Ber:
faffer des Geſptachs halten mußte, und der
feine innere Schlechtigkeit dadurch beglaubigte,
daß er ſich ſchämte, ſich der Welt in der Ge—
ſtalt zu zeigen, die er doch ſelbſt für die Welt
gebildet hatte — Maſius, bewogen durch die
angeführte Schaam, und aufgehetzt durch ſeine
Leipziger Correſpondenten, glaubte ſich nicht
beſſer reinigen und zugleich an ſeinem Gegner
rächen zu können, als wenn er ſeinen König
dahin brächte, daß er am ſächſtſchen Hofe die
Beſtrafung des Thomaſius verlangte für den
ſchmählichen Angriff auf ſeinen Hofprediger
und für die Kühnheit, mit welcher er verklei⸗
nerlich von der Majeſtät der Fürſten geredet
hatte. Dies geſchah wirklich im Monate Ju-
nius, alſo grade um die Zeit, in welcher der
vorige Handel ſo lebhaft war. Sobald Tho—
maſius von dem Schreiben des Königs Nach—
124
richt erhielt, ſo wandte er ſich mit einer Gup-
plik an das Churfürſtliche Geheimeraths Colle.
gium, und erklärte, daß Maſius ſowol den
König, als den Churfürſten betröge, und bat,
gehört zu werden und um gemeines Recht.
Die Supplik wurde an das Oberconſiſtorium
übergeben, und dieſes ſchickte, indem es der
Supplik nicht erwähnte, einen Befehl an die
Univerfität, den Thomaſius darüber zu verneh—
men, warum er wider die Schrift des Maſius
geſchrieben, und ob und wo er zuerſt von die⸗
ſem angegriffen ſey? Das Gericht der Univer⸗
ſität lud den Thomaſius in Perſon vor ſich;
da aber dies nicht im Conſiſtorialbefehl aus-
drücklich beſtimmt war, ſo glaubte Thomaſius, f
es habe ſeine Vollmacht überſchritten. Darum
fandte er eine zweyte Schrift an das Obercou⸗
ſiſtorium, worin er ſich vollkommen zu verthei⸗
digen ſuchte. Er habe, ſagte er, ſich der Aka⸗
demiſchen Freyheit bedient, nach welcher ein
Gelehrter ſein Urtheil über ein im öffentlichen
Druck erſchienenes Buch fällen dürfe; er habe
freylich die Lehren des Maſius für falſch er⸗
klärt, aber er habe es glimpflich und in der
guten Abſicht gethan, nach ſeinen Kräften den
Religionsfrieden zu erhalten; denn des Mar
125
fing Lehre: die Fürſten müßten, wo nicht aus
Gottesfurcht, doch um ihres zeitlichen Vor—
theils willen die lutheriſche Religion anneh—
men, ſey ſchnurſtracks der Vermahnung des
Apoſtels zuwider, daß man aus der Gottſelig—
keit kein Gewerbe machen ſolle. Auf dieſe
Weiſe fuhr er fort, nnd brachte Alles zu ſei—
ner Rechtfertigung vor, was wir bey Schip—
pings Schrift erzählt haben; endlich denuncir—
te er den D. Pfeifer, weil er dieſes Pasquil in
der Kirche geleſen, und den Buchhändler, der
es nachgedruckt hatte. Aber das Oberconſiſto—
rium befahl demungeachtet von Neuem, daß
er ſich in Perſon vor dem Univerſitätsgerichte
vernehmen laſſen ſolle; Thomaſtus ließ es ge—
ſchehen, aber er führte nichts Neues für ſich
an. Dies war im September, und dies war
das Letzte, was in dieſem Jahre öffentlich für
dieſe Sache gethan wurde; unter der Hand
wollte man freylich den Thomaſius zum Wie—
derruf und zur Abbitte gegen den Maſius
durch allerley Drohungen und Inſinuationen
vermögen: aber er war zu ſehr von der Ge—
rechtigkeit ſeiner Sache überzeugt, als daß er
dem ſchmählichen Vorſchlag hätte Gehör geben
ſollen. |
a
Sonach ſchien dem Thomaſius ein ruhiges
Ende des Jahrs zu erwarten; denn ſeine Leip⸗
ziger Gegner hatten ſich wider ſeine Vertheidi⸗
gung ja nichts vorzubringen getrauet, ‚und la:
fius, ſchien es, mußte durch feine Rechtferti⸗
gung beſchämt werden, falls er der Schaam
fähig war. Aber Ruhe war dem Mann in
dieſem Jahre nicht und in dem folgenden noch
weniger beſtimmt, und neue Ereigniſſe mußten
zu auffallendern Folgen für ſein Leben ſich ver⸗
binden mit dem alten Groll ſeiner Gegner.
Allein ehe wir dieſelben erzählen, wollen wir
hier mit wenigen Worten ſagen, daß der Dop⸗
pelkampf, den Thomaſius beſtehen mußte, nicht
die ganze Thätigkeit ſeines Geiſtes beſchäftigt
hatte. Die Monate Julius, Auguſt und Sep⸗
tember ſeines Journals erſchienen regelmäßig,
und wenn ſie auch eben nichts Wichtiges enthiel⸗
ten, ſo bewieſen ſie doch wenigſtens, daß die Furcht
vor ſeinen Feinden weder ſeine Wahrheitsliebe
zitternd, noch feine Freymüthigkeit ängſtlich ge⸗
macht halte. In der Necenfion des akademi⸗
ſchen Diebs von dem Engländer Abererembi,
und in dem, was er über den Confucius ſagt,
wird ein jeder das ganze Bild des Manns |
wiederfinden, welches er ſich bey den frühern
127
Monaten von ihm gemacht hat. — Zu gleicher
Zeit gerieth Thomaſius auf den Gedanken, weil
er ſahe, daß das Studiren der jungen Leute
in der Regel nur ein zweckloſes Zuſammen—
ſchleppen einzelner Lehren und Regeln war,
die neben einander in ihrem Kopfe lagen, oh⸗
ne ſich zu berühren, zu ergänzen und in ein⸗
b ander einzugreifen, auf den Gedanken — deſ—
ſen Ausführung freylich die Kräfte Eines Man:
nes leicht überſteigen dürfte — durch einen
fortlaufenden Vortrag der Wiſſenſchaften in
der Ordnung, in welcher die eine der andern
am unmittelbarſten die Hand reicht, Einheit
und Zuſammenhang in dieſelben zu bringen,
und auf dieſe Weiſe die jungen Leute für das
Leben zu erziehen. »Denn, ſagt er an einem an—
dern Orte, ein jeder rechtſchaffener weiſer Mann
ſoll die Fundamente von allen Stücken der Weis⸗
heit inne haben, weil ſie alle verknüpft ſeyn;
daher wird man beym Mangel der General—
Grundregeln der Weisheit keine Connexion
bey ihm antreffen, und bleibt bey ihm arena
sine calce,« Aus guten Gründen wählte er ſich
diejenigen aus, die ſich der Jurisprudenz zu
widmen gedachten, “) und kündigte dieſen (am
K. Er will zu ſeinen Auditoren ſolche Leute, die
188
10. Juni) fein Vothaben an, in einem Pros
gramm, in welchem er »der ſtudirenden Jugend
einen Vorſchlag eröffnet, wie er einen jungen
Menſchen, der ſich ernſtlich fürgeſetzt, Gott und
der Welt dermaleins in vita civili rechtſchaffen
zu dienen und als ein honnet und galant hom-
me zu leben, binnen dreyer Jahre Friſt in der
Philoſophie und singulis Jurisprudentiae parti-
bus zu informiren geſonnen fey.« Ob der
Weg, den Thomaſius einſchlägt, der rechte ſey,
ob er nach Einem Princip zu Werke geht, und
ob das, was er vorzutragen gedenkt, ge—
nügt, ) — daran wird wol jeder, der es verſteht,
5 | zwei:
nicht puram putam philosophiam zu ihrem End»
zweck geſetzet, und nach der Heydniſchen irri—
gen Meynung ihr höchſtes Gut in speculatio-
nibus ſuchen, ſondern Kor dermahleins ihre
Philoſophie zu wirklichem Nutz des menſchlichen
Geſchlechts anzuwenden trachten. — Warum
er aber die puren puten Theologen ausſchloß,
iſt leicht zu errathen. 5
) Die Ordnung und die Gegenſtände feines
Collegiums ſollten folgende ſeyn: 1) Von der
Kunſt zu raiſonniren. 2) Von der Hiſtorie.
3) philosophia practica, (Ethik.) 4) De discipli-
na
i 129
zweifeln; aber die Idee zeigt das Streben des
Mannes, und feine Ahndung des Beſſern. Ue⸗
ber dieſen Vorſchlag ſchrieb D. Pfeifer,
um die Zuhörer abzuſchrecken, ohne ſich
0 zu nennen, »ein wohlgemeyntes Gutach—
ten, welches, obwol es manche Erinnerung |
enthielt, die nicht zu leugnen iſt, doch zu ſehr
die Abſicht ihres ergrimmten Verfaſſers ver:
rieth, als daß es auf junge Männer, deren
Sinn für Rechtlichkeit und Gradheit noch nicht
durch Nebenzwecke unterdrückt iſt, hätte Ein⸗
druck machen können. Thomaſtus eröffnete im
Herbſt ſein Collegium mit vielem Beyfall, und
er würde es vollendet haben, wenn nicht neue
na jucundi. 5) Von der Politik. 6) Vom Nutz
der Particulier : Perfonen. 7) Von der Öko:
nomie. 8) von der disciplina decori. 9) Von
der Jratorie, ohn Bong der doctrina interpre-
tandi. 114.18, 13) Von jure privato, - feudali,
public und Ecclesiastico. — — Die disciplina
jucundi ſollte ein Anhang zur Ethik ſeyn, und
dieſe ſollte als Einleitung gleichſam N die Dos
litik betrachtet werden. Wo der Staat die
Sittlichkeit im Großen iſt, da iſt das — wie
es auch die Alten wollten — ganz recht.
A
130
Händel, die wir jetzt erzählen müffen, ihn dar⸗
an gehindert hätten. a 4 0
Im Jahre 1686 waren einige Magiſter in
Leipzig durch die Bemerkung des tiefen Ver⸗
falls des Studiums der Grundſprachen der hei⸗
ligen Schriften, und durch die Ueberzeugung,
daß aus ihnen und nicht aus gelehrten Com⸗
mentaren oder aus ſcholaſtiſchen Spitzfindig⸗
keiten der Geiſt des wahren Chriſtenthums er⸗
kannt werden möge, auf den Gedanken gera⸗
then, der jungen Leuten ſo natürlich iſt, für 5
ſich und in Gemeinſchaft dieſes Studium zu
betreiben, damit der eine dem andern mit
Rath und Hülfe an die Hand gehen und ſo
die Gelehrſamkeit Aller einem jeden zu Theil
werden möchte. Bald nahmen einige Studen⸗
ten an dieſen Übungen Antheil; und da der
ſchöne Sinn der heiligen Schriften, den ſie
früher nicht gefaßt hatten, ſie anſprach, und
die Religioſität ihrer Gemüther erregte, ſo
fühlten fie noch ſchneller, daß ihre Vereinigung
nicht blos ihren Kenntniſſen vortheilhaft wer⸗
den, ſondern auch ihre Gottſeligkeit beleben
und ſtärken könne. Als die Anzahl der Theil:
nehmer größer ward, fo räumte ihnen D. Al:
berti ein Zimmer ein und übernahm ſelbſt das
1 | >
Directorium der Geſellſchaft, die ſich jetzt eige⸗
ne Geſetze machte, und darin ihren Zweck alſo
ausdrückt: zur Ehre des dreyeinigen Gottes,
zum Wachsthum des neuen Menſchen, der
gottſeligen Gelahrtheit, und der erklärenden
Theologie, wie auch zu einem Beyſpiel eines
heiligen Umgangs, die heiligen Bücher des Al—
ten und Neuen Teſtaments in ihren Grund—
ſprachen zu leſen, zu erklären und anzuwen—
den. Bis in dieſes 1689 ſte Jahr wurde das
Collegium alſo fortgehalten. Jetzt kam der
Magiſter, Auguſt Herrmann Franke, der die
Geſellſchaft miterrichtet, aber nachher abwe—
ſend geweſen war, nach Leipzig zurück, und
nahm nicht nur an dieſem Collegio, das man
ein bibliſches nannte, wiederum Antheil, ſon⸗
dern fing auch an, andre Vorleſungen, theils
über Schriften der Bibel, theils über die Hin—
derniſſe des theologiſchen Studiums zu halten.
Er verwarf alle menſchliche Autorität in Er-
klärung der Schrift, legte ſie dar nach dem
einfachen Buchſtaben, und drang nur auf ei:
nen guten Willen, Reinheit des Herzens, Tiefe
des Sinns und auf heilige Andacht. Anfäng—
lich hatte man ihn mehr begünſtigt, denn gehin⸗
dert; als aber ſein religioſer Geiſt die jugend—
J
lichen Gemüther, die für alles Gute und SH
ne fi fo leicht entzünden, und für Alles mit
einem edlen Eifer ſchwärmen, was ihre leben:
dige Phantaſie lebhaft ergreift, aufregte; als
die Studenten in großer Menge in feinen Hör:
faal ſtrömten, und die theologiſchen und Philos
ſophiſchen Vorleſungen, die ihnen bisher Eins
und Alles geweſen waren, unbeſucht blieben:
da fing man an, aufmerkſam zu werden, und
die Sache für gefährlich zu halten, was ſie in
Rückſicht der Theologen und Philofophen‘ denn
auch wirklich war. Und da einige von den
Studenten, aus Mangel an religioſem Gefühl,
oder aus Unwiſſenheit, weil ſie die heiligen
Schriften in der Grundſprache nicht leſen konn⸗
ten, oder aus dem Bewußtſeyn der Unreinheit
ihres Lebens und der ſchnöden Neigung, dieſe
Unreinheit fortzuſetzen, die Lebensweiſe ihrer
Gefährten ungern ertragen, und ſie deswegen,
(weil Franke ihnen die Ausübung der Fröm⸗
migkeit, praxis pietatis, zu zeigen ſich bemühe⸗
te,) mit einem Gpotinamen, (denn hinter dem
Spott verbirgt ſich die Leerheit von ſich ſelbſt)
Frömmler, Pietiſten, genannt hatten: ſo faßte
man dieſen Namen auf, und mit dem Namen
meynte man den Beweis für eine neue Secte
133
zu haben. Die Theologen, unter denen, wie
leicht zu erachten, die Carpzove und Albertis
oben an ſtanden, unterließen nicht, davon al—
lerley Nachrichten nach Dresden und überall
hin zu verbreiten, die im Munde des Gerüchts.
höchſt ſeltſam wurden, und ſie ergriffen die er⸗
ſte Gelegenheit, die neue Secte heimlich zu
denunciren. Darauf erging aus dem Chur—
fürſtlichen Kirchenrath ein Schreiben an die
Univerfität, Erkundigung einzuziehen, wer die
Pietiſten, was ihre Lehre, ihr Thun und ihre
Sitten wären? Dieſer Befehl nun wurde
Veranlaſſung, die Wuth zu offenbaren, mit
welcher man bisher den Beyfall, den die Vor—
leſungen des frommen Franke erhalten, _gefe:
hen hatte; und ſie offenbarte ſich auf eine em—
pörende Weiſe. Anſtatt den Franke etwa zu
befragen über ſeine Abſicht und ſeine Lehre,
brachte die theologiſche Facultät durch allerley
Schändlichkeiten Zeugen wider ihn und ſeine
Genoſſen auf, die zum Theil aus jenen ſchlech—
ten Studenten erwählt ſeyn mochten; man
vernahm dieſe über Artikel, und ihn ſelbſt über
64 andre inquiſikoriſch. Franke, deſſen from—
mes Gemüth durch ein ſo ſchlechtes Betragen
bewegt werden mußte, der aber nicht genug
154
die Rechte kannte, um ſich gehörig felbft zu hel⸗
fen, wandte ſich vertrauungsvoll an den Tho⸗
maſius, der die Unwürdigkeit ſeiner Gegner
aus eigner Sache kannte, und verlangte von
ihm ein rechtliches Bedenken, ob man mit ihm
nach gemeinem Rechte verfahren ſey? Thoma⸗
ſius nahm keinen Anſtand, obgleich ſeine eigne
Lage kritiſch genug war, dem unſchuldig Ver⸗
folgten zu rathen und zu helfen, und ertheilte
ihm ein »Responsum,« worin er das Betragen
der theologiſchen Facultät nicht nur dreiſt mit
allen den ſchwarzen Namen brandmarkt, die
es verdient, ſondern auch zeigt, daß jeder
Schritt in dieſer Sache nicht nur den Charac—
ter edler Männer ſchände, ſondern auch den ge—
meinen Rechten gänzlich zuwider ſey. Er be—
weiſet ihnen aus den Acten, daß fie, die An:
kläger der Pietiſten, ſich nicht entblödet, ihre
Richter zu ſeyn; daß ohne Judicia ſogleich
widerrechtlich mit der Special-Inquiſition an:
gefangen, da dies unerhört ſey und ſie gar
kein Corpus delieti beygebracht; daß die Arti:
kel lächerlich, gottlos, impertinent und heimtü⸗
ckiſch ſeyen u. ſ. w.; ja, er giebt zu verſtehen,
daß zwey Zeugen, die eigentlich nur Klatſche⸗
reyen ausgeſagt hatten, den Acten nach von
135
Carpzob und Alberti und Pfeifer inſpirirt ge:
weſen. Und dieſem Bedenken ſetzte er kühn
ſeinen Namen vor.
Wie dieſes Bedenken aber yo feine Geg:
ner gewirkt haben mag: das braucht nicht ges
ſagt zu werden; und was ſie dawider einwen—
den konnten, iſt auch leicht zu vermuthen: es
ſey ſchon ein Beweis für Frankes ſchlechte Ga:
che, hieß es, daß er ſich an einen ſolchen be⸗
kannten Verläumder, wie Thomaſius, gewen—
det habe! Dieſer aber that nichts, ihren
Grimm zu beſänftigen. Er las vielmehr ſein
Collegium über die Vorurtheile immerfort,
und gab ſeinen Feinden, die durch eine Menge
Späher und Horcher auf ihn lauern ließen,
wol manche Gelegenheit zum neuen Ärger.
Endlich, als er ſeinen Zuhörern das Weſen
der Heucheley beſchrieb und ihnen eine Menge
Kennzeichen angab, woran ein Heuchler zu un⸗
terſcheiden ſey, ſo fühlten ſie ſich dadurch aber—
mals ſo ſehr getroffen, und zugleich ſchienen
ihnen dieſe Außerungen des Thomaſius zu ei:
net neuen Anklage ſo geeignet, daß ſie im An—
fange des 1690ſten Jahrs beſchloſſen, fie nicht
länger zu verſchieben. Dieſe Kennzeichen ſind
auch in der That ſo deutlich, was Thomaſius
136 f
auch gar nicht leugnet, von feinen Gegnern
entlehnt, daß ein jeder an ihnen das Bild er—
kennt, zu welchem ſie geſeſſen hatten; ja ſie
ſind ſogar in den Ausdrücken entworfen, deren
fie ſich gegen ihn, oder er ſich gegen fie
bedient. An ihren Früchten follen die
Heuchler zu erkennen ſeyn, und zu dieſen
Früchten rechnet er z. B., daß ſie ihre Laſter
für Tugend geben, und durch ihre Rachgier
Gottes Ehre befördern zu wollen lügen; »daß
ſie der heiligen Schrift, die alleine die Richt⸗
ſchnur des wahren chriſtlichen Glaubens und
der Gottesfurcht ſeyn ſollte, eine andre Ne—
ben Richtſchnur an die Seite ſetzen, nemlich
menſchliche Autorität, oder von Menſchen ger
machte Glaubensbekenntniſſe, z. B. die Augs⸗
burgiſche Confeſſion, die ſogenannte kormulam
concordiae und was des tollen Zeuges mehr
möchte ſeyn;« daß ſie die, welche andrer Mey⸗
nung wären, verfolgten; daß ſie die wahren
Chriſten, welche auf die Ausübung chriſtlicher
Tugend drängen, als ihre Widerſacher be—
ſchimpften, ſie z. B. Pietiſten nennten, ſie bey
dem Volk verhaßt zu machen ſuchten; daß ſie
mit groben Lügen die wahren Chriſten ange—
ben, fie durch das Zeugniß ihrer Jünger und,
137
Stipendiaten beweiſen wollten, die fie als
Emiſſaren in die Lectionen ihrer Gegner ſen—
deten u. ſ. w. Bey Allem dieſen ſuchte er
Stellen aus dem N. T. als Beweiſe anzufüh⸗
ren, obwol es des Beweiſes nicht bedurfte.
Seine Gegner aber, fobald ihre Horcher ihnen
dieſe Außerungen des Thomaſtus hinterbracht
hatten, ſendeten »im heftigen Eifer über die
in ihren wertheſten Perſonen verletzte Ehre
Gottes« eine Anklage wider ihn nach Dres:
den, worin fie anführten, daß er in feinen Bor:
leſungen von den Borurtheilen, wider feinen
Beruf, die heilige Schrift eigenes Gefallens
nach feinem Kopfe erkläre, das Pietiſtiſche Un:
weſen ungeſcheut vertheidige, und daß er die—
ſes Alles ſeinem Gebrauch nach in deutſcher
Sprache thäte, damit der gemeine Mann deſto
mehr dadurch geärgert werden möchte. 9 Was
Mies vom Oberconſiſtorio aus auf dieſe Ankla—
* Ihomafius hat im Zken Theile der gemiſchten
Händel die Vorleſungen von den Vorurtheilen
ziemlich ausführlich mitgetheilt. Die 2 Beſchul⸗
digungen der Sekte Theologen aber paſſen
nur allein auf die Vörlefüng, die er den roten i
x Februar 1690 hielt, und von der wir die Ausg:
*
züge geliefert haben. 2
138
ge erfolgte, das hängt mit den Folgen eines
andern Handels, der ſich unterdeß entſponnen
hatte, ſo genau zuſammen, daß wir dieſen erſt
erzählen müſſen, ehe wir es anführen können.
Dieſer Handel war folgender. i
Im Jahre 1689 vermählte ſich Herzog
Moritz Wilhelm zu Sachſen ; Zeig mit der
Prinzeſſin Maria Amalie, Friedrich Wilhelm
des Großen, Churfürſtens zu Brandenburg
Tochter und Wittwe des Herzogs Carl von
Mecklenburg Güſtrow. Politiſche Berhältniffe
zwiſchen dem ſächſiſchen Churhauſe und den
fürſtlichen Häuſern machten auch von dieſer
Seite die Verbindung dem Herzog Moritz
wünſchenswerth; aber eben dieſelben verur—
ſachten, daß man ſie am Churhofe ſehr ungern
ſahe. Weil man indeß mit Brandenburg eine
friedliche Nachbarſchaft zu erhalten wünſchte,
ſo wagte man nicht, ſich der Vermählung öf—
fentlich zu widerſetzen; aber man erwartete
und hoffte, daß die Theologen, hinter deren
geiſtliche Maske die Politik ſo gern und ſo oft
ihr weltliches Angeſicht verbarg, im heiligen
Eifer dasjenige zur Ehre Gottes verlangen
| würden, was man dem Vortheil des Churfürſten
ſo zuträglich hielt. Nemlich Herzog Moritz
139
war ein Zweig des ächtlutheriſchen Churhau—
ſes; die Prinzeſſin Maria Amalie hingegen
war der reformirten Kirche zugethan, und die
Sächſiſchen Theologen ſahen ſich ſchon ſeit
langer Zeit an als die beſtellten Pfleger des
Haſſes der Lutheraner gegen die Reformirten
für ganz Deutſchland. Dennoch erſchien erſt
in der Michaels meſſe ein unbedeutendes Büch—
lein, unter dem Titel »der Fang des edlen
Lebens durch fremde Glaubens-Ehe,« das aber
nicht einmal von einem Sächſiſchen, ſondern
von einem Brandenburgiſchen Unterthanen,
| Philipp Müller, Probſt zu Magde⸗
burg, geſchrieben war. Der Verfaſſer hat:
te ſich ſo wenig, als der Verleger genannt,
und auch die fürſtlichen Perſonen, gegen die
es gerichter war, wurden verſchwiegen, aber
der Menſch iſt noch an vielen andern Dingen
kenntlich, als an dem Namen, und ein Fürſt
noch mehr als ein gemeiner. Der Verfaſſer
erklärt ſich darin aufs heftigſte gegen die Ehen
ungleicher Glaubensgenoſſen, und giebt mans
cherley Entſcheidungen, wie man ſich zu verhal:
ten habe, wenn man unchriſtlich genug geweſen
iſt, ſich in Verbindungen der Art einzulaſſen.
Aber die Schlechtigkeit ſeiner Principien, die
149
Verworrenheit feines Räſonnements und die
Unbeholfenheit und Dunkelheit ſeiner Schreib—
art ) würden ſchwerlich dem Thomaſtius eines
Gegenworts würdig geſchienen haben, wenn
nicht die Sache, von welcher die Rede war,
ſo viel Aufſehen gemacht und die Aufmerkſam⸗
keit beyder Confeſſionsberwandten auf ſich ger
zogen hätte. Bey feinen liberalen Grundfägen
aber, nach welchen er jene Vermählung gewiß
) Der Gang wee zur dieſem Bu⸗
che iſt wirklich merkwürdig. Der Reale
geht von dem Spruche aus: 1 keiner lebt
ihm ſelber u. fü w. und ſchärft. es
aufs kräftigſte ein, daß auch es ni
ſem Geſtändniſſe ausgeſchloſſea wären. Bey
dieſer Betrachtung fällt ihm ein Surſt ein, der
ſeine Tochter mit einem katholiſchen Prinzen
nicht habe verheyrathen wollen. Daraus folgt
denn, daß unter die Hinderniſſe der Ehe, auch
der Unterſchied der Religionen gehöre. Dies
bringt ihn natürlich auf den Gedanken, davon
. die Urſachen aufzuſuchen; und das geſchieht
denn auch. — Mancher Schriftſteller ſoll um
den Anfang verlegen ſeyn: der Fehler
— liegt nur da, daß ſie den Uebergang nicht
verſtehen!
14
geen fah,: konnte es dem Thomaſius nicht gleich⸗
gültig ſeyn, wie man darüber dachte, und Mül⸗
lers Schrift gab ihm nur die Veranlaſſung,
darüber ein kräftiges Wort zu ſagen, weil er
wußte, daß bey gewiſſen Stimmungen der Ge—
müther auch das ſchlechteſte und gehäffigfte
| Produkt brgierig geleſen wird, und nicht ohne
Einfluß bleibt. Daher ſchrieb er »Erörterung
der Ehe und Gewiſſens⸗Frage: ob zwey fürſt⸗
liche Perſonen im römiſchen Reiche, deren eine
der Lutheriſchen, die andere der Reformirten
Religion zugethan iſt, einander mit guten Ge⸗
wiſſen heyrathen können? Auf Veranlaſſung
einer fameuſen Schrift, derer Titel: Fang des
edlen Lebens durch fremde ‚Glaubens: Ehe,«
f Nachdem er ſich das Recht, als Juriſt über
dieſe Frage zu urtheilen, nicht ohne bittern
Spott vindicirt hat, ſpricht er von den Unter⸗
ſchiede der Religionen, von den Spaltungen
der chriſtlichen, von dem Verfahren der erſten
Kirche, bey ſolchen Vorfällen, von dem lir:
fprunge der Spaltung zwiſchen den Proteftan:
ten, als welche im Glaubensfundamente Eins
wären, und eben nicht Urſache hätten, ſich ‚ge:
genſeitig zu verdammen, und beſtimmt dann
genau die Gränze feiner Unterſuchung, nemlich,
142
ob eine ſolche Ehe zwiſchen Lutheranern und
Reformirten mit gutem Gewiſſen vollzogen
werden könne. Er erklärt dabey ausdrücklich,
das eine andre Frage, ob ſie vortheilhaft, klug |
und nützlich ſey? von ihm unerörtert bleiben ö
ſolle, und durch dieſe Erklärung hoffte er den
Unwillen des Churſächſiſchen Hofes zu vermei⸗
den. Alsdenn bejaht er die Frage gradezu,
und zeigt, daß eine ſolche Ehe göttlichen und
menſchlichen Rechten gemäß fey, daß die Für⸗
ſten hierin nicht von ihren Theologen abhin—
gen, daß die Stellen der Bibel, welche in Mül.
lers Schrift dawider angeführt waren, nicht
paßten, und widerlegt endlich ber e ſo
weit ſie hierher gehörte.
Während er dieſe Schrift ausarbeitete wur⸗
de ihm von einem vornehmen Refotmirten ei.
ne Disputation “) von einem Wittenbergiſck en
Theologen, D. Caspar Löſcher, gezeigt, in wel⸗
cher dieſer die Unverſchämtheit hatte, nebſt
vielen andern abgeſchmackten Dingen, die Ne:
formirten zu beſchuldigen, ſie lehrten in ihrem
Catechismus, es ſey ihr einziger Troſt im Le:
ben und im Tode, daß ſie nicht zu glauben
) De devitandis haereticis.
143
brauchten, Chriſtus ſey für fie geſtorben; und
im heiligen Eifer hinzu zu ſetzen: der Herr
ſchelte dich Satan! Ein Blick auf die erſte
Frage des Heidelberger Catechismus überzeug—
te den Thomaſius ſo bündig von der groben
Lüge des Manns, daß er ſeiner eignen Ueber⸗
zeugung kaum glauben konnte. Voll Schaam
und Arger über die Frechheit, mit der Löſcher
den Satz völlig umgedreht hatte, feste er fox
gleich eine heftige Stelle gegen ihn in ſeine
Schrift. Er nannte zwar weder ihn noch ſein
Buch; aber er ſprach ſo würdig ſein empörtes
Herz aus, und führte ſeinem Gegner ſo man—
che Stelle des N. T. zu Gemüthe, daß dieſer
Rauf Rache denken mußte, um darin feine
Schmach zu erſticken. Denn zu feiner Ber:
theidigung wußte Caspar nichts anzuführen,
als die elende Ausflucht, er habe die Wanner
tion nicht ſelbſt gemacht,
Gegen das Ende des Jahrs ließ Thoma⸗
ſius das Buch drucken, und widmete es dem
Herzog Moritz. Dieſer ließ ihn ſogleich zu ſich
kommen, erzeigte ihm viele Ehre, und ließ ihm
»ein recht fürſtlich Präſent von hundert
Thalern« auszahlen. Aber ein noch größeres,
von 100 Species-Ducaten, erhielt er von Ber:
144
lin, obgleich er nicht einmal ein Exemplar an
den Churfürſten geſandt hatte. Dies letzte
kann als Beweis dienen, daß Thomaſius blos
aus Wahrheitsliebe und Uleberzeugung dieſe
Eheſache vertheidigte, und nicht etwa in der
Abſicht, wie man wol vermuthen mochte ſich
das Brandenburgiſche Haus geneigt zu machen,
und ſich für den Fall der Noth einen Ausweg
zu eröffnen, wiewol auch dies keinen Tadel
verdienen würde. Die Leipziger und Witten⸗
berger Theologen hatten die Sprache des Tho⸗
maſius nur mit Schmerzen ertragen; dieſe
Schmerzen hatten ſich vermehrt, wie fie die
Belohnungen erfuhren, die er für eine Schrift
wider einen ächtlutheriſchen Theologen erhal⸗
ten hatte; aber am größeſten wurden ſie, als
man in Berlin entdeckte, Müller ſey Verfaſſer
von dem Fang des edlen Lebens, ihn deßwe⸗
gen ohne Weiteres nach Spandau führte, und
in der Bekanntmachung dieſes Vorfalls die
Schrift des Thomaſius ſehr rühmte. Sie rech⸗
neten 1 ihm die Verhaftnehmung Müllers zu, 2
19 0 achte⸗
) Dazu hatten fie nach dem Erzählten bienbar-
feinen Grund, wol aber verdankte Müller im
Jahre 1691 dem Thomaſtus ſeine Beſreyung.
Wenig:
145
achteten ſich für verbunden, »zur Beförderung
göttlicher Ehre und zur Vertheidigung ihrer
formulae concordiae ihn wenigſtens in gefäng—
liche Haft zu bringen,« und, ſetzt er hinzu,
»fie würden einen Faſt-, Buß- und Bettag
wider mich ausgeſchrieben haben, wenn ſie nur
gedurft hätten.« Man hatte jetzt mehr Hoff:
nung, als je, ihn zu ſtürzen: einmal war das
Oberconſiſtorium fo oft des Thomaſius wegen
von mehreren Seiten behelligt, daß es endlich
wol mißtrauiſch gegen ihn werden mußte;
zweytens war ein Carpzob, Samuel Benedict,
Mitglied deſſelben, und ſein Haß gegen den
Thomaſius war bekannt; und drittens war der
Einzige, der den Tho maſtus bisher ſoweit ge⸗
ſchützt hatte, daß man nicht längſt widerrecht—
lich mit ihm verfahren war, der Oberhofmar—
ſchall Haugwitz, durch ſeine letzte Schrift gegen
ihn aufgebracht, und hatte es laut geſagt,
»Thomaſius habe ſich den Teufel reiten laſſen,
daß er die unkluge Ehe des Herzogs Moritz
vertheidigt habe, und er verdiene dafür nach
Wenigſtens übergab dieſer dem Churfürſten
deßwegen eine Supplik, und nicht lange nach»
5 ber wurde Müller dem Gefängniffe entlaſſen.
K
146
dem Königsſtein geführt zu mwerden.« ) Die
Leipziger Theologen wollten lieber hinter der
Decke bleiben, theils weil es da auf jeden Fall
ſicherer war, theils auch, um den Wittenber—
gern Gelegenheit zu laſſen, ſich als würdige
Verbündete zu beweiſen. Dieſe wagten daher
die Anklage, in welcher fie zwar auch anführ:
ten, daß er wohlverdiente lutheriſche Theolo—
gen in ſeiner Schrift gröblich beleidigt und den
Reformirten geſchmeichelt, und daß er dadurch
ein Brandenburgiſches Interdict gegen die Unis |
) Als dieſer Miniſtex⸗ nach dem Tode Johann
Georgs IV., 1694, ſeine Stelle niederlegen und
ſich aus Sachſen wegbegeben mußte, ſo ſagte
Thomaſins, wenn er jetzt noch von dem r
urtheile der verborgenen göttlichen Gerichte be⸗
fangen wäre, ſo würde er ſagen, der Minis
ſter ſey darum von Gott geſtraft, weil er we⸗
nigſtens causa sine qua non ſeiner Verjagung
geweſen ſey: aber jetzt achtete er ſich ihm per:
bunden, und bedauere ſein Unglück. — Indeß
ſcheint es, daß Thomaſius im Grunde doch
überzeugt war, daß die Zulaſſung feiner Ver—
treibung ein Körnchen in die Waage der rä—
chenden Nemeſis gegen den Miniſter geweſen.
147
verſität Wittenberg veranlaßt habe; aber der
Hauptpunkt war die Beſchuldigung, wofür ſie
gar keinen Beweis würden gehabt haben, wenn
es dazu gekommen wäre, daß er die hohen
Vorfahren ſeiner Churfürſtlichen Durchlaucht
ſchändlich geläſtert habe.)
Dieſe Anklage kam mit der der Leipziger
Theologen wegen des Collegiums von den
Vorurtheilen, von der wir oben ſprachen, zu
gleicher Zeit in Dresden an. Darauf erließ
das Oberconſiſtorium ohne Weiters auf die
Eingabe der Leipziger am 10. May einen Be—
fehl an die Univerſität, den Thomaſius unge⸗
ſäumt vot ſich zu fodern, ihm das Mißfallen
des Churfürſten über feine bisherigen Schritte
zu bezeugen, und ihm bey einer Strafe von
200 Rggfl. alle und jede öffentliche und Pri—
vatvorträge zu unterſagen, wie auch die
Herausgabe irgend einer Schrift zu verbie-
ten. Auf die Beſchuldigungen der Wit—
tenberger hingegen ſoll befohlen ſeyn, ſich ſei—
) Es iſt gunz unbegreiflich wie fie die Unver—
ſchämtheit haben konnten, ſo etwas zu ſagen.
In dem Buche kommt nichts vor, was dahin
5 gedeutet werden könnte.
©
9)
148
ner Perfon zu verſichern. Dieſen letzten Be⸗
fehl hat Thomaſius aber nicht geſehen, denn.
das frühzeitige Triumphjauchzen ſeiner Gegner
rettete ihn. Nemlich ſein Schwager, der Li—
rentiat Rechenberg, der auch fein Lehrer gewe—
fen, war Rector der Akademie. Deßwegen ge:
brauchte man die Vorſicht, dieſem nur den erſten
| Befehl mitzutheilen, den letzten aber, auf daß
Thomaſius nicht gewarnt werden möchte, zu
hinterhalten, und ihn erſt, wenn er vor Ge—
richt erſchiene, zu übergeben, damit er alsdann 1
deſto ſicherer in Verhaft genommen werden
könnte. Thomaſins hatte bisher mit ſeiner
Familie allein von Vorleſungen und Schrif⸗
ten gelebt, aber ſchon im Februar war
ihm der letztere Erwerbzweig abgeſchnitten.
Er hatte ſich nemlich verlauten laſſen, er wolle
ſeine Monate dem Heren Maſius dediciren,
und dieſer, der nicht viel Gutes von ihm er⸗
warten mochte, wirkte durch den Dänis
ſchen Agenten in Dresden den Befehl wider
ihn aus, daß er Nichts ohne Leipziger Cenſur
ſollte drucken laſſen: in Leipzig aber durfte er
nicht hoffen, etwas cenſirt zu bekommen. Als
er daher jetzt Nachricht erhielt von dem einen
Gebote, wodurch ihm auch die zweyte Nah—
149
cungsquelle auf einmal verſtopft wurde, und
das andre wol ahnden mochte, ſo beſchloß er,
ſogleich, dieſem zuvor zu kommen. Er ſchrieb
deßwegen an die Univerſität: er wolle eine
kleine Reiſe machen; man möchte ſein Außen—
bleiben nicht übel nehmen. Seine Gegner, die
vermutheten, er ſey an den Hof gegangen,
und wußten, was er daſelbſt zu erwarten hatte,
hielten ſich ihrer Beute gewiß; er aber ging
nur nach Zeitz, um von dem Herzog Mori
und ſeiner Gemahlin Abſchied zu nehmen, kehrte
dann zurück und reiſete abermals ab, ehe ſie
ſeine Rückkunft ahndeten. Er hatte es längſt
bey ſich ausgemacht, ſich, wenn es nöthig wer—
den ſollte, in den deutſchen Staat zu begeben,
der fo oft, zu feinen Glück und zu feiner Grö—
ße, dem unſchuldig Verfolgten eine ſichere Frey—
ſtatt und einen gaſtfreundlichen Aufenthalt ge:
währte, weil er es weiß, daß er auf einem fee
ſtern Boden ruht, als die Einheit der Mey—
nungen und des Glaubens — in den Bran⸗—
denburgiſchen. Er ſetzte ſich alſo auf die Poſt
nach Berlin; und ehe ſeine Feinde es gewahr
wurden, wie ſie von ſich ſelbſt hintergangen |
waren, und ihn verfolgen laſſen konnten, hatte
er ſchon die Gränze des Landes erreicht, deſſen
150 1
edle Regierung ihn ſchützte gegen ihre ohnmäch⸗
tige Wuth. ) Darauf ließ das Oberconſiſto—
rium in Dresden durch den Schöppenſtuhl in
Leipzig nach den vorgelegten Arten einen Aus:
ſpruch thun, ob Thomaſius die Verhaftung ver—
dient habe? und da dieſer Ausſpruch bejahend
war, ſo ließ es ſeine Mobilien in Beſchlag
nehmen; feine Familie mußte in Leipzig zurüd:
bleiben. | I
Sobald Thomaſius in Berlin angekommen
war, wandte er ſich an die Churfürſtliche Re—
gierung, ſtellte ihr feine Lage por, und bat um
ihren Schutz, und um die Erlaubniß, ſich in
Halle nieder laſſen, und der ftudirenden Ju—
gend, die ſich etwa dort bey ihm verſammeln
möchte, Vorleſungen halten zu dürfen. Chur—
fürſt Friedrich III., der es von ſeinem großen
Vater her wußte, daß es nicht eben die ſchlech—
) Thomaſius erzählt, er habe ſeine Abreiſe gar
nicht heimlich betrieben; er habe 4 Tage vor
ſeiner Reiſe nach Zeitz die Poſt beſtellt, und
öffentlich von einigen Freunden Abfchied ge⸗
nommen. Dennoch hatten ſeine Feinde nichts
gemerkt. Daher war er in ſpätern Jahren
überzeugt, daß Gott ihre Angen verblendet
und ihn ſichtbarlich geſchützt habe.
151
teſten Unterthanen ſind, welche ihres Glaubens
und ihrer Meynungen wegen vertrieben wer—
den, der von dem liberalen Geiſte beſeelt wur—
de, den Preußens Genius allen ſeinen Regen—
ten einhauchte, und der dem Thomaſius (der
einen bedeutenden Freund, Pufendorf, in Ber—
lin hatte) ſchon zum voraus geneigt war,
nahm keinen Anſtand, ihm ſeine Bitte zu be—
willigen. Mit der Erlaubniß, ſich in Halle
niederlaſſen und Collegia leſen zu dürfen, mach—
te er ihn zu ſeinem Rath mit einem Gehalt
von 500 Thlr. jährlich. Thomaſius ſchrieb
darauf nach Leipzig, daß er dem Befehl des
Dresdener Oberconſiſtoriums gehorchen, und
in Leipzig keine Vorleſungen halten wolle.
Aber im April kündigte er in einem lateini—
ſchen Programm *) der Welt an, daß er nach
Trinitatis in Halle Vorträge anfangen würde,
als wohin er Alle einlud, die daran Theil zu
nehmen Willens ſeyn möchten. Dieſe Vorleſungen
fing er denn auch wirklich an, und ſie waren der
Grund, daß zu Halle, wo bisher nur eine Rit—
terakademie, wie man die Schule nannte, gewe—
ſen war, jene berühmte Anſtalt entſtand, der
) Intimatio prima lectionum philosophicarum et
jaridicarum publicarum et privatarum.
152
Friedrich III. — als König J. — die Rechte ei⸗
ner Unjverſität gab, und von der Deutſchland,
berechtigt durch die väterliche Fürſorge Frie⸗
dtich Wilhelms III., Vieles erwartet für das
Wahre und das Gute und das Schöne! Wie
es aber mit ſeinen erſten Vorleſungen in Halle
ausgefallen iſt, das wollen wir den Thoma.
*
ſius ſelbſt erzählen laſſen. Nach mehrern N
Jahren redet er ſeine Gegner unter andern
alſo an: ) »Leget doch einmal eure Blind—
heit ab, und fanget an zu erkennen, daß Gott
wider euch ſtreitet, und daß Er Thomaſium
wider Euch in Schutz genommen, auch alle
Eure Anſchläge wider ihn zu nichte gemacht.
Sehet, da ihr ihn aus feinem Vaterland ver:
jagetet, da ihr durch D S. B. Carpzovium ſo
heftig wider ihn ſchriebet, *) ſprach Gott zu
) In der Apologie, die 1696 erſchien.
9 Dieſer Carpzov, von dem wir ſchon oben
ſagten, daß er ein Mitglied des Conſtiſtoriums
geweſen, oder vielmehr Aſſeſſor, ſollte, wie
ſein College der ehrwürdige Spener, ſeine Ge—
dünnen über den Pietismus dem Churfürſten
eröffnen. Spener that das mit feiner gewöhn⸗
lichen liebevollen Beſcheidenheit und Sanft⸗
muth, Carpzos hingegen mit dem ganzen Ei⸗
153
ihm: du ſollſt geſegnet ſeyn. Er kam nach
Halle und fand keine Zuhörer hier; es war
auch noch lange nicht eine firme und gewiſſe
Reſolution gefaſſet worden, eine Univerſität ſo
geſchwinde hier zu ſtabiliren. Wie ſchmählich
lachetet ihr damals Thomaſium aus und wie
hämiſch ſpottetet ihr ſeiner, er würde die Af—
fen hier ausnehmen. Thomaſius aber ver—
trauete Gott, und ſetzte ſich hieher. Er warb
keine Studenten herzukommen, ſondern notifi—
fer der Rechkgläubigkeit, der den Carpzoven a
eigen war. Bey dieſer Gelegenheit ſuchte er
den Churfürſten von Neuem gegen »den bes
kannten böſen Menſchen Thomafius,« den Spe⸗
ner ganz aus dem Spiele ließ, zu erbittern,
und ſchrieb mit dem fürchterlichſten Grimm
über ihn, damit der Churfürſt von Sachſen
ſich feiner Beſtrafung wegen an den von Brans
denburg wenden möchte. Er ſagt unter an:
dern: ſonderlich hätte D. Thomaſtius, ein no»
toriſcher Erzböſewicht, dieſen Schwarm (den
Pietismus) weil er ſehr bequem zur Verwir⸗
rung der Edvangeliſchen Kirchen und Akade—
mien, deren beyder Feind er ſich in ſeinen
Schand ⸗Chartequen uwe, defendiret. —
Darauf beziehet ſich dieſe Stelle.
5
154
tirke nur ſeine Ankunft. Ihr machtet ihm von
dem Anfange feiner Lectionen durch Eure Crea—
turen ſoviel Hinderniß und Verdruß, als ihr
nur konntet, er fand ſehr wenig, f die ihm zu
helfen und Sr. Churfürſtlichen Durchlaucht
gnädigſte Intention zu befördern ſich angele—
gen ſeyn ließen; ja es waren etliche ſo offen⸗
herzig, daß ſie ihn fragten, ob er denn bey
Anfang ſeiner Lectionen etliche Auditores in
Vorrath hätte, denn hier in Halle würde er
keinen einzigen bekommen. Thomaſius aber
ließ ſich nichts abſchrecken, ſondern fing ſeine
Lectionen in Gottes Namen den Montag nach
Trinitatis A0. 1690 an. Er hatte das erſte
Mal über 50 Auditores, und hat ſie von da
an, ſo lange er alleine hier und noch keine
Reſolution von Aufrichtung einer Univerſität
gefaſſet geweſen, (welches in die anderthalb
Jahre ausgetragen,) nie unter zwanzig, wohl
aber mehr Auditores beſtändig gehabt, die ſei—
ne Lectionen beſucht, oder ſich ſeinetwegen hier
aufgehalten. Gott gab Gnade, daß die ganze
Zeit über, ſo lange er alleine geweſen, kein
Unfug oder Unglück fürgegangen, oder über
einige feiner Zuhörer, die ſich bey ihm inferibis
ren laſſen, das Geringſte wäre geklagt worden.
155
So daß ©. Churfürſtliche Durchlauchtigkeit zu
Brandenburg, als Selbige A0. 1691 aus dem
Carlsbad hierdurch nach Dero Reſidenz ging,
und gewahr wurde, daß eine ſolche und ziem:
liche Anzahl der ſtudirenden Jugend von aller—
hand Ständen ſich bey ihm eingefunden hat—
ten, von dato an gnädigſt ſich refolvirten, das
vorhabende Univerſitäts-Werk feſte zu fegen,
maſſen von der Zeit an auch andere Herren
Profeſſores nach und nach her vocirt wurden. «
Das erſte, was Thomaſius in Halle dru—
cken ließ, war eine Disputation, die er ſeinem
neuen Landesherrn widmete, und die von der
Glückſeligkeit Churbrandenburgiſcher Untertha—
nen wegen der durch ſcharfe Edicte verbeſſerten
Stände, handelte. ) Dieſe kleine Schrift
haucht den Geiſt, von dem von jetzt an mehre—
re Schriften des Thomaſius einen Anſtrich ha—
ben — den Geiſt des Pietismus. Aus einigen
ſeiner frühern Werke könnte es ſcheinen, als
) Sie war latein und hat folgenden Titel: De,
felicitate subditarum Brandenburgensium ob
emendatum per edicta Electoralia statum eccle-
siasticum et politicum, summis lineis ad um-
brata, und iſt im erſten Bande feiner Dissertat.
Academic, die ı8£e.
156 |
ob die unſelige Aufklärerey, der ſich unſer Zeit⸗
alter um ſo mehr zu ſchämen hat, jemehr es
ſich darauf brüſtete, für Deutſchland durch den
Thomaſius ihren cuhmloſen Anfang genommen
hätte. Und es iſt allerdings wahr, daß der
Satz, der ihr zum Grunde liegt, und der an
ſich ganz richtig iſt, von Thomaſius zu:
erſt ausgeſprochen und befolgt wurde: der
nemlich, in Religionsſachen ſchlechthin keine
Autorität anzuerkennen, ſondern alles ſelbſt
einſehen und unterſuchen zu wollen: aber
Thomaſius wollte Licht, das leuchtet und
wärmt, nicht eine kalte Durchſichtigkeit; und
wenn auch die Aufklärerey mit ihm ihren
Anfang nahm, fo hat er ihr das Daſeyn nicht
gegeben. Davon iſt der größte Beweis, daß
die Frömmigkeit der Pietiſten ſo ganz ſeinen
Beyfall hatte; und wenn dies für feine Phi⸗
loſophie eben kein rühmliches Zeugniß wäre,
(obwol es mit der wahrſten Philoſophie beſte—
hen kann) ſo raubt das ſeinem Werth und
ſeinem Verdienſte nichts. Leugnen läßt es ſich
freylich wol nicht, daß ihm eigentlich die Wi:
derwärtigkeiten des Lebens nur ſo empfänglich
machten für die gottſelige Anſicht der Pieti-
ſten: aber ohne jene Widerwärtigkeiten würde
7
} 1
197
er auch vielleicht nie aus ſeiner Jugend Un—
ſchuld gekommen ſeyn; und religios war er
immer. Der Menſch und die Welt ſtehen in
*
einem ſolchen Verhältniſſe zu einander, daß ſte
es gegenſeitig um einander verdient haben,
8 ſie ſich gegen einander äußern: die letzte
geht ihren ewigen Gang und trotzt des Men:
ſchen eingreifender Ohnmacht: er aber hat ei—
ne Zuflucht in ſich ſelbſt, die ihm das Äußere.
gleichgültig macht. Die Freude zu wirken iſt
ergötzend; das Bewußtſeyn, es gewollt zu ha:
ben, genügt. Dies Bewußtſeyn war jetzt des
Thomaſius Eigenthum; ſpäterhin war es jene
Freude, deren Außerung wir ſchon gehört.
Aber zu ſeiner Liebe für den Pietismus
mag auch feine Weiſe zu philoſophiren nicht
wenig beygetragen haben. Wer fromm genug
iſt, ſich Gott und Vorſehung nicht entreißen
zu laſſen: was bleibt dem bey dem Eclecticis—
mus, der nichts begründet, übrig, als die My-
ſtik, in die er ſich vor der Philoſophie ret—
tet? — In der gegenwärtigen Disputation
ſpricht Thomaſius von der Nothwendigkeit ei—
ner Reformation für alle Stände, die er deß—
wegen, und befonders den geiſtlichen, ſchildert.
Dann zeigt er, daß im Brandenburgiſchen ſchon
158
viel zur Verbeſſerung der beyden Hauptſtände,
des geiſtlichen und weltlichen — (der dritte iſt
ihm der Hausſtand) — geſchehen ſey; für je—
nen durch ein Edict Friedrich Wilhelms des
Großen, worin er allen Zank und alle Schmä⸗
hung der Lutheraner und Reformirten gegen⸗
ſeitig ſtreng unterſagt; für dieſen durch einen
*
Befehl Friedrichs III. in welchem das Duelli⸗
ren verboten wird: das letzte mußte dem Tho⸗
mafius bey der Gründung einer neuen Univer—
ſität — denn fo ſah er Halle ſchon an; er
nennt den Churfürſten den Stifter, und dieſe
Disputation die erſte Frucht der Univerſität —
allerdings höchſt wichtig ſeyn: wegen beydes
preif’t er die Brandenburger glücklich. Bey
dem erſten Edicte hatte er auch die Frage auf⸗
geworfen, ob man einem Lutheraner verbiethen
könne, reformirte Predigten zu beſuchen? und
hatte ſie dahin beantwortet, daß ein ſolches
Verbot nicht nur wider die Befehle des Chur—
fürften ſeyn, ſondern auch der lutheriſchen Res
ligion — (welche, Falls ſie die einzig wahre
wäre, ja wohl vor aller Anſteckung ſchützen
müßte) — eben nicht zur Ehre gereichen wür—
de. Er hatte dabey einige harte Ausdrücke
gebraucht, z. B. daß das hölzerne Joch des
159
Pabſithums durch das Lutherthum nur in ein
eiſernes verwandelt ſey. Dies gab Veran-
laſſung, daß er ſogleich wieder in Halle auf
die Kanzeln gezogen, und daß heftig wider ihn
gepredigt wurde, wie aus einer Vertheidigung
der Disputation erhellt, die er wenig Tage
nachher drucken ließ, und worin er ſeinen Geg—
ner mit den Worten Sirachs abwies: verſtehſt
du die Sache, ſo unterrichte deinen Nächſten,
wo nicht, ſo halt dein Maul zu.
Mit demſelben Anſtrich von Pietismus
ſind auch die drey letzten Monate feines our:
nals geſchrieben, die wir eben deswegen nicht
eher angeführt haben, und auch deßwegen
nicht, weil ſie unordentlich erſchienen, und weil
das Decemberſtück, durch die Unruhen, in wel⸗
chen Thomaſius lebte, erſt gegen das Ende
dieſes 169o0ſten Jahrs ausgegeben wurde. Ein
großer Theil der darin recenſirten Schriften
betrifft die Religion, und manche ſogar den
Streit der Pietiſten mit ihren Gegnern. Aber
auch dem Übrigen ſieht man es an, daß es von
einem Manne geſchrieben iſt, der in der Re:
ligiofität der Pietiſten, wenn die regſame Le—
bendigkeit feines Geiſtes auch der frommen Er:
gebung nnd der gottfeligen Beſchauung minder
—
160
fähig war, *) den ſchönſten und ſicherſten Weg
zum Heil der Welr erblickte. Daher ſind ei⸗
nige Außerungen erklärlich, die ſonſt bey ei⸗
nem Mann von einem ſolchen Geiſte, wie Tho⸗
maſius beſeelte, unerklärlich bleiben würden.
Wir ſagen erklärlich, denn wir wollen nicht
entſchuldigen, was nicht zu entſchuldigen iſt.
Aber auch ſo ſind ſie es nur dadurch,
daß jene Überzeugung des Thomaſius, von der
Heilſamkeit der Pietiſtiſchen Anſicht, noch neu
war: denn jede neue Überzeugung verdunkelt
Alles andre durch den Glanz, mit welchem ſie
ſelbſt hervottritt; und dadurch, daß Thomaſius
die Dinge, über welche er ſprach, nicht genug
kannte. Dahin gehört folgende Außerung,
durch welche er einen Autor gegen den Huetius
vertheidigt, der ihn mit großem Recht, und
noch lange nicht hart genug, angegriffen hat⸗
te. »Es iſt die Frage, ob der Verfaſſer deß⸗
| wegen
4
*) In der Geſchichte der Weisheit und Thorheit
ſagt Thomaſiue: ſeine Neigung ſey mehr für
den Democrit, aber ſein Sinn ſey für den He⸗
raclit; denn es ſey menſchlich, die Thorheit
der Welt zu belachen, aber chriſtlich, fie zu
beweinen.
161
wegen eine ewige Schande verdiene, daß er
geſagt, es würde wenig Schade ſeyn, wenn
gleich alle Heydniſche Poeten und Philoſophen
mit Feuer verbrennt würden. Ich getraue mir
gar leichte zu behaupten, (freylich zu behaup—
ten; aber die Behauptung zu beweiſen, wäre
ihm wol unmöglich geweſen!) daß, wenn wir
die Acta Apostolorum und die Kirchengeſchichte
bis auf Conſtantin vollſtändig hätten, wir alle
heydniſche Philoſophen und Dichter, auch den
Livius und Tacitus, wenn wir gleich dieſelben
vollkommen hätten, darum geben follten.«
„Denn, « ſetzt er hinzu, und damit beweiſ't er
ſeinen Glauben an ein Höheres, nach welchem
das Gute nicht verlohren geht, wenn es zu
verſchwinden ſcheint, »die Philoſophie wäre
deßhalben nicht untergegangen, wenn die heid⸗
niſchen Philoſophen wären verlohren worden;
ja«e — und dies erklärt des Thomaſius Ans
ſicht — »wenn die Bücher dieſer Philofophen
nicht geweſen, ſo wären nicht ſo viele Ketze—
reyen in der erſten Kirche entſtanden, ſo hätte
des Teufels liebſtes Schooskind, die ſcholaſti—
ſche Theologie, mit der Vereinigung Chriſti
und Belials nicht ſo viel Schaden in der Chri—
ſtenheit anrichten können;« und darin hat Tho—
L
162 5
maſtus Recht! Überhaupt ift es die Ruchloſig⸗
keit des geiſtlichen Standes, der im blinden
Secteneifer ſeine ganze Thätigkeit erſchöpfte,
und das unreligioſe Chriſtenthum des Zeital⸗
ters, was um ſo mehr ſeinen Unwillen erregt,
je ſchönere Tage er von dem Pietismus, ‚ in
welchem er die Morgenröthe einer i Re⸗
ligion ſah, erwarten mochte. u
Mit dieſem Jahrgange endigte Shomaflus,
fein Journal, das in der Geſchichte deutſchen
Literatur beſtändig merkwürdig bleiben, deſſenFol⸗ f
gen wenigſtens Deutſchland noch empfinden
wird, wenn es ſelbſt und ſein Verfaſſer auch
vergeſſen werden. *) „In der Abdankung, « ſagt
) Sobald Thomaſius das Beyfpiel gegeben hat⸗
te, ſo erſchienen noch in dieſem Jahrhunderte
folgende Zeitſchriften: Monatliche Unterredun⸗
gen von Tenzel, 1689, nachher erhielten ſie
den Titel: Curieuſe Bibliothek. — Ein Un⸗
bekannter ſetzte Thomaſtus Gedanken fort,
aber nur N Monate lang. — Mouvellen
aus der gelehrten und Curieuſen Welt, 1692,
von Zenner, der den Titel bald änderte in:
Parnaß. — Des franzöſiſchen Helicons Monats⸗
früchte von Talandern 1696. — Monatliche
Auszüge von Eccard 1700. — Die gelehrte
163
er, daß es vielleicht mit dem erſten Jahre ge:
ſchloſſen worden wäre, wenn er nicht feinen Geg⸗
nern hätte beweiſen wollen, daß ein Mann,
der Entſchloſſenheit hat und den Schutz ſeiner
gerechten Sache, ſeine Freyheit gegen jeden
Angriff vertheidigen und erhalten müſſe; jetzt
habe er ſie behauptet: und eben deswegen,
weil die Welt dies eingeſtehe, wolle er keinen
weitern Gebrauch davon machen. Dann ent—
ſchuldigt er ſich noch über einzelne Punkte,
und vindieirt ſich das Recht, was er ausgeübt
hatte, ſein Urtheil über Bücher zu fällen: in
gelehrten Dingen, ſagt er, ſollen nicht die
Stimmen gezählt, ſondern der ſoll gehört wer—
den, der's verſteht. 2
Thomaſius dedicirte dieſen Jahrgang ſeir er
monatlichen Gedanken »allen ſeinen Feinden,
inſonderheit aber Herrn Hector Gottfried Maſio.«
In der Zwiſchenzeit nemlich war gegen das
Welt oder unpartheiiſche Conferentien 1700. —
Sa die Aufzahlung der Zeitſchriften des folgen:
den Jahrhunderts dürfen wir uns nicht ein
laſſen; aber eine Geſchichte derſelben wäre
ſehr verdienſtlich, und würde den Geiſt dieſes
Jahrhunderts kennen lehren.
L 2
164
Buch des letztern von einigen reformirten Theo»,
logen ihre Religion, wie es Recht war, ver⸗
theidigt. Sie hatten ſich dabey nicht ſelten
auf den Thomafius. berufen; und Maſtus hat⸗
te in feinen Antworten ) heftig auf dieſen ge⸗
ſchimpft „ ihn einen Pasquillanten genannt,
und geſagt, der König von Dänemark habe
die Monate May und Junius, (worin die
Schippingſche Schrift abgedruckt und beant⸗
wortet war,) verdammt, daß ſie von dem Hen⸗
ker öffentlich verbrannt werden ſollten. Dies
beſtimmte den Thomaſius, einen Gedanken,
den er ehemals nur ſcherzend geäußert hatte,
auszuführen, und ſeinen Monaten eine lange
Zuſchrift an die genannten Herren vor zu ſetzen,
in welcher er ihnen auf ſeine gewohnte Weiſe
»die Haut wäſcht,« ihnen ihre Schlechtigkeit
vorhält, über die angedrohte Verbrennung
ſpottet, weil ja Maſius »ſeine eigne Arbeit,
Schippings herrliches Opus, welches in jenen
Monaten ja auch enthalten, mit verbrennen
laſſen würde, « und ſich darüber freuet, daß er,
weil die beyden Stücke noch nicht verbrannt
wären, das Vergnügen haben konnte, auch ſie
dem Herrn Maſius zu dediciren u. ſ. w. |
„) Befonders in feiner Dania orthodoxa.
165
Ulnterdeß war die Familie des Thomaſius
noch immer in Leipzig, und auf feinen Mobi⸗
lien ruhete der Beſchlag. Er ſchrieb deswegen
im September an das Geheimerathscollegium
in Dresden, legte ihm die Sache von Neuem
vor, wie auch feine jetzige Beſtallung, und bat,
da man nicht auf dem Wege der Rechte mit
ihm verfahren fey, und er ſich zu beweiſen ge:
traue, man habe ihn mit einer peinlichen An—
klage fälſchlich berüchtigt, daß man den Bes
ſchlag von ſeinen Mobilien wiederum aufhe—
ben, und ihm die Anklage der Wittenberger
zuſtellen möchte, damit er feinen ehrlichen Na—
men retten könne. Er erhielt zur Antwort,
der Churfürſt fey abweſend. Deßwegen, und
weil er von dem Ausſpruche des Schöppen—
ſtuhls, er habe die Verhaftung verdient, nichts
wußte, beſuchte er ſeine Familie in der Meſſe:
ihm geſchah auch nichts zu Leide. Um aber,
was er für ein großes Glück des Lebens hielt,
im Kteiſe der Seinigen leben zu können, fo
bat er ſeinen Landesherrn, ſich ſeinethalben in
Dresden zu verwenden. Dies geſchah; aber
Thomaſius erhielt keine andre Antioort, als
daß ihm von einigen Hofleuten kund gethan
wurde, die Acten über ſeine Sache würden
66
verſiegelt aufbewahrt: es würde ihn aber kei⸗
ner hindern, wenn er ſeine Familie und das
Seinige ohne Weiters abholte. Dieſes that
Thomaſius denn auch im Juli 1691, und da
ein neuer Verſuch, das Urtheil der Schöppen,
welches er unterdeß erfahren hatte, aufzuhe⸗
ben, ebenfalls umſonſt geweſen, ſo ließ er die
Sache in Ruhe, bis er nach einigen Jahren,
wie wir alsdann erzählen werden, von Neuem
gereizt, ſich genöthigt ſah, feine Unſchuld der
Welt vor die Augen zu legen. | |
Noch in Leipzig hatte Thomafius eine
Vernunftlehre gefhrieben. die er ſchon in
dem großen Collegio, das einen fortlaufenden
Vortrag aller (dem Juriſten) nöthigen Wiſſen⸗
ſchaften enthalten ſollte, zum Grunde gelegt
hatte. Sein Cenſor aber wollte, wie ſich er⸗
warten läßt, ihm die Erlaubniß des Drucks
nicht ertheilen, unter dem Vorwande, ſie ſey
ja deutſch geſchrieben; und das wäre nichts.
Deßwegen war es dem Thomaſius erſt in dies
ſem 169 1ſten Jahre möglich, fie erſcheinen zu
laſſen.“) Schon 1621 war eine Logik in deut⸗
) Der Titel iſt: Einleitung zu der Vernunft⸗
Lehre, worinnen durch eine leichte, und allen
vernünftigen Menſchen, waſerley Standes oder
167
ſcher Sprache unter dem Titel: Kurzer Begriff
der Verſtandlehre zu der Lehrart, herausgekom—
men, aber die war, ſie mag es verdient ha—
ben oder nicht, ſo ſehr in Vergeſſenheit gera—
then, daß Thamaſius Unternehmen ganz neu
erſcheinen mußte. In der Vorrede ſpricht er
theils über die Einrichtung des Collegiums, theils
über die Gründe, die ihn beſtimmt, dieſes Buch
zu ſchreiben, und ſo zu ſchreiben, wie er gethan;
und erzählt dann die Geſchichte eines Werks
von einem Qartefianer *) gegen feine Einleitung
in die Hofphilofophie, die er gegen ihn zu ver-
theidigen ſucht. Er geſteht, daß ſein Werk
ſelbſt mit dieſer Einleitung ziemlich einerley
Zweck habe, nur mit dem Unterſchiede, daß die:
fe die gemeinen Irthümer habe beſtreiten ſol—
len, jenes aber die Sätze der Wahrheit ſelbſt
aufſtelle; und weil es für das Collegium
nur der Leitfaden ſeyn ſolle, ſo würde es nur
aus Hypotheſen, Definitionen, Axiomen, Pro—
Geſchlechts fie ſeyn, itändiiche Manier der
Weg gezeiget wird, ohne die Syllogiſtica das
Wahre, Wahrſcheinliche und Falſche von ein⸗—
ander zu entſcheiden und neue Wahrheiten zu
erfinden. —
J Rhegini specimen logicae Cartesianae.
168
pofitionen und Obſervationen beftehen. End—
lich geſteht Thomaſius, daß ſeine Vernunftleh⸗
re zwar in manchen Stücken andern Philoſo⸗
phien nahe kommen dürfe, daß ſie aber doch
keiner gleich ſey, ſondern die Mitte zwiſchen
dem Plato, dem Epicur, dem Ariſtoteles und
dem Carteſius halte. Nach dieſen Geſtänd⸗
niſſen möchte man denn allerdings bange mer:
den und eben nicht viel erwarten; aber, da
es nicht zu leugnen iſt, daß Thomaſtus ſeit
ſeiner Hofphiloſophie weiter, obgleich nicht viel
weiter, gekommen iſt, (wobey Tſchirnhauſens
Arzeney ziemlich mitgewirkt haben mag) und
da er zuerſt ſolche Dinge in deutſcher Sprache
vorzutragen wagte, ſo wollen wir einiges aus—
heben, was den jetzigen Standpunct des Tho⸗
maſius bezeichnen dürfte. Ar
Ohne ſich mit ſeiner Philoſophie zu den
bekannten großen Gegenſtänden, wenigſtens
dem Anſcheine nach, zu erheben, welche die
Metaphyſik zum Object zu haben pflegte,
nimmt Thomaſius die Welt und den Men—
ſchen, wie ſie ihm empiriſch gegeben ſind, mit
ihren Tugenden und Fehlern, und fängt im
erſten und zweyten Hauptſtück, wovon jenes
von der Gelahrtheit überhaupt, dieſes aber
169
von der Vernunftlehre beſonders redet, darüber
an zu räſonniren, zu erklären und zu erläu⸗
tern, auf die gewohnte, bekannte und beliebte
Weiſe. Die Gelahrtheit iſt ihm eine Erkennt⸗
niß, durch welche der Menſch das Wahre von
dem Falſchen und das Gute von dem Böſen
zu unterſcheiden vermag; um, wie ſich verſteht,
ſeine und andrer Menſchen Wohlfahrt im ge:
meinen Leben und Wandel zu befördern. Die
Vernunftlehre unterweiſet den Menſchen, ſeine
Vernunft — d. h. dem Thomaſius, die Gedan—
ken überhaupt in Erkenntniß der Wahrheit —
recht zu gebrauchen. Aber die Vernunftlehre
iſt ein Theil der Gelahrtheit, alſo ein Theil
der Erkenntniß der Wahrheit, und wiederum
iſt ſie auch ein Inſtrument derſelben, alſo das
Organ, wodurch dieſe Erkenntniß erkannt wird.
Bey dieſer weitläuftigen Auseinanderſetzung
ſcheint dem Thomaſius der Gedanke vorzuſchwe—
ben: die Wahrheit muß durch ſich ſelbſt er—
kannt werden. Im dritten Hauptſtücke, von
der menſchlichen Vernunft und deren Wirkun—
gen, macht er eine Beſchreibung des Menſchen,
wie er ſie ſchon früher gegeben hat, und
kommt endlich durch eine Vergleichung des
Menſchen mit den Thieren dahin, daß das
1
170
Denken eigentlich den Menſchen zum Menſchen
mache. Das Denken nun iſt ihm noch, wie in
der Hofphiloſophie, »ein innerliches Reden von
den Bildungen, die durch die Bewegung der
äußerlichen Körper, vermittelſt der andern
Gliedmaßen dem Gehirn eingedrückt werden.
Aber er merkt doch, daß es damit nicht gethan
iſt. Nemlich dort vergaß er anzuzeigen, wel⸗
che äußerliche Körper denn durch ihre Bewe—
gung Bildungen in ſein Gehirn drückten, und
zwar ſolche Bildungen, daß ſein innerliches
Reden davon grade dieſe Definition vom Den:
ken, die er doch wol dachte, wurde. Davon
ahndet er etwas, und mochte durch Tſchirnhau⸗—
fen zu dieſer Ahndung gekommen ſeyn. Dep:
wegen fügt er bald hinzu, daß er auch »dieſe
innerliche Rede in ſeinem Gehirn empfinde,
wiewohl dieſe Empfindung viel feiner ſey, als
die, welche von der Bewegung äußerer Körper
herrühren; — (aber wo rührte denn dieſe
her?) — und ſie beſtehe in nichts Anderem,
als daß er bedenke, daß er denfe,« Da das
Denken nur vermittelſt der äußern Sin⸗
ne geſchieht, fo ſchien dem Thomaſius zu
dem Bedenken des Denkens ein innerer Sinn
zu gehören. Zu den äußerlichen rechnet er dar
171
her nicht blos die Organe, die man gewöhnlich
ſo nennt; denn er erklärt ausdrücklich, daß
man nicht darunter ſolche Sinne verſtehen ſol—
le, als auch die Thiere haben; ſondern er rech—
net dazu »eine wirkliche Sinnlichkeit,« worun⸗
ter er nichts anders verſtehen kann, als den
Begriff, der den Objecten gegenüberſteht; der
innere Sinn hingegen iſt das Wiſſen um je—
nen Begriff. Wahrheit iſt nun ein innerlicher
Beyfall des Menſchen, daß ſich etwas ſo ver⸗
halte, als er denket. Dieſen Beyfall ſcheint
Thomaſius zwiſchen die äußern und den in⸗
nern Sinn zu ſetzen, und ihn gleichſam aus
dem Zuſammenfallen beyder entſtehen zu laf:
ſen. Daher heißt die Wahrheit auch eine Ue—
bereinſtimmung der Gedanken und der Beſchaf—
fenheit der Dinge außer den Gedanken. Bey
dieſem Satze ſetzt Thomaſius hinzu: »Du mußt
aber nicht fragen, ob der Verſtand mit den
Dingen, oder die Dinge mit dem Verſtande
übereinkommen müſſen, ſondern dieſe Harmo—
nie iſt ſo beſchaffen, daß keins der andern
Nichtſchnur iſt, ſondern dieſe Harmonie von
beyden zugleich präſupponirt wird. Die
Wahrheit iſt nur eins, obwol es viele Wahr—
heiten giebt. Dies kommt daher: es gibt eine
f 172
erſte Grundwahrheit, (primum principium) die
nicht bewieſen wird, weil ſie keines Beweiſes
bedarf; ſie wird ſchlechtweg und ohne Weiters
eingeſehen. Die Grundwahrheit kann nur Ei⸗
ne ſeyn; denn wären ihrer auch nur zweye,
ſo hätten beyde entweder eine Verknüpfung oder
ſie hätten keine; hätten ſie eine Verknüpfung,
ſo wäre eben dieſe die Grundwahrheit; hät:
ten ſie keine, ſo würde es keine Wahrheit ge⸗
ben, weil die Harmonie nicht entſtehen könnte,
die dazu gehört. Die Grundwahrheit iſt ein
Begriff aller Wahrheiten; alle Wahrheiten
ſind mit der Grundwahrheit verknüpft, und
zwar ſo, daß wer ſie begreifen will, der muß
nicht nur die Grundwahrheit eingeſehen haben,
ſondern auch ihre Verknüpfung mit derſelben
zugleich mitbegreifen. Ja dieſe Verknüpfung
darf nur gezeigt werden, fo iſt gezeigt, daß et:
was wahr ſey: denn der Beweis iſt nichts
anders, als die Darthuung, wie eine Wahr:
heit mit der erſten Grundwahrheit verknüpft
ſey. Was demnach mit der Grundwahrheit
übereinſtimmt, das ſtimmt überein mit den in—
nern und den äußern Sinnen, die als zwey
Ringe in jenem Grundringe hängen, und durch
ihn vereinigt ſind. Was aber vermittelſt die⸗
173
ſer beyden Ringe dem Hauptringe angehängt
wird, das heißt eigentlich bewieſen. |
| 166 Wir könnten dieſe Sätze, die in dem Bu⸗
che ſehr weit aus einander liegen, aber doch
in der Ordnung vorkommen, in welcher wir ſie
größtentheils angeführt haben, noch mit vielen
vermehren, die alle, wie dieſe, eine Ahndung
der höhern Anſicht verrathen, obgleich andre
ſich dagegen finden, die beweiſen, daß es
auch nichts weiter als Ahndung war; aber
wir glauben, dies wird genug ſeyn, um den“
Standpunct des Thomaſtus zu bezeichnen,
wenn wir nur noch die Grundwahrheit (pri-
mum principium) mit ſeinen Worten werden
ausgeſprochen haben. Dieſes Princip, das fo:
ganz unmittelbar eingeſehen, und durch wel⸗
ches jede Wahrheit bewieſen werden ſoll, ift:-
»owas mit des Menſchen Vernunft überein—
ſtimmt, das iſt wahr, und was des Menſchen f
Vernunft zuwider iſt, das iſt falſch;« und das
wird die Bemerkung, die wir ſo eben machten,
beſtätigen. Es iſt in der That nicht leicht, den
Thomaſius — ich möchte nicht ſagen, zu ver⸗
ſtehen, ſondern aus ihm klug zu werden, eben
weil er bald ſo hoch zu ſtehen ſcheint, und
dann auf einmal wieder in die Niederung fällt,
174
ohne daß man weiß, wie die Sache zuſam⸗
menhängt.) — Von den noch nicht ange:
führten Hauptſtücken handelt das vierte, von
den Kunſtwörtern der Logik. In dieſen Ab⸗
ſchnitt nennt er, um dies noch anzuführen, die
Exiſtenz der Dinge dasjenige Objective, wo:
durch der Menſch überhaupt inne wird, daß
etwas ſey; das Weſen aber iſt die Art und
Weiſe, mit der ein Ding empfunden wird: je⸗
ne iſt ſonach dieſelbe, dieſes ſo verſchieden, als
die Dinge ſelbſt, denn fie iſt ja eben ihre Ver
ſchiedenheit. Ein. jedes Ding außer des Men⸗
ſchen Gedanken (ens reale) iſt entweder ein ur—
ſprüngliches, Gott, oder es rühret von dieſem
her. — In den folgenden Hauptſtücken han⸗
delt Thomaſius: von der Wahrheit; von der
erſten und unbeweislichen und von andern un⸗
ſtreitigen Wahrheiten und von der Demonftra:
tion; von den unftreitigen Unwahrheiten; von
den unerkannten Dingen; von den wahrſchein⸗
lichen und unwahrſcheinlichen Dingen; von der
Erfindung neuer Wahrheiten, und von den
Irrthümern und deren Urſprung. — Von der
) Auch Leibnitz ſagt irgendwo, daß feine Philo-
ſophie, die er silvestris et archipodialis nennt,
fo ſchwer zu verfleben fen.
| 175
Syllogiſtik hingegen kommt kein Capitel vor:
Thomaſius hielt nichts auf ſie, und ſelbſt beym
Dispüt wollte er lieber mit Socrates fragen,
als mit den Scholaſtikern Schlüſſe machen.
N Noch in eben dieſem Jahre kam die Aus⸗
übung der Vernunftlehre heraus, deren Zweck
der Titel angiebt: »Ausübung der Vernunft—
lehre oder kurze deutliche und wohlgegründete
Handgriffe, wie man in feinem Kopfe aufräur'
men, und ſich zur Erforſchung der Wahrheit
geſchickt machen, die erkannte Wahrheit andern
beybringen; andere verſtehen und auslegen,
von anderer Meynungen urtheilen und die
Irthümer geſchickt widerlegen folle.« Nach⸗
dem Thomaſius ſich in der Vorrede mit einem
andern Gegner feiner Hofphilofophie abgefun—
den, redet er in fünf Hauptſtücken: von der
Geſchicklichkeit, die Wahrheit durch eignes Nach—
denken zu erlangen, Andern die Erkenntniß des
Wahren beyzubringen, Andere zu verſtehen,
von Andrer Meynungen zu urtheilen, und An
derer Irthümer zu widerlegen; und er giebt in
der That manche gute Lehren für den Hausbe—
darf, die freylich ſeinem Zeitalter neuer ſeyn
mochten, als dem unſrigen, die aber auch jetzt
*
noch Befolgung verdienen und ſtets verdienen
werden.) | | Wie ee
Zu gleicher Zeit las Thomaſius im Som⸗
merhalbenjahre fünf Collegia. Er kündigt ſie
in einem Discurs an, in welchem er über den
Zuſtand von Halle ſpricht. Von andern Aka⸗
demien, ſagt er, ſeyen freylich ſo viele große
Gelehrte hervorgegangen als Männer aus dem
Trojaniſchen Pferde; Halle könne ſich derglei—
chen nicht rühmen, aber es ſey, wie die Natur,
mit Wenigem zufrieden, und dies wenige ſey
ſehr viel, nemlich eine vollkommne Freyheit im
Vortrage und Unabhängkeit von fremder Au⸗
torität. Unter den Collegien ſelbſt iſt, außer
der Fortſetzung des großen, eintz über den deut⸗
ſchen Styl. Es war dem Thomaſius nicht ge⸗
nug, die Sprache ſeines Vaterlandes auf den
Lehrſtuhl gebracht zu haben: »er ſuchte ſie
4114 auch
») Ich babe nur die fünfte Ausgabe die ſes Buchs
erhalten können, die 1719 gedruckt iſt. In die⸗
fer iſt die Sprache merklich fortgerückt. 1711
war ſchon die vierte Auflage erſchienen: ein
Beweis, mit welchem Beyfall das Werk auf
genommen wurde, und in welchem Zuſtande
die Philoſophie geweſen ſeyn mag.
5 =
| 7 177
j
auch von dem Lehrſtuhl herab zur Deutlichkeit
und Artigkeit, d. h. zu einer natürlichen Reis
nigkeit zu erheben, auf daß ſie andern Men⸗
5 ſchen, mit denen wir reden, nicht verdrieslich,
unanmuthig und ungeſchickt vorkomme.« Denn
95 es ſchien ihm »eine große Unförmlichkeit, daß
ein Menſch ſich befleißigen ſollte, in fremden
Sprachen Vollkommenheit zu erlangen, hinge—
gen ungeſchickt wäre, in ſeiner Landesſprache
deutlich und artig zu reden und zu ſchreiben.«
Und doch hatte ihn eine zwölfjährige Erfah⸗
rung gelehrt, daß auch diejenigen unter ſeinen
Zuhörern, »die ihr gut Latein von Schulen
mitgebracht, wenig oder gar kein Teutſch ge⸗
konnt.« Er ließ ſeine Zuhörer Arbeiten in
deutſcher Sprache machen, und dieſe von ihnen
ſelbſt laut vorleſen, damit auch ihre Ausſpra⸗
che und Declamation angenehm und zierlich
werden ſollte. Mit dieſen Vorleſungen aber
verband er andre »über die Erkenntniß guter
Schriftſteller,« in welchen er allgemeine Re:
geln für die Beurtheilung der Bücher aufftell:
te — (die auch in feiner Ausübung der Ver:
nunftlehre vorkommen) —; beſonders aber,
weil er wußte, wie junge Leute mit einer Art
von Verehrung an dem Urtheile der Journali—
M
u
ſten hängen, aus bekannten Ulſachen, und auch
darum, weil es, durch die Feſtigkeit, mit der es
ſich gleich bleibt, und, ſo oft man es wieder
lieſet, durchaus auf dieſelbe Weiſe hervortritt, |
ſich den Schein einer ausgemachten Wahrheit f
und Untrüglichkeit erwirbt, die das veränderte
Wort entbehren muß — beſonders, ſage ich,
ſprach er über die Journale, characteriſirte ih.
ren Geiſt, und ſuchte ſeinen Zuhörern zu be⸗
weiſen, daß es auch eine Beurtheilung der
Beurtheilung gebe. Endlich verband er mit
jenem Collegio eine Disputirübung, wofür er
gleichfalls die deutſche Sprache beſtimmte. —
Für den Winter kündigte Thomaſius Borle-
ſungen über ſeine göttliche Rechtsgelahrtheit
an in einer Rede »über Die. Freyheit der jetzi⸗
gen Zeiten gegen die vorigen, « worin er jene
gegen dieſe ſehr erhebt, nicht ſowol wegen deß,
was fie waren, als was fie zu werden ver:
ſprachen. Der Zuſtand der Studirenden ſey
durch Ausrottung des Penalismus, deſſen Herr⸗
ſchaft er ſelbſt noch erlebt habe, unendlich ver—
beſſert; ſchwerer habe es gehalten mit den
Lehrenden, aber man dürfe doch vieles von ih:
nen hoffen. Nicht nur die Ethik ſey verbeſſert,
— durch Grotius, Pufendorf und ihn ſelbſt —
„„.
fondern die Philoſophie überhaupt habe die
| Ariſtoteliſche Bürde abgeſchüttelt. Die Medi:
ein fange an beſorgt zu ſeyn, nicht nur um
die Wiederbringung der verlohrnen, ſondern
N auch um die Erhaltung der von Gott verliehe—
nen Geſundheit. Die Rechtsgelahrtheit begin:
ne den Jammer der ächzenden Armen zu be⸗
jammern, und »die unterdrückte Gottesfurcht
oder das wahre Chriſtenthum hebe, alles
Schreyens, Läſterns und Tobens der falſch be⸗
rühmten Kunſt unerachtet, ihr Haupt empor,
und der Herr ſtärke den ſchwachen Arm derer,
die auf ihn vertrauen, daß ihre Feinde und
Verfolger vergebens wüten und immer mehr
und mehr mit ihren Köpfen anlaufen und zu
Schanden werden. « |
Auch der Polemik mußte Thomaſius in die:
ſem Jahr ihr Opfer bringen; und er that es,
wo nicht beſſer, doch anſtändiger als jemals.
Oben ift erzähle, wie Thomaſtus feinem Geg⸗
ner, dem D. Maſius den letzten Jahrgang ſei⸗
nes Journals dedicirt, und was er ihm darin
geſagt habe. Nicht lange darauf verkündigte
die Zeitung aus Kopenhagen, daß daſelbſt auf
Befehl des Königs eines Pasquillanten, des
Chriſtian Thomas, Schmähſchriften wider den
0 M2
180
Herrn D. Mafius auf dem Markte durch des |
Büttels Hand cum infamia Autors u) offent⸗
lich verbrannt wären in Gegenwart vieler
Menſchen. Den Befehl dazu hatte M aſius
ſchon im Jahr 1689 ausgewirkt, ſobald Tho⸗
maſius im May den erſten Theil des Schip⸗
pingſchenGeſprächs hatte abdrucken laſſen, ſammt
ſeiner Beantwortung; äber er hatte keinen Ge⸗
brauch davon gemacht, erſtlich weil das ſchon ge⸗
ſchehen war, was er verhüten wollte, nemlich den
Abdruck des zweyten Theils, ſpäterhin auch, weil
er meynte, ſeinen Zweck erreicht zu haben, als
dem Thomaſius verboten wurde, nichts wider
ihn drucken zu laſſen. Als dieſer aber in Halle
ihn in der Dedication ſeiner Monate mit der
Schuld des ganzen Streits, und zwar aus gu⸗
ten Gründen, belud, ſo konnte der aufgebrach—
„) Thomaſtus ſpottete ſpäterhin über die ganze
Geſchichte und erinnerte über dieſen Ausdruck,
er ſey ſo unbeſtimmt in dem Befehle gebraucht,
daß man nicht wiſſe, ob der Autor der Schrif⸗
ten oder der Autor, der den Königlichen Be⸗
fehl ausgewirkt habe, gemeynt ſey? Er fragte
dabey, ob Herr Maſius und fein Peter Schip—
ping gegenwärtig geweſen; und warum wol
dieſer es ſo geruhig geſchehen laſſen, daß auch
fein Geſpräch mit verbrannt worden ſey?
181
f |
te Mann ſich nicht mäßigen, ſondern machte
ſich zum Gelächter der verfländigen Welt.
Sobald Thomaſius die Zeitung erhalten hatte,
ſetzte er eine Schrift auf, welche das Recht der
| Fürſten, Bücher zu verbrennen, unterſuchen
ſollte, aber er wurde abgehalten, ſie bekannt
zu machen. Der Streit nemlich zwiſchen dem
Maſius und den reformirten Theologen war
unterdeß heftig fortgeſetzt, und der erſte hatte
in ſeinem »treuen Lutherthum« die ganze res
formirte Religionsparthey von Neuem auf das
Niedrigſte ihrer Grundſätze und ihres Glau—
bens wegen beſchuldigt. Zugleich aber hatte
er auch ſie mit einer »ähnlichen Illumination“
bedroht. Deßwegen klagten die reformirten
Geiſtlichen den Maſius bey ihren Landesherren
an, und Thomaſius denuncirte zu gleicher Zeit
das Verfahren der Dänen wider ihn dem ſei—
nigen: denn dies glaubte er der Klugheit ſchul—
dig zu ſeyn. Der Churfürſt von Brandenburg
ſchrieb deßwegen an den däniſchen König, und
verlangte, indem er die Anklage und die Be⸗
weiſe der Theologen und die Denunciation des
Thomaſius beylegte, eine Verfügung, die zu
ſeiner und ſeiner Unterthanen Genugthuung
gereichen ſollte. Mafius vertheidigte ſich da:
182 | | | . 5
gegen, indem er vor ſeinem König ſein treues
Lutherthum als das allerchriſtlichſte Werk be⸗ Be
ſchrieb und den Thomaſius von Neuem bes
ſchimpfte, indem er feine Schriften für Schand⸗
ſchriften ausgab, und ſtatt des Beweiſes ſich
der ſchönen Wendung bediente, daß dies allge⸗
mein bekannt ſey, als welche jeden Beweis
überflüßig macht. Darauf ließ dieſer ſein Buch
drucken unter dem Titel: „Attilae Friedrich
Frommholds ) rechtsgegründeter Bericht, wie
ſich ein ehrliebender Scribent zu verhalten BR
be, wenn eine auswärtige Herrſchaft feine ſonſt
approbirte Schriften durch den Henker ver⸗
brennen zu laſſen, von einigen Paſſionirten
verleitet worden, « und ſetzte ihr aus Luthers
Schriften ein Motto vor, das die Welt ihm
ſchwerlich als Beſcheidenheit angerechnet hat.“)
Jer nannte ſich Attila Friedrich, weil ihn die
ſchöne Zuſammenſtellung der Taufnamen des
Maſius ſo luſtig vorkam; dieſer hieß bekannt—
lich Hector Gottfried. Darum nannte Tho⸗
maſtus den Büttel, etwas unpaſſend, Achilles.
*) Facile est Lutherum eximere Bibliothecis; at
non facile illum eximere e pectoribus hominum,
nisi refellantur illius insolabilia argumenta, nisi
contrarium doceat Pontifex sacrae seripturae te-
*
u
| 183
Ih
Er nannte nicht ſeinen Namen, weil er glaub⸗
te, der thue nichts zur Sache: denn er nannte
weder den Maſius, noch ſeine eigene Schrif—
ten, noch was mit ihnen vorgegangen war,
ſondern er blieb ganz bey dem Allgemeinen,
wiewol auch ſo der Unterrichtete Alles verfte:
hen mochte. .
Die Schrift iſt mit Würde und Kraft ge⸗
ſchrieben, und ſagt der däniſchen Regierung
derbe Wahrheiten. Thomaſius geſteht das
Recht, eine Schrift durch den Henker verbren⸗
nen zu laſſen nur dem Landesherrn in dem
Falle zu, wenn ſie eine offenbare Schandſchrift
iſt, oder wenn fie . bey Streitigkeit — einen
Irthum enthält, der offenbar (und nicht etwa
durch ſophiſtiſche Konſequentien herausgekün⸗
ſtelt) die allgemeine Ruhe des Staats gefährs
det: aber einem ausländiſchen Fürſten ſpricht
er das Recht geradezu ab, es wäre denn, daß
er für den Schriftſteller bey ſeinem Landes—
herrn keine Beſtrafung auswirken könnte; und
er nennt es Gewaltthätigkeit, wenn das Verbren⸗
nen dennoch ſogar einem Buche widerfährt,
‚stimonüs. — Nec desunt ingenia, quae flecti
5 eis possunt, terreri fumis non possunt. Veri-
tas nescit opprimi, etiamsi opprimatur Lutherus.
&
184 i , \
von dem es nicht bewieſen iſt. daß es eine
Schandſchtift ſey. Dem Schtiftſteller aber,
der von einem Höhern Gewalt leidet, räth er,
mit Stolz dieſe Beſchimpfung zu verachten,
welches die ſüßeſte Rache ſey, und an den
Spruch eines perſiſchen Weiſen zu denken:
Laſſet die unvernünftige Beſtie wüthen, ſo
lange ſi ſie win. At 1 ſie an zu Weß eren
Zorn.
Auf dieſe Schrift ſandte Maſius eine an⸗
dre in die Welt, um ſie zu beantworten; *)
auch erſchien noch eine von einem Dritten für
den Maſius: ) da aber Thomaſius es ſei⸗
ner unwürdig hielt, auch nur Etwas dagegen
zu ſagen, ſo war dies das Ende ſeines Streits
mit dem Maſius, außer daß er 1624 auch die
Geſchichte der letzten Gch einer Gegner
erzählt.
2 Vernunftgegründeter Bericht, was von einem
Scribenten zu halten, deſſen Schriften durch
den Henker verbrennet — von Aetium Die:
trich Ehrenhold. ' |
„) Christianus minime Christianus, oder das
Ebenbild Christiani Thomasii — von Siegfried
Benzen. 1692.
| 185
| Im folgenden Jahre, 1692, gab Thoma⸗
ſius ein andres zu feinem großen Collegis ge:
höriges Werk heraus, nemlich ſeine Sittenleh—
re. Er gab ihr folgenden Titel: »von der
Kunſt, vernünftig und tugendhaft zu lieben,
als dem einzigen Mittel zu einem gläckſeligen,
galanten und vergnügten Leben zu gelangen,
oder Einleitung der Sittenlehre.« Mehrmals
hatte er, wie wir wiſſen, von den Unvollkom⸗
menheiten der gewöhnlichen Ethiken geſpro—
chen, und beſonders der Ariſtoteliſchen, und die⸗
ſem Mangel wollte er durch eine neuere und
beſſere Anweiſung zur Tugend abhelfen. Daß
ſein Weg neu war, wenigſtens als Sittenlehre,
das leugnete man nicht, und daß er beſſer war
als die, welche man gewöhnlich zu wandeln
pflegte, das wurde von den meiſten feiner Zeit
genoffen anerkannt.) Etwas Scientifiſches
wird man von dem Eklektiker wol nicht er⸗
warten; aber auch von der Idee der Moral,
die darauf ausgeht, alle Moralität, die nur
*) Ein Beweis dafur iſt unter andern wol der,
daß ſchon 1720 die fiebenfe Auflage davon ge—
druckt wurde. Dies iſt diejenige, welche ich vor
mir habe, und iſt in einem faſt ganz reinen
und richtigen Deutſch verfaßt.
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2 e 4 ut 79 9 AU
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186
das Product des Streits zwiſchen Neigung |
und Pflicht iſt, in welchem dieſe den Sieg be⸗
hält, und die aufhören muß, wenn der Streit 1
aufhöret, überflüßig. zu machen; von einem
allgültigen Geſetz, das regierend eingreifen ſoll
in der Menſchen Thun und Wollen bey den
großen, wie bey den kleinen Verhältniſſen des
Lebens — verräth Pe Werk des Thomaſius
auch nicht eine Ahndung. Ja nicht einmal der
Begriff der Pflicht iſt ihm dabeny eingefallen;
ſondern es iſt vielmehr ein wohlgemeyntes, gut⸗
müthiges Räſonnement, das die Menſchen
nicht eben nimmt, wie ſie ſind, eben ſo wenig,
als es ſie zu machen ſucht, was ſie ſeyn ſollen,
ſondern das nach einem gewiſſen Romanideal
die Glückſeligkeit der Menſchen preiſet, die auf
Wackefieldſche Weiſe zufrieden leben in häus⸗
licher Freude, voll Liebe gegen andre Menſchen,
die ihnen gleichen, und voll Gutmüthigkeit ge:
gen ſolche, die ſie nicht leiden können. Ja
man könnte einen guten Theil des Werks, oh:
ne ihm zu nahe zu treten, eine Eheſtandsdis⸗ |
ciplin nennen, das zwar recht gute Menſchen
beſchreibt, das aber nie als Regulativ fürs Le:
ben etwas bedeuten kann. Nemlich Thoma⸗
ſius ſetzt die größte Glückſeligkeit des Men⸗
.
—
187
ſchen — (daß er die Glückſeligkeit aber als
das Höchſte annimmt, was es für den Men⸗
ſchen giebt, dafür wird er nicht nur Entſchuldi⸗
ger, ſondern auch Per diger finden. wie es
; Necht iſt) — in die Gemüthsruhe oder in die
Beluſtigung des Gemüths, dieſe aber läßt
er aus der vernünftigen Liebe ihren Urſprung
nehmen, ſo wie ſie dieſelbige wiederum bewirkt;
und die vernünftige Liebe iſt nicht etwa vom
Willen des Menſchen abhängig, ſondern ſie
kommt und geht, wie es Gott gefällt, ohne
daß ſie ſich erzwingen oder abhalten ließe.
Freylich werden wol einige Regeln dabey ge—
geben, um dies gleichſam einzuſchränken, und
die Liebe vernünftig zu machen: aber damit
wird es ſchwerlich gethan ſeyn. ) Uns ſcheint,
38 Bio meiſten Moraliſten unſerer Zeit wol
nicht einen ähnlichen Fehler begehen? Das Sit⸗
kengeſetz iſt nicht für einen guten Menſchen, denn
nur die Kranken bedürfen des Arztes. Iſt aber
der Menſch nicht gut, wie ſoll er da das Gu⸗
te wollen? Der gute Wille macht ja eben den
Menſchen gut; woher hat er denn dieſen Wil⸗
len, ehe er gut iſt ? Iſt er gut, ehe er gut iſt?
Und wenn ein jeglicher unter den Guten ſeyn
ſollte wie der Wind, von dem man nicht weiß,
188 Na
daß wenn Thomaſius hier auch eine neue 1
Bahn zu brechen glaubte, es doch ein dreyfa⸗
cher Einfluß von Außen war, was ihn, bey
dem richtigen Gefühl der Unzulänglichkeit der
Sittenlehre ſeiner Zeit, auf dieſe Verbeſſerung,
wofür er ſie wenigſtens hielt, gebracht hat:
der Pietismus, Epicurs Philoſophie nach Gaſ⸗
ſendus, und ſeine eigne häusliche Lage in ei⸗
ner Welt, von der er — nach einer Maxime,
die er in ſeiner erſten Schrift ſchon aus⸗
ſprach — der Meynung war, ein weiſer Mann
müſſe das beſte daraus zu machen ſuchen, was
ſich am Schicklichſten daraus machen laſſe.
Was den Pietismus anlangt, ſo ſcheint er
zwar in der Vorrede, und auch im Werke ſelbſt
woher ſein Brauſen kommt, und wohin es
fährt —: wo bleibt da die Moral? Daß die⸗
ſe Frage ſich beantworten läßt, und daß ſie |
ä beantwortet iſt: das weiß ich wol; ich wollte
nur fragen, ob der größte Theil unſerer Mo—
raliſten ſich wol einen Skrupel über derglei—
alſo ob ſte durch
die neuen Veränderungen in der Philoſophie
chen Fragen gemacht habe?
wol weiter gekommen find , als Thomaſtus
war? )
189
die Religion ganz von ſeiner Sittenlehre ab—
zuſondern, aber das widerſpricht unſter Mey—
nung nicht. Er theilt dort die Menſchen in
drey Klaſſen, in Beſtien, Menſchen und Chri⸗
ſten, und ſagt, ſein Zweck und der Zweck der
Sittenlehre ſey nur, die. erften zu den zweyten,
die Beſtien zu Menſchen zu machen, “) dieje—
*) Und zwar find es nur junge Leute dieſer
Art, für die er feine Sittenlehre geſchrieben
hat. „Denn, fagf er, find fie (die noch in
der Beſtialität ſtecken) bey Shen ſo werden
ſie wohl thun, wenn fie meine Sittenlehre
ungeleſen laſſen, indem ich ſte nicht vor ſie
geſchrieben, und wohl weiß, daß es Menſchen
Vermögen übertrifft, einen alten Kerl, der
noch eine Beſtie iſt, aus dieſem Stand heraus—
zureißen.⸗« Eine Beſtie von einem Menſchen
beſchreibt er in einem Programm „vom elen⸗
den Zuſtand der Studenten“ alſo: »fie ſey
derjenige, der wider die Regeln der allen
Menſchen gemeinen Vernunft nicht allein die
Wo lluſt, oder den Ehrgeiz oder den Geldgeiz
ſich täglich hinreiſſen läßt, und, von ihnen
angetrieben, ſchändliche, ſchädliche und liebloſe
Thaten verrichtet, ſondern auch darob einen
Gefallen hat, und immer dichtet und trachtet,
Ben, 2
nigen aber die Chriſten wären — ori
er nicht alle verſteht, die ſich ſo nennen (
ſeyen über die Sittenlehre hinaus; und darin
fühlt er richtiger als die eiften. der neuern
Motraliſten. Aber, ſo wie der Pietismus im
Gemüthe des Chriſten durch den Geiſt göttli⸗
cher Liebe ſchöne Ruhe im Sturm des Le—
bens, kindliche Heiterkeit im Nebel der Welt,
fromme Ergebung beym Wechſel des Schick⸗
ſals, und kurz das, was man die Gottſeligkeit
—
nannte, und worein man das Weſen der Reli⸗
gion ſetzte, entſtehen ließ, fo wollte Thoma⸗
ſius, wie es uns ſcheint, durch den Geiſt
menſchlicher Liebe dem Menſchen jene Gemüths⸗
ruhe erwerben, in die er das höchſte Gut ſetzt,
was der Menſch, ohne Chriſt zu ſeyn, errei⸗
chen könnte, um ihn zu der höhern des Pietis⸗
mus geſchickt zu machen. Das Ideal zu dieſer
Gemüthsruhe aber gab ihm Epicurs, durch Gaſ—
ſendus gerettete, Wolluſt, und dieſes Ideal fand er
wahrſcheinlich am meiſten realiſirt im Schooße ſei⸗
ner Familie. Nun glaubte er ferner alle Leiden:
ſchaften und Neigungen, die, wie er meynt,
wie er in denenſelben es immer höher und
höher bringen möge.
191
jedem Menſchen ohne Ausnahme, nur anders
und anders gemiſcht, beywohnen, in die vier
Klaſſen, des Geldgeizes, des Ehrgeizes, der
Wolluſt und der vernünftigen Liebe eintheilen
zu dürfen; und da ſich keiner dieſer Affecten
nach ſeiner Meynung, ausrotten, aber wol die
Quantität des einen, durch die Vergrößerung
der Quantität des andern, vermindern läßt, ”) fo
) Er ſagt dies ſehr oft. Die vier Hauptaffer⸗
ten, die tauſend Modißcationen fähig wären,
leitet er in der Dedication des Werks an den
Fürſten von Anhalt, von den vier Tempera—
menten her. »Wer ein rechtes Phlegma hat,
iſt der gernihkeigſte Menſch, und muß noth⸗
wendig auch der größten Glückſeligkeit und
der vernüuftigen Licbe fähig ſeyn.““ — (Er
ſcheint hier zu vergeſſen, daß er in einer an⸗
dern Schrift von dieſem Jahre dem Phlegma
Langſamkeit des Verſtandes beylegt: oder iſt
die etwa nöthig zu der größten Glückſelig⸗
keit und der vernünftigen Liebe?) — „Bey
dem Sanguiniſchen iſt Bie Wolluſt die oberſte
Gemüthsneigung. Ein Cholericus iſt ſchon wei—
ter von dem Phlegma entfernet, und bey
demſelben raget die Ehrbegierde über die am
dern Affecten empor. Die Melancholiſchen,
19°
dachte er darauf, den Testen Affect zu erheben
und dadurch die drey erſten zu verſenken. Auf
dieſe Weiſe ſcheint uns ſeine Sittenlehre ent⸗
ſtanden zu ſeyn. ER 7 |
In der Vernunftlehre bac er dis babes
heit beſchrieben als eine Erkenntniß, die nicht 8
nur das Wahre von dem Falſchen, ſondern
auch das Gute von dem Schlechten zu unter⸗
ſcheiden wiſſe; von jener Seite wurde ſie
dort abgehandelt, und hier beginnt er en dies _
ſer. Gut ift überhaupt das, was mit dem An⸗
dern überein kommt, d. h. was das Andre in
ſeiner Dauer erhält und ſein Weſen vermehrt.
Davon iſt die Anwendung auf das, was gut
für den Menſchen iſt, leicht gemacht. An dem
Menſchen iſt Alles gut, denn es ift ihm ja
von Gott gegeben, bis auf den Willen, der
nun einmal nicht gut iſt: denn in ihm iſt der
Urſprung alles Übels. ‚Pens fpielt der Wil⸗
le nachher eine große Rolle. Wie es möglich
iſt, daß er beſſer werde? — die Frage wirft
Thomaſius nicht einmal auf, aber daß er von
Außen, durch andre Menſchen dazu gebracht
werden
gleichwie ſie die wunderlichſten ſind, alſo iſt
der ſtärkſte Trieb bey ihnen zur Geldliebe.«
. 193
. werden müſſe, und daß daher der Menſch für
den Menſchen gut ſey — das ſagt er aus-
drücklich. Wie aber der erſte gute Menſch
gut geworden iſt? das hat er unbeantwortet
gelaſſen. Übrigens verwirft Thomaſius mit
Recht die alte Eintheilung des Guten, (bonum)
in das ehrbare (honestum), nützliche (utile),
und angenehme (jucundum); und behauptet,
daß es nur Ein Gut gebe, welches, von einer
andern Seite angeſehen, einen andern Namen
erhalte. In Rückſicht ſeines Urſprungs (von
Gott) heißt es, wie er ſagt, honestum; in
Rückſicht ſeiner ſelbſt, jucundum; und in Rück⸗
ſicht der Wirkung, utile. Die praktiſche Philo:
ſophie oder die Sittenlehre iſt ihm nichts anders,
»als die Gelahrtheit, die dem Menſchen wei—
ſet, wie er glücklich leben, wie er das höchſte |
Gut erreichen fell,«e Sie muß ihm alſo zunächſt a
zeigen, worin dies beſtehet. Es beſtehet aber
weder in dem Verſtande und ſeinen Objecten
— wovon nemlich die Vernunftlehre gere—
det —, noch in dem Willen, und was ihn
angehet, ſondern ſo wie der verderbte Verſtand
und Wille in ihrer Vereinigung die ſinnliche
Begierde iſt, ſo iſt auch das höchſte Gut in der
Vereinigung des unverderbten oder des geheil—
5 N
4.
ten Verſtandes beym Erkennen, und des un—
verderbten Willens beym Begehren zu fu:
chen.) Bey einer ſolchen Vereinigung ent⸗
ſteht im Gemüthe des Menſchen Ruhe und
*) Ueber das beſtändige Verbundenſeyn des Ber.
ſtandes und Willens wollen wir ae Stelle
abſchreiben, die zugleich beweiſen mag, wie
richtig Thomaſius im Einzelnen ſteht, und wie
gut er ſich ausdrückt. Ueber die ſcheinbare Er⸗
fahrung, daß der Menſch oft das nicht will,
was er als gut begreift und einſteht, ſagt er:
Wenn wir die Sache genau überlegen wollen,
werden wir finden, daß nicht ſowol der Wille
dem Verſtande, als Wille und Verſtand zu⸗
ſammen dem vorhergehenden Willen und
Verſtand zuwider ſind. Ein ſeinen Begierden
„ Menſch hat ja etliche ruhige
Augenblicke, darinnen er das wahrhaftige Gu—
te erkennen mag, und in denſelben Au⸗
genblicken iſt auch der Wille bereit darnach zu
ſtreben. Dieweil aber die Begierden alsbald
wieder die Oberhand erhalten, ſo währet der
vorige Wille nur einen Augenblick, aber
es verändert ſich auch mit dem Willen
ſofort der Verſtand, daß der Menſch
zur Zeit, da er nach dem Antriebe ſeiner Be⸗
gierden ſein Thun und Laſſen einrichtet, auch
A 19
Beluſtigung, und dieſe iſt das höchſte Gut.
Sie wird alſo beſchrieben, daß ſie darin beſte—
he, daß der. Menſch weder Schmerzen noch
Freude über etwas empfinde, und in dieſem
Zuſtande ſich mit andern Menſchen, die eine
ſolche Gemüthsruhe beſitzen, zu vereinigen
trachte. Dieſes letzte Verlangen ſtört aber die
Nuhe nicht, ſondern iſt gleichſam das Lebens:
princip derſelben, auf daß der Menſch nicht in
dieſem Zuſtand erſterbe; und es wird geſtillet,
dieſes Verlangen durch die vernünftige Liebe,
die nichts anders iſt, als eine Vereinigung der
Gemüther, die das höchſte Gut beſitzen. Wie—
derum iſt von dieſer vernünftigen Liebe die
Gemüthsruhe eine nothwendige Folge; und
alſo zwiſchen beyden eine Wechſelwirkung,
durch welche die eine nicht iſt ohne die andre.
Dies wird in den beyden erſten Abſchnit—
ten des Buchs weitläuftig abgehandelt; der
dritte redet von Gott; aber es iſt klar, daß
nothwendig die Sache, wornach er ſtrebet, vor
das größte Gut halten, und die vorigen Ge—
danken ändern muß; welches ein jeder Menſch
nur bey ſich ſelbſten abnehmen kann. ec — Du
ber verabſcheuete er den Irrenden auch nicht,
ſondern er bedauerte ihn
N 2
196 | | N | „
Thomaſius dieſen nicht etwa darum in ſeine
Sittenlehre bringen muß, daß et als wo⸗
zu ihm die meiſten Moraliſten nöthig ha—
ben —, als Executor des Geſetzes auf die Aus⸗
übung deſſelben halte, ſondern er kann nur
kindlich zu ihm hinſchauen als dem gütigen
Geber der menſchlichen Glückſeligkeit. Wir
wollen hier nicht unbemerkt laſſen, denn es ge⸗
reicht dem Thomaſius zur Ehre, daß er das
uralte: aus Nichts wird nichts, welches man
fo lange, als eine evidente Wahrheit allgemein
anerkannt hatte, und welches vielleicht noch
von Vielen ohne Bedenken als wahr ange—
nommen wird, aus richtigen Gründen, bey Er⸗
wähnung der Schöpfung beſtreitet. Er fühlt
es ganz beſtimmt, daß man den Satz, wenn
er wahr ſeyn ſoll, grade umdrehen und fagen
müffe: Alles wird aus Nichts, was da wird;
und daß man die beyden Sätze, daß Nichts
Etwas ſey, und daß aus Nichts Etwas werde,
verwechſele. Jener ſey falſch, dieſer wahr:
denn was da werde, müſſe ja wohl aus Nichts
werden, in fo fern es werde. — Sür den
Zuſtand feines Zeitalters aber iſt die Angſtlich—
keit merkwürdig, mit welcher er die Behaup:
tung wagt, daß die natürliche Erkenntniß von
*. f 197
keinem andern Gottesdienſt etwas wiſſe, als
von der aus kindlichem Vertrauen und Ehr—
furcht herrührenden Begierde, ſein Leben nach
Gottes Willen anzuſtellen. Er erklärt dieſen
Satz, »damit unbedachtſame ſich nicht daran
„ärgern, und die in den Vorurtheilen der alten
Lehre Erſoffene nicht Gelegenheit nehmen, ihn
boshafter Weiſe zu Läftern, « wohlbedächtig dar
hin, daß er nur leugnen folle, man könne oh⸗
ne Offenbarung erweiſen, daß Gott einen äus
ßerlichen Dienſt von den Menſchen verlange;
dennoch mußte er darüber mit Placcius einen
Streit beſtehen! — Und wie ſehr die Schick—
ſale ſeines Lebens auf ſeine Vorſtellungen ge⸗
wirkt hatten, und wie kühn ihn der Gedanke
an ſie machte, das iſt aus dem Schluſſe dieſes
Kapitels zu erkennen, wo er den Aberglauben
für ſchlechter erklärt, als den Atheismus. Er
endigt alſo: „Faſt die ganze Welt ſteckt in
dem Aberglauben bis über die Ohren, und deß—
wegen läßt man ſich ſo eifrig angelegen ſeyn,
daß arme Volk auf den äußerlichen Gottes⸗
dienſt zu treiben, und ſelbſten zu verfechten,
den innerlichen aber als eine Phantaſterey
auszuſchreyen, weil jener gar wohl mit dem
Aberglauben beſtehen kann, ja öfters nichts als
198
Aberglauben iſt. Wiewol es nun wenig Athei⸗
ſten giebt, ſo ſchreyen doch die Abergläubiſchen
gewaltig wider dieſelben, hauptſächlich darum,
daß ſie die vernünftigen Leute, die ihnen zu⸗
wider ſind, als Atheiſten auszurufen Gelegen—
heit kriegen. Und gewiß, wenn man ſich in
den Hiſtorien ein wenig umſieht, ſo iſt dieſes
ein uralter Streich, daß man rechtſchaffene 0
Philoſophen, und faſt alle, für Atheiſten aus⸗
geſchrieen. Dannenhero pflegen vernünftige
Menſchen dieſe Anmerkung zu machen, daß ge⸗
meiniglich derjenige, der von einer dergleichen
unvernünftigen Beſtie auch zu unſerer Zeit für
einen Atheiſten ausgerufen wird, ein rechtſchaf⸗
fener und tugendhafter Mann zu ſeyn pflege.
Der folgende Abſchnitt ſoll nun die Mittel
unterſuchen, wie zu dieſer vernünftigen Liebe,
oder zu der Gemüthstuhe, zu gelangen ſey,
und er iſt beſonders allen Eheſtands⸗ Candida⸗
ten, und allen die im Begriff ſind, ſich eine
Liebe zu erkieſen, ſehr zu empfehlen. Denn er
geht alle Arten von Liebe durch, von welchen
man nur gehört hat, und weiſet, indem er die
Abwege vermeiden lehrt, auf die ſicherſte Stra—
ße zum Ziel. — Durch ſeine vernünftige Lie⸗
be, meynt Thomaſius, ſey viel mehr gewon—
| 199
nen, als wenn er das dunkele Wort Tugend
gebraucht hätte. »Man muß Meiſter ſeyn,
ſagt er, in der Biebe; und die Liebe iſt nicht
mäßig, fondern fie hat allezeit etwas zu thun.
Zu geſchweigen, daß bey Beſchreibung der Tu:
gend das dabey erforderte Mittelmaaß theils
ſehr dunkel, theils vielem Zank unterworfen
iſt. Aber die Liebe iſt das rechte Maaß aller
Tugenden, und ohne dieſelbe iſt die Tugend
todt. Ja, wo Liebe iſt, bekümmere ich mich
um keine Mittelmaaß. In der Liebe kommen
alle Tugenden weit beſſer zuſammen, als nach
der gemeinen Rede in der Gerechtigkeit. All—
zugerecht — (d. h. dem Tho maſius, wenn man
alle die Forderungen an andern in jedem Falle
macht, zu welchen man ein Recht hat: die
Grenze der Moral iſt auch nicht immer beob—
achtet von dieſer Seite )) — iſt ſchon unver:
) „die Gerechtigkeit, heißt es an einer andern
Stelle, iſt dasjeuige Theil der Liebe, das dem
Menſchen das Vermögen giebet, den andern
zu dem, was er ihm willig leiſten ſollte, zu
zwingen; derowegen kann wol Liebe ohne Ge⸗
rechtigkeit, nicht aber Gerechtigkeit ohne Liebe
ſeyn. Ja es verliehrt die Gerechtigkeit den
- 200
nünftig; aber man kann des Guten fo wenig,
als der vernünftigen Liebe zu viel thun.
| Aber weil man doch nicht ganz mit ſei⸗
nem Weibe und mit ſeinen Freunden allein le⸗
ben kann, ſo wird in den folgenden Abſchnit⸗
ten die vernünftige Liebe eingetheilt in die All⸗
gemeine und die beſondere. Jene, ſich auf die
Gleichheit aller Menſchen gründend, iſt mehr
negativ, mehr ein Mangel des Haſſes, als ei⸗
ne wirkliche Liebe, und ſchließt fünf Tugenden
in ſich, die Leutſeligkeit, Wahrhaftigkeit, Be⸗
ſcheidenheit, Verträglichkeit und die Gedult.
Dieſe aber iſt die Vereinigung zwoer Tugend—
liebenden Seelen — (daß Thomaſius hier das
Wort Tugend gebraucht, was er ſo dunkel fine
et, iſt ſonderbar genug) BON die eine wechſel⸗
ſeitige Hochachtung zum Grunde hat, aus wel⸗
cher ſorgfältige Gefälligkeit erwächſet, die wie⸗
derum eine vertrauliche Gutthätigkeit hervor⸗
bringt, aus der ſich endlich eine völlige Ge⸗
meinſchaft alles Vermögens und alles vernünf⸗
tigen Thuns und Laſſen erzeugt. Darauf ſucht
Thomaſius zu beweiſen, daß die Gelbftliebe
Namen der Liebe, wenn man den Zwang wirk⸗
lich braucht.“ | 0
4 201
nur in der Liebe anderer wurzele, und dieſe zur
Richtſchnur habe, daß der Menſch nur um der
vernünftigen Liebe Willen ſein Leben durch
Mäßigkeit, Reinlichkeit und Tapferkeit zu ers
halten, und endlich, daß er die vernünftige
Liebe in allen geſelligen Verhältniſſen des Le⸗
bens zum Grunde legen ſolle.
Aus dieſem Abſchnitt wollen wir zum Be—
ſchluß noch zwey Stellen abſchreiben, weil Tho—
maſius darin ein Paar Fragen beantwortet,
die auch noch die Caſuiſtik unſerer Zeit befchäfs
tigt haben. Sie werden zum Beweiſe dienen,
daß faſt alle Moralen, wenn ſie nur konſe—
quent ſeyn wollen, bey ganz verſchiedenen
Principien einen beſtimmten Fall ſo ziemlich
auf gleiche Weiſe entſcheiden. »Wenn jemand
behaupten wollte, ſagt er, ich dürfte meines Le—
*
bens Erhaltung nicht meines Freundes Leben
nachſetzen, weil mein Freund ja mehr in mir,
als in ſich ſelbſt lebe, woraus zu folgen ſchei—
ne, daß ich mehr auf mich, als auf ſein Leben
zu erhalten ſehen müſſe: ſo iſt hierauf zu ant⸗
worten, daß die Regeln der Liebe auch gleich—
falls von mir forderten, mehr in einem Freun⸗
de, als in mir zu leben, und alſo ſein Leben
dem meinigen vorzuziehen, und daß, wenn ich
1 * 4
ET c r Ä——U—U —ͤUœ‚H !!. —T——. — ——
202
mit dieſer Gegenliebe nicht een wäre, ich
auch der Liebe meines Freundes nicht werth
ſey. Ja, ſprichſt du, auf ſolche Weiſe wird
ja folgen, daß in der Liebe nicht ein Herz und
eine Seele, ſondern zween widerſprechende |
Willen anzutreffen ſeyen, indem ein jeder vor
dem andern ſterben und des andern Tod ver—
hindern will; ſolcher Geſtalt wird Liebe nicht
Liebe, oder doch die Uneinigkeit Liebe heißen.
Aber, o angenehmer Streit! o vergnügſame
Uneinigkeit! Dieſes iſt das Einzige Parado:
rum in der Weltweisheit, deſſen Wahrheit
wohl von andern Menſchen empfunden werden
kann, daß es der Vernunft nicht zuwider ſey,
und von dem man doch in der Vernunft keine
deutliche Urſache findet, daſſelbe zu demonſtri—
ren.« Gegen einen Nichtfteund würde die
Antwort indeß wahrſcheinlich entſcheidend ge⸗
weſen ſeyn, man ſolle mehr ſich ſelbſt au a
ten ſuchen, als ihn.
»Ob denn die vernünftige Liebe uns nicht
auch verbinde, die von unſern Feinden für uns
zu beſorgende gewaltſame Gefahr und Schmach
mit Gedult zu ertragen, und auch für dieſel⸗
ben unſer Leben zu laſſen, oder ob wir nicht
vielmehr dieſelbe mit Gegengewalt und auch
203
wohl mie Ertödtung unfers Gegners, der Liebe
unbeſchadet, abtreiben können?« — Nach An:
führung mehrerer Entſcheidungsgründe iſt die
Antwort: »Eine wirklich uns bedrohende, inſte⸗
hende Gewalt brauchen wir nicht gedultig aus:
zuhalten, ſondern dürfen ſie mit Gegengewalt
und felbft mit Ertödtung unſers Gegners zu—
zurüdtrieben. Ich rede aber von inſtehender
Gewalt; wegen der bloßen Bedrohung brau—
chen wir dieſes gewaltſame Mittel nicht. «)
Eine andre kleinere Schrift dieſes Jahrs
hatte größtentheils eine polemiſche Tendenz.
Die Veranlaſſung dazu war folgende. Tho—
maſius hatte ſeinem Landesherrn zum Neu—
jahrsgeſchenk eine neue Erfindung angeboten,
mit der er ſich viel beſchäftigt zu haben ſcheint,
und auf die er, weil er fie kühn feine Wiſſen⸗
ſchaft nennt, nicht wenig ſtolz war. Er hatte
ſie ihm angeboten als »eine neue Erfindung
) Die Ausübung der Tugendlehre kam vier Jah⸗
re ſpaäter: und dann werden wir davon reden.
Von der Einleitung iſt auch eine lateiniſche
Ueberſetzung; die ich babe, iſt vom Jahre 1706,
und in einem ſchlechten Latein geſchrieben.
Der Titel iſt: Introductio in philosophiam mo-
N.
Talem.
204
einer wohlgegründeten und für das gemeine
Weſen höchſt nöthigen Wiſſenſchaft, das Ver⸗
borgene des Herzens anderer Menſchen auch
wider ihren Willen aus der täglichen Conver⸗
ſation zu erkennen.« In dieſem Schreiben an
den Churfürſten hatte Thomaſius die Wiſſen⸗
ſchaft ſelbſt nicht verrathen, ſondern nur das,
was der Titel verkündigt, zu beweiſen geſucht:
die Wohlgegründetheit derſelben, durch die Er⸗
fahrung, die er ſelbſt damit gemacht, und die
Andre durch einen natürlichen Scharfblick ge:
macht hatten, ohne daß ſie die Regeln der
Kunſt, in deren Auffindung er eben ſein Ver⸗
dienſt ſetzt, gekannt hätten; die Nützlichkeit
und Nothwendigkeit derſelben befonders für
einen Fürſten, bedurfte bey einem Fürſten des
Beweiſes nicht. Er rechnete ſie zu den edel⸗
ſten Wiſſenſchaften „ aber er war doch beſchei—
den genug, noch Eine auszunehmen, die er für
edler gelten ließ, nemlich die wahre und inner:
liche Erkenntniß Gottes. Auch nimmt er eine
Klaſſe von Menſchen aus, die durch ſeine Wiſ⸗
ſenſchaft, wenigſtens de ihn ſelbſt, unerkenn⸗
bar ſey, diejenigen, die in einem hohen Grade
wahre Chriſten find, »weil dazu eine übernas
türliche göttliche Wiſſenſchaft erfordert werde,
N Ar 205
1 welcher er ſich billig noch einer der gering
en Schüler zu ſeyn erkannte.« Um über ſei⸗
e neue Wiſſenſchaft alle zudringlichen Anſin—
ungen von ſich entfernt zu halten, hatte er
rey Probleme aufgeſtellt, durch deren Löſung
jan beweiſen ſollte, daß man verdiene, ſeine
ignen Fragen und Probleme vom Thomaſius
rörtert zu erhalten. Zugleich hatte er in dieſem
Shreiben unterſucht, woher es doch komme,
aß die Wiſſenſchaften in Frankreich, England
nd Holland empor gekommen, bey den Deut:
1
chen hingegen ſo langſam fortgeſchritten ſeyen? 2
Ind der edle Mann war, bey ſeiner Liebe zu
en Wiſſenſchaften um der Wiſſenſchaften mil:
en, die ſich lebendig und kräftig genug fühlte,
ie widrigen Verhältniſſe der Welt, wenn nicht
u beſiegen, doch zu überdauern, — er war
icht mit der gewöhnlichen Antwort zufrieden
jeweſen, daß die Urſache in dem Mangel an
Freygebigkeit der Großen, und in dem langfa-
nern Geiſte der Deutſchen liege: »denn die |
Weisheit ift nicht intereſſirt, ſondern fie ift an
ſich ſo ſchön, daß ſie viel höher zu ſchätzen iſt, |
als alle fürſtliche und königliche Munificenz,«
und »der Teutſche hat vielleicht mehrmals der
Schwere ſeines Geiſtes leichte Flügel gemacht,
206
als der Franzoſe feine Flatterhaftigkeit durch
die gehörige Gedult firirt hat:« — fondern
Thomaſius hatte die Urſache gefunden in dem
Mangel der göttlichen Freyheit. »Sie iſt es,
ſagt er, die Allem Geiſte das rechte Leben
giebt, und ohne welche der menſchliche Ver⸗
ſtand gleichſam todt und entſeelt zu ſeyn
ſcheint. Der Verſtand erkennet keinen Ober⸗
herrn als Gott, und daher iſt ihm das Joch,
das man ihm aufbürdet, wenn man ihm eine
menſchliche Autorität als eine Richtſchnur vor⸗
ſchreibet, unerträglich, oder aber, er wird zu
Allen guten Wiſſenſchaften ungeſchickt, wenn
er unter dieſem Joch erliegen muß, oder ſich
demſelben durch Antrieb eiteler Ehre und Geld:
gierde, oder einer eitelen Furcht freywillig un⸗
terwirft. — Die Freyheit iſt es allein, was
den Holländern und Engländern, ja denen
Franzoſen ſelbſt (vor der Verfolgung der Re:
formirten) fo viel gelehrte Leute gegeben, da⸗
hingegen der Mangel dieſer Freyheit die Scharf⸗
ſinnigkeit der Italiener und den hohen Geiſt
der Spanier ſo ſehr unterdrückt.« — Daher
erwartet Thomaſius viel für Deutſchland von
der Freyheit, welche das Brandenburgiſche Haus
ſeinen Unterthanen verhieß und gewährte.
207
Gegen diefe Meynung hatte der Magiſter
Tentzel, der Herausgeber der Curieuſen monat—
üben Gefpcäge, disputirt, und befonders über
die neue Erfindung des Thomaſius etwas na:
ſeweis⸗ bedenklich geredet. Er hatte die drey
Probleme des Thomaſius zu beantworten ver⸗
ſucht, und, obwol es ihm ſchlecht gelungen,
dafür dem Thomaſius drey andre vorge:
legt, die nicht nur ſeinen Zweifel an die
Kunſt verrathen, ſondern auch dem Tho—
maſius, etwas ſpitz, zu verſtehen geben, daß
Er zum wenigſten der Mann nicht ſey, eine
ſolche Kunſt zu erfinden. Thomaſius hatte ge⸗
gen Tentzeln bey frühern Angriffen eine Ge—
dult bewieſen, die man nicht an ihm gewohnt
iſt: aber dies hieß ihn an ſeiner ſchwachen
Seite faſſen; denn er war noch gar zu ſehr
von dem Werthe ſeiner Erfindung überzeugt,
als daß er, auch gegründeten, Einwürfen hät—
te Gehör geben ſollen. Daher ſchrieb er:
»mweitre Erläuterung durch unterſchiedene Exem—
pel des unlängſt gethanen Vorſchlags wegen
der neuen Wiſſenſchaft, Anderer Menſchen Ges
müther erkennen zu lernen: auf Herrn Ten:
tzels Zunöthigungen publicirt « Aber der klein—
ſte Theil des Werks beſchäftigte ſich mit jener
©
9083
Wiſſenſchaft. Tenzel nemlich hatte, wie er den 1
Beyfall bemerkte, den das Thomaſiſche Jour-
nal erhielt, angefangen, eine ähnliche Zeitſchrift
ſchon 1689 herauszugeben, worin er auf dieſel⸗
be Weiſe, wie Thomaſius in der ſeinigen, ver⸗
fuhr, und dieſem ſogar in der Form und dem
Tone nachahmte. Er hatte ſogleich angefan—
gen, durch Anſpielungen den Thomaſius zu
necken; dieſer aber beſchloß — was jeder klu—
ge Journaliſt gegen einen jüngern Nebenbuh⸗
ler beſchließen ſollte —, zu thun, als ob er
gar nicht wüßte, daß ein Tentzel in der Welt
wäre: denn er ſah es ein, daß er das your:
nal des Letztern ſelbſt heben würde, wenn er
ſich mit ihm in Streitereyen einließe. Darauf
fing Tentzel an, ihn zu nennen; eine Schrift,
die Thomaſius für ein Pasquill gegen ſich
hielt, verdeutſcht aufzunehmen; mit der Mie⸗
ne, ihn vertheidigen zu wollen, ſeine Au⸗
ßerungen nicht ohne Bitterkeit zu beſtrei—
ten, und ſeine Angriffe immer ärger und är⸗
ger zu treiben. Es iſt nicht zu leugnen, Ten—
gel bewies oft eine Gelehrſamkeit, welche viel-
leicht die des Thomaſius übertreffen möchte;
auch waren manche Bemerkungen gegen die—
ſen nicht ohne Grund: aber man muß doch,
ohne
209
ohne Vorliebe für den Thomaſius, geſte—
hen, daß dieſer gewöhnlich gegen ihn im
Vortheil war. Tentzels Gründe waren oft ſo⸗
phiſtiſch, um nicht, mit Chomaſius, hämiſch zu
ſagen; ſeine Tendenz war niedriger, als die
des Letztern, ſein Witz war nicht ſelten gemein
und geſucht, die Derbheit deſſelben beym Tho—
maſius artete bey ihm oft in Plattheit und
Unflätigkeit aus. Da Thomaſius aber nicht
zur Antwort zu bewegen war, ſo hatte er, mü—
de länger in die Luft zu ſchlagen, das ganze
16goſte Jahr nichts wider ihn geſagt. Aber
da Thomaſius in der Dedication ſeiner Mona—
te an ſeine ärgſten Feinde, den Tentzel unter
die Deos minorum gentium gezählt hatte —
(freylich im Vergleich mit ſeinen ärgſten Fein—
den: Tentzel aber meynte die Vergleichung
läge zwiſchen dem Thomaſius und ihm) — ſo
freuete er ſich, an dieſer neuen Schrift fein.
Müthgen zu kühlen; und ſie ſelbſt mochte ihm
Hoffnung geben, den Thomaſius zur Antwort
zu bringen. Dieſe Hoffnung ward auch ſchnell
erfüllt. Thomaſius beſchuldigt ihn, er ſey ger
dungen von ſeinen Leipziger Feinden wider ihn
zu ſchreiben und ihn zu ſchmähen, und aus
dieſem Princip erklärt er alle ſeine Angriffe,
O
210
die er ihm nach der Reihe vorhält; alsdenn
zeigt er ihm »ſeine vielfache Schnitzer,« ver—
theidigt ferner ſeine eigene Meynung über den
Mangel der Gelehrten in Deutſchland, und
weiſet endlich den Magiſter in Rückſicht Mine:
neuen Wiſſenſchaft zurück.
Was nun dieſe Wiſſenſchaft gelöst u
fo erhellt aus dem, was er hier ſagt, aus den
Verſuchen feiner Zuhörer, die er in der Ge,
ſchichte der, Weisheit und Thorheit anführt,
und aus der Ausübung der Sittenſehre N
: Er nimmt an, daß alle Menſchen aus
den vier bekannten Affecten zuſammengeſetzt,
und daß einer von dieſen der herrſchende ſeyn
müffe. Dann, iſt er der Meynung, daß der
Menſch ein durchſichtiges Weſen ſey, das
durch ſeine Handlungen und ſeine Worte ſein
Innres verrathe, und daß die Verſtellung, die
ohnehin nur eine kurze Zeit dauern könne,
von einem ſcharfſehenden Auge leicht durch—
ſchauet werde. Endlich muß man mit der
Selberkenntniß im Reinen ſeyn, und die Ber:
miſchung der Affecten an ſich ſelbſt erkannt
haben. Für den herrſchenden Affect ſetzt
er 60 Grad, und für den geringſten 5; die
beyden andern liegen in der Mitte. Iſt der
211
Geldgeitz der größte: jo iſt die vernünftige
Liebe der kleinſte, und umgekehrt.
6 Thomaſius dedicirte dieſe Schrift dem
Doctor Meyer *) in Hamburg. Diefer hatte
im Namen des ächtlutheriſchen Miniſteriums
daſelbſt eine Schrift gegen den frommen Spe—
ner herausgegeben; ein Ungenannter hatte
ihm darauf geantwortet; und Meyer, der dar—
in nicht aufs Glimpflichſte behandelt wurde,
ſchrieb dagegen eine neue Schrift, in welcher
er heftig auf den Verfaſſer der vorigen ſchimpf—
te, und nicht undeutlich zu verſtehen gab, er
halte dafür, daß Thomaſius es ſey. Thoma—
ſius antwortete nicht darauf, weil Meyer ſich
nicht genannt hatte, “) als aber dieſer in feis
) Der Mann war Schwediſcher Kirchenrath,
Profeſſor der Theologie zu Kiel, Prediger an
der Jacobskirche in Hamburg, und hieß Jo—
hann Friedrich.
) Er hatte ſich Nicolaus de Pio Zelo genannt.
Thomaſius ſagt, er habe Meyern gar nicht
für den Verfaſſer der Schrift halten mögen,
unter andern auch deßwegen, weil er gar
kein tien comparationis habe finden können,
warum er ſich jenen Namen gegeben. Nico-
laus ließe ſich freylich erklären, das hieße vi-
O 2
212
nem „Mißbrauch der Freyheit der Btäubigen
zum Deckel der Bosheit, worin er, wie Tho⸗
maſius ſagt, nicht nur »den wahrhaftig from⸗
men und in ſeiner Lehre und Leben untadelhaf:
ten Herrn D. Spener vor den Augen der ganzen
Welt grob geſchmähet und geläftert, « ſondern
auch ſeine Schmähungen gegen Thomaſius x
wiederholte, und ihn einen Calumnianten, Pas:
quillanten und Ehrendieb nannte, ſo glaubte
Thomaſius ihm eine Antwort ſchuldig zu ſeyn.
Zwar hatte er den Namen Thomafiug nicht
hingeſchrieben: aber er hatte den Mann, durch
die Anführung des Verbrennens ſeiner Schrif⸗
ten, ſo deutlich bezeichnet, daß ein hoher Grad
von Unverſchämtheit dazu gehörte, um nad 2
her darauf zu trotzen, Ban er ihn ja Br: ge |
nannt habe. a n
Thomaſius erklärt in Die W
*
d.
ctor et subactor popufi; aber das de Pio ze-—
102 — Viel eher würde er ein Gleichniß ger
funden haben, wenn er ſich auch den Namen
des bekannten Juriſten Nicolai de Passeribus
gegeben hätte, „indem doch zum wenigſten Ew.
Hochwürden viel beſſer als viel Sperlinge im
Plurali, wegen ihrer ſonderbaren Leibes und
Gemüthsgaben zu achten find.“
1
— 213
; daß er jene erſte Schrift gegen Meyer nicht
verfaßt, fo wie er überhaupt keine Schrift ge:
ſchrieben habe, zu welcher er ſich nicht entwe⸗
der gleich genannt, oder doch nachher bekannt
hätte. Dann hält er ihm ſein unredliches, un⸗
chriſtliches und untheologiſches Betragen vor,
daß er auf einen bloßen Verdacht, zu welchem
er gar keinen Grund gehabt, ihn fo ſchmählich
beſchimpft hätte. Dabey macht er einige An⸗
ſpielungen auf Meyers Leben und Charakter,
die der Prediger wohl gern in Vergeſſenheit
begraben hätte: aber obgleich dieſes kein Lob
verdient, ſo verdient Thomaſius doch dafür
entſchuldigt zu werden. In einem unreligioſen
Zeitalter, wie das unſrige, in welchem die lite⸗
ratiſchen Werke nur Produkte des Geiſtes und
der Kunſt ſind, iſt es eines redlichen Man⸗
nes unwürdig, in gelehrte Streitereyen Per:
ſonlichkeiten einzumiſchen; aber wo über
Glauben und Religioſität die Rede iſt;
wo die motaliſche Exiſtenz angegriffen
wird, wie iſt da ein verketzernder Ankläger,
und ein muthmilliger Berläumder anders zu
entlarven, als wenn man der Welt feine Per:
ſon und Leben zeigt? — Darauf verfaßte D.
Meyer »ein freundliches Schreiben« an den
214
Thomaſtus, unter dem Titel: »der ſich ſelbſt
verurtheilende Chriſtian Thomaſius, daß er ein
Calumniante und Ehrendieb fey.« Denn er
hatte die ſchöne Invention, wie Thomaſius
ſagt, der Welt weiß zu machen, der letzte ha⸗
be ſich ſelbſt dadurch für einen Ehrendieb er:
klärt, weil er die Stelle in ſeiner frühern
Schrift auf ſich bezogen, worin er doch von
ihm nicht genannt worden: aber damit konn⸗
te ſich nur Meyer täuſchen. Thomaſius hat,
wie wir erzählt haben, viele und grobe Schmä—
hungen erfahren: er hat darauf oft lachend,
manchmal bitter, aber ſtets mit einer ge—
wiſſen heitern Ruhe, die dem Gefühle gerech—
ter Sache eigen iſt, geantwortet: aber ſo
ſcheint ihn nichts bis in ſein tiefſtes Leben em—
pört zu haben, als dieſes freundliche Schrei
ben des D. Meyer. Er nennt es »ein abſcheu⸗
liches Ding, das des elenden Mannes Verfall
in die Viehiſchheit bezeugt.« Und wahrlich,
wenn man Meyer (und feines Gleichen) aufs
treten und ſich eines fröhlichen Troſtes rühmen
hört, weil er »um ſeines Heilands Ehre
Schmach leidet; wenn er ſich mit dem ſanf—
ten Geiſte Jeſu brüſtet, während er die Ehre
des Andern zu ſchänden ſucht; wenn er mit
215
feinem inbrünſtigen Gebet für den Thomafius
groß thut, von ſich ſagt, daß er ſeine Hände
aufhebe ihn zu ſegnen, daß er ein erleuch—
teter Chriſt und ein Mann ſey, geſchickt heili⸗
ge Dienſte zu leiſten in dem Augenblick, wo er
die Welt des Schändlichſten von dem Thoma—
ſius überreden möchte: dann wird man dieſem
den heftigen Zorn gegen den feigen Gleißner
gern verzeihen, und nicht umhin können, ſich
mit der Aufgeklärtheit unſerer Zeit, wenn gleich
nur komparative, zu verſöhnen. Thomaſius
ließ Meyers Schreiben mit nöthigen Anmer—
kungen wieder abdrucken, und »legte fo die
ganze Sache zur Entſcheidung den Hohen und
Niedern vor, die noch ſchwarz und 1 0 zu
unterſcheiden wiſſen.« |
Am Ende dieſes Jahrs gab Thb maſms ei⸗
nen Beweis von einem neuen Talent, von dem
der Beredtſamkeit, worin er, wenn er Öelegen:
heit gehabt hätte, es auszubilden, großen
Ruhm, wie es uns ſcheint, hätte erlangen mõ⸗
gen. Er hielt nemlich eine Trauerrede auf
den Tod des Geheimen Raths und Canzlers
von Seckendorf, welche der neuen Univerſität
wegen nach Halle gekommen war. Es waren
unterdeß mehrere Profeſſoren nach dieſem Orte
| |
216 .
berufen ‚und Thomaſius felbft war zum zwey⸗
ten ordentlichen Lehrer der Rechtsgelahrtheit
ernannt, indem ſein alter Lehrer, Samuel
Stryck, der ſeitdem Frankfurt um Wittenberg
vertauſcht hatte, die erſte Profeſſur erhielt. Zu
den Profeſſoren hatte man, wohl nicht ohne
den Einfluß des Thomafius, größtentheils
Männer gewählt, die dem Pietismus zugethan
waren, und ſogar einige, denen er fein Entſte⸗
hen verdankte; auch war der ehrwürdige Spe—
ner im vorigen Jahre von Dresden, wo er
Oberhofprediger geweſen, nach Berlin als
Probſt und Prediger gegangen. | Dadurch ger
ſchah es, daß Halle der Mittelpunkt des Pie:
tismus wurde, und daß noch lange nachher
von jedem Theologen daſelbſt der Name Pietiſt
als unabtrennbares Prädicat ausgeſagt wurde.
Aber anfänglich hatte der neue Geiſt in Halle
keine freye Stätte gefunden, und ſo wie Tho⸗
maſtius wegen feiner erſten Schrift ſogleich auf
die Kanzel gebracht war, ſo hatte ſich der Haß
der Prediger, der von Leipzig und Wittenberg |
aus unterhalten wurde, fortdauernd fehr leben:
dig gezeigt gegen »die neuen Heiligen. « Da⸗
durch, und weil auch die Profefforen unter ein:
ander nicht vollkommen einig ſeyn mochten,
217
wurde die neue Anſtalt, ehe fie recht gegründet
war, in eine heilloſe Uneinigkeit geriſſen; aber,
da Thomaſius, wiewohl er an Allem, was ge—
ſchah, nähern oder entferntern Antheil hatte,
dieſen Antheil der Welt nicht immer durch
Schriften gezeigt hat, ſo können wir uns auf
die Geſchichte dieſer Verhältniſſe, die eine Ge—
ſchichte der Univerfität werden würde, nicht
einlaſſen. Nur das wollen wir bemerken, daß
Seckendorf guten Theils darum nach Halle ge—
ſandt war, um die Gemüther zu beſänftigen,
und Ruhe und Frieden Beer herzuſtellen.
Auf welche Weiſe dies geſchehen ſey, das wird
der leicht begreifen, der ſeinen Chriſten-Staat
kennt, auch mag man es daraus ſchließen,
daß Thomaſius in der Trauerrede bey ſeinem
Grabe feine Verdienſte um die junge Univerfi:
tät ſo unendlich erhebt.) Aber der Ton, mit
) Thomaſtus erhebt irgendwo Lohenſtein und
| Hoffmannswaldau fo ſehr, daß er meynt, „‚fie
könnten wol ſechs Virgilen den Kopf bieten.“
Vielleicht war dieſe Außerung nur Nachſicht
gegen den Zeitgeſchmack; aber, daß er, wenn
ser Gelegenheit dazu gehabt hätte, ſelbſt in ih⸗
re Sprache hätte verfallen können, das bewei-
ſet dieſe Rede. Eine Periode mag es bezeu—
welchem er in dieſer Rede über ſich ſelbſt
ſpricht, kontraſtirt ein wenig ſonderbar mit dem,
in welchem er das folgende 1693ſte Jahr, die
Studenten anredet, und ihnen »ihten elenden
Zuſtand« — das Verſunkenſeyn in die Beſtia .
lität — vorhält in einem Programm, das ih:
nen fein Vorhaben eröffnet, „wie er künftig fei:
ne Lehrart einzurichten, auch über die Kirchen⸗
Hiſtorie, die Morale, die historiam Juris Roma-
no-Germanici, die Institutiones Justiniani und
den Proceß publice zu leſen geſonnen fey. «
Vergleicht man wer die Sprache dieſes Pro:
gramms mit denen, welche er in Leipzig anzu—
ſchlagen pflegte: ſo möchte es auf den erſten
Blick ſcheinen, daß er jetzt gedacht habe, wie
viele, weil er die Studenten nicht brauche, ſo
habe er das Recht, ſie nach ſeiner Laune eben
nicht fein zu behandeln; und man würde irre
werden an dem Character des Thomaſius,
gen. »Die guten Theils allhier formirte neue
Univerſität würde dieſen herben Fall mit blu:
tigen Zähren beweinen, wenn nicht durch Ver⸗
liehrung dieſes ihres edelſten Haupts fie zu:
gleich ihrer Augen beraubet, und von Gott
gleichſam wiederum zu einem zerſtümmelten
Körper aus gerechtem Zorn gemacht worden ⸗
1
219
wenn man ſich nicht erinnerte, daß ſeine neue
religioſe Überzeugung fein Verhältniß zu ih:
nen verändert, und, von jener Überzeugung aus,
veredelt hätte. Schon die veränderte Anrede
ſollte das beweiſen: in Leipzig nannte er die
Studenten »meine Herren,« und redete mit ih:
nen in der dritten Perſon; jetzt redet er ſie
an, »meine wertheſten Brüder und Freunde,“
und ſpricht, wie es richtig iſt, in der zwey—
ten.) Das Programm aber erregte, wie
u Ich kann nicht unterlaſſen, den Schluß des
Programms abzuſchreiben, theils weil es uns
den Thomaſius als Lehrer noch mehr kennen
lehrt, theils auch aus andern Urſachen, die ſich
von ſelbſt ergeben. — „Dieweil es leicht ge⸗
ſchehen kann, daß der eine oder der andre
über meine Lectionen ein Dubium bekommt,
daß ich nicht zuvor ſehen kann, und es alſo
nöthig iſt, wenn er daſſelbe bey Zeiten commu—
nieirt; hiernächſt auch ein gut Vernehmen zwi⸗
ſchen den Lehrern und Zuhörern. geſtiftet wird,
wenn jene dieſen freyen Zutritt verſtatten,
dieſe aber ſich deſſen mit Beſcheidenheit und
in gutem Vertrauen bedienen: als gebe ich
hiermit einem jeden unter Euch freyen Acceß
zu mir, und ſetze hierzu täglich die Nachmit⸗
fagsfinnden von Eins bis drey Uhr aus. Ich
220 \ Ka | $ 5
man aus einem der folgendenßſieht, doch den.
Unwillen der Studenten, »weil es ihnen die
Wahrheit unverblümt gefagt.« Thomaſius |
aber »hielt das allgemeine Gemurmel für ein
gutes Omen und für die erſte Wirkung der
Arzeney, die nothwendig Reißen im Leibe ver⸗
urſachen mußte, wenn ſie wirken ſollte. Und
darin betrog er ſich nicht; denn die Anzahl
ſeiner Zuhörer war dennoch ſehr groß, und
ſelbſt in den Vorleſungen über ſeine göttliche
Rechtsgelahrtheit, hatte er mehrere als jemals
zu Leipzig.“), N
verſpreche Euch geneigt Gehör und ee
Autwort und biete Euch den Gebrauch meiner
Bücher an. Jedoch mache ich drey kleine Erin⸗
nerungen, gegen welche nicht Wenige von Euch
anzuſtoßen aepflogen, 1) Macht keine unnö⸗
thigen Complimente und verſpart die wunder⸗
lichen Titel, bis ihr zu Leuten kommt, die
ſolche gern hören. 2) Bringet Euer Begehren
kurz und deutlich für. 3) Wenn Euch geant⸗
wortet worden, und ihr nichts weiter zu fra⸗
gen habt, ſo nehmet bd euren Abſchied wie—
der, es wäre denn, daß ich euch ſelbſt nöthigte
zu bleiben.““ | 9355
) Das Programm, worin er dies erzählt, iſt
vom Jahre 1694, und iſt das erſte, in welchem |
In dieser Jahre ließ Thomaſius drt
weiſe zwey Schriften drucken, eine in deutſcher
und die andere in lateiniſcher Sprache, die ei—
nerley Titel und einerley Tendenz, aber nicht
einerley Inhalt hatten; nemlich »die Geſchich—
te der Weisheit und Thorheit« und „Historia
sapientias et stultitiae.« Nach dem vielver⸗
ſprechenden Titel dieſes Buchs glaubt man ſich
zZuerſt ſehr getäuſcht, wenn man ſtatt einer Ge
ſchichte der Weisheit und Thorheit — man
mag ſich unter beyden gedacht haben, was man
will eine Anzahl kleiner Abhandlungen von
verſchiedenen Verfaſſern “) findet, die durchaus
nicht mit einander zuſammen zu hängen ſchei—
Halle Nie Churbrandenburgiſche Friedrichs 1
N verſität genannt wird. g
9 Mehrere ſind von dem Vater des Thomaſius,
die dieſer unter ſeinen Papieren gefunden.
Nur wenige find vom Thomaſtus ſelbſt. Die
Bemerkungen über das Leben und die Lehre des
Carteſius, find von Leibnitz; ein Beweis, daß
zwifchen dieſem und dem Thomaſius eine freund-
ſchaftliche Verbindung ſtatt fand. Leibnitz er:
wähnt des Thomafius oft rühmlichſt in feinen
Briefen, und läßt feinem Scharfſinn alle Ge—
rechtigkeit wiederfahren, obgleich er 3 ſeine
Philoſophie nicht viel zu halten ſcheint.
222 5
nen, a bald über die Reformation der Uni:
verſitäten Luthers Meynungen erzählen, bald
das Leben eines Ketzers oder eines Enthuſiaſten
oder eines Philoſophen, wie des David Geor:
gen, des Elias Stiefel, des Abälard, beſchrei—
ben, bald von einem Schlafredner berichten,
bald die Bruder- und Schweſterliebe in den
erſten chriſtlichen Kirchen rühmen, bald die Er:
findung eines künſtlichen Auges verkünden u.
ſ. w.: aber man darf nur einige dieſer Ab-
handlungen leſen, ſo entdeckt man den Zweck
des Thomaſius, den er ohnehin ziemlich deut⸗
lich ausgeſprochen hat. Nemlich ihm war das
einfache, lautere Chriſtenthum, nach Pietiſti⸗
ſcher Anſicht, die vollendete Weisheit; die
Kenntniß davon ſetzt er bey ſeinen Leſern vor—
aus wie die Anerkennung ſeines Grundſatzes,
und ſtellt dann eine Reihe Abhandlungen hinter
einander, die ſich darin allein aber völlig gleichen,
daß durch ſie in einzelnen Beyſpielen dieſe
chriſtliche Weisheit gezeigt und gelehrt wird,
oft an der Thorheit der Welt. Darum war es
wol zunächſt, warum Thomaſius die drey erſten
Jahrhunderte des Chriſtenthums und die frü—
heſte Zeit nach der Reformation als die Pe—
rioden anſah, die ſeinem Zweck die paſſendſten
* 223
Beyſpiele liefern könnten; und darum war es
wiederum, daß er ſelbſt das Alterthum nicht
ausſchloß, weil er die Philoſophie als die
»Manuduction« zum Chriſtenthum betrachtete.
Die Geſchichte der Weisheit und Thorheit war
ihm die Kirchen- und die philoſophiſche Ge:
ſchichte; und da er keine vollſtändige Hiſtorie
der Entſtehung, und der Verbreitung, des Chri⸗
ſtenthums — wozu die Verfälſchung und Ver—
derbung deſſelben mitgehörte, — liefern konnte,
ſo wollte er wenigſtens durch Erzählung ein—
zelner Thatſachen darthun, daß die Weisheit
in ihrer göttlichſten Schönheit ſich da offenba—
re, wo man ſich mit Einfalt des Herzens und
mit heiliger Andacht den Einwirkungen des
Chriſtenthums hingiebt, und daß ſie von da
am weiteſten verſchwinde, wo man die—
ſes durch die Spitzfindigkeiten des Denkens
und beſonders durch die Scholaſtiſche Philoſo-
phie empor zu bringen meynt; und dadurch
wollte er der wahren Kirche Chriſti aufhelfen.
Alſo heißt es in dem Programm, welches die—
ſes Buch ankündigte: »Wer das Leben und
die Lehre Chriſti, ſeiner Apoſtel und der erſten
Chriſten, nach dem Leben und der Lehre des
Volks, unter welchem er geboren, richten will;
3 — Bi In — —— — —
6 ů *
224
wer unter dem Schein, ob wollte man des
Vaters Noah Schaam mit dem Mantel Sems
und Japhets zu decken, ſeine eigne Blöße zit
verhüllen, und durch Sophiſtereyen Pflaſter
auf die böſen Schäden ſeines Valks zu ſchmie⸗
ren bemühet iſt; wer den Anti⸗Chriſt erſt in
6. oder 7. Seculo ſucht und nicht erkennet,
wie er allbereit zu den Zeiten der Apoſtel ſich
eingeſchlichen, mitten unter denen Verfolgun⸗
gen nebſt dem guten Weitzen als das Unkraut
mit gewachſen, zu Zeiten Conſtantini ſich auf
den Thron geſetzet, und nicht nur dieſen gu—
ten Kaiſer, ſondern allen ſeinen Nachfolgern,
die ſich von ihm bey der Naſe herumführen
laſſen, den Namen des Großen beygelegt;
wer glaubt, das Chriſtenthum ſey unter ihm
und ſeinen Nachfolgern in einem recht guten
Zuſtand geweſen; wer die Meynung hat, daß
die erſten Reformatores des Pabſtthums allem
Übel auf einmal abgeholfen, daß die Kirche
Chriſti bis zu unſerer Zeit in einem guten Zu—
ftande geblieben, und es dannenhero keiner Re—
formation mehr bedürfe u. ſ. w.: dem wird
das Studium der Kirchengeſchichte nichts nü⸗
tzen. Wer aber das andre Pabſtthum, das
Luther prophezeiet, um ſich ſiehet, und wer
die
225
vi eee Jett „feiner Apoſtel und der
Chriſten mit Einfalt lieſet, und gleich⸗
1 Volks und feines Vaters Hauſes
vergißt, und die angeführten Vorurtheile bey
Seite leget: bey dem wird die Wahrheit in
kurzer Zeit mit Gewalt durchbrechen. Wieder⸗
umb, wer in der philoſophiſchen Hifterie aus
Liebe zur Wahrheit ohne vorgefaßte Liebe zu
einer Secte aus allen das Gute zufammen⸗
ſucht, auch feinen hauptſächlichen Endzweck
ſeyn lãßt zu weiſen, wie die Weltweisheit nach
dem unverfälſchten Licht der Natur eine Ma⸗
nudustion zum Chriſtenthum ſeyn ſolle, für ſich
aber unvermögend ſey, den Menſchen vollkom⸗
men glückſelig zu machen; der ſchärfet ſeinen
Verſtand in kurzer Zeit ganz merkſich; der
wird gewahr werden, daß alle heidniſche Phi⸗
loſophie von der wahren Glückſeligkeit zu de:
nen Irrthümern und Scheintugenden abführe,
daß keine Secte dem Chriſtenthum, oder der
Wahrheit (denn wo iſt Wahrheit außer dem⸗
ſelben ?) mehr Schaden gethan, als die ſcho⸗
laſtiſch⸗Atiſtoteliſche; daß die heydniſche Phi:
loſophie der Urſprung aller Kegereyen gewe⸗
ſen, daß dieſelbe noch heut zu Tage eine von
denen fürnehmſten Urſachen ſey, warumb un⸗
»
226
ter denen Gelehrten mehr Irthümer und ſchäd⸗
liche Laſter im Schwange gehen, als unter den
Ungelehrten.« — Nur Ein Jahr lang hat
Thomaſius dieſe beyden Schriften fortgeſetzt:
warum er ſie aufgegeben hat, hat er, ſo viel
ich gefunden, nirgend geſagt, obgleich er ſich
darüber entſchuldigt. Ehe wir aber die Schrift
verlaſſen, wollen wir wenigſtens das Eine be⸗
merken, wodurch er ſich von Neuem den Haß
der Theologen zuzog, wenn es auch gleich zu
keinen neuen Schriften von feiner Seite Ber:
anlaſſung gab. In Leipzig war um dieſe Zeit
eine Disputation unter des D. Carpzovs Prä—
ſidio, wahrſcheinlich von ihm ſelbſt geſchrieben,
vertheidigt, welche die Dreyeinigkeit des Plato
mit der Dreyeinigkeit der heiligen Schrift ver-
gleichen ſollte, um die ſchrecklichen Irrthümer,
beſonders, der Böhmiſten über Gott auszurot-
ten.) Thomaſius, dem dieſe Disputation
nicht ſehr erbaulich ſcheinen mochte, nahm in
ſeine lateiniſche Quartalſchrift einen Aufſatz
auf, den er unter den Papieren feines feel.
) De trinitate Platonica etc. cum trin. ser. sac.
collata ad eruendos tum aliorum, tum recen-
tinm Boehmistarum de Deo horrendos er-
Tores,
5 227
Vaters gefunden haben wollte, und der den
Unterſchied der Trinität der Perſer und Plato—
niker von der chriſtlichen darthun ſollte. )
Er ſelbſt ſetzte dieſem Aufſatz einige Bemer—
kungen hinzu, in welchen er über die Carp—
gopfche Disputation eben nicht votrtheilhaft
ſprach, und behauptete, daß Böhme mit ſeiner
Lehre der heiligen Schrift viel näher geweſen,
als Carpzob mit feinen metaphyſiſchen Gril—
len. Denn der Hauptunterſchied zwiſchen der
Platoniſchen und chriſtlichen Trinität, ſagt er,
ſey, daß beym Platon die heilige Drey ein ſpecu—
latives Myſterium, in der heiligen Schrift aber
ein Myſterium der Liebe ſey: dafür habe Böh—
me fie erkannt, aber Carpzov habe fie eben fo
elend (aeque misere) als die Platoniker durch
Speculation ergründen wollen. — Dieſe Be—
hauptung, und die Sprache, worin ſie vorge—
bracht wurde, reizte die Theologen aufs Hef—
tigſte; ſie ſchrieen wider den Thomaſius auf
den Kanzeln und ſonſt, und er empfand es
von Neuem, daß es ſchwer iſt, wider den
Stachel zu lecken. *) 8
) Persarum et Platonicorum Trinitas a Ss. Chri-
Kiener mt Triuitate distinctissima.
*) Unter dem Titel Democritus Abderita et Hip-
P 2
Warum aber Ziomafing anjetzt dieſe
Schmähungen ruhiger ert wie ehemals,
das erklärt ſich leicht aus ſeiner veränderten
Denkungsart; auch giebt er ſelbſt deutlich da⸗
von die Urſache an in dem Aufſatz, den er
1694) drucken Heß, ind den er dem Titel
\ pOprates Medicus Philosophi morales ad Kuren
| philosophorum pseudo- -Christianorum bat Thoma.
ſtus in dieſe Schrift die lateiniſche ueberſetzung
der Briefe des Hippocrates aufgenommen, die er |
für ächt zu halten ſcheint; er hat fie mit Aire.
kungen begleitet, die eine Menge kräftig ge⸗
ſagter Wahrheiten enthalten, die ſeinem Zeit⸗
alter höchſt bitter ſchmecken mußten. Er ver-
gleicht die Weisheit dieſer Brirfe, ſowohl in
ärztlicher, als philoſophiſcher und enger
Nückſicht mit der feiner, Zeit, und wirft mans
che Frage auf, deren Beantwortung dieſe nicht
im Vortheil zeigt. b Dan
N Ay dem vorigen Jahre hatte Thomaſius noch
eine Ueberſetzung der Memorabilien des ©o-
crates drucken laſſen, aber da er nur Nie Ue⸗
berſetzung des Franzoſen Charpentier überſetzte, |
und deſſen Fehler wenigſtens nicht vermied und
verminderte, ſo haben wir ſeine Arbeit nur in
einer Note anführen wollen Thomaſius ſcheint
hin und wieder Beweiſe zu geben, daß er den
29
gab: »feinem gnädigſten Churfütſten und Herrn
Friedrich IIE. feine unterthänige Liebe zu bezei—
gen lieſet D. Chriſtian Thomas ſich ſelbſt
eine nachdrückliche und ſcharfe Lection.« Der
eigentliche Zweck dieſer Lection, in welcher
„»die Vernunft der Unvernunft das Capitel
las, « lag wol, wie wir glauben, tiefer, als es
auf den erſten Blick ſcheint. Denn es war
dem Thomaſtus, dünkt uns, nicht ſowol um ſich
ſelbſt zu thun, als um die junge Univerſität,
die der edle Mann zu einer wahren Schule
Platon und den Ariſtoketes griechiſch leſen
konnte: darum muß man ſich wundern, daß
der Mann ſich die reine Qaelle erſt durch den
Franzoſen trüben ließ, ehe er daraus ſchöpfen
mochte. — Auch kam noch 1693 heraus: Do-.
decas Quaestion. promiscuar. Historico - phil. —
juridic. — kleine Diſſertationen, darin, wie
Stolle ſich recht gut ausdrückt, allerhand cu-
riöſe Fragen auf eine paradoxe Art beant⸗
wortet werden. Die hiſtoriſchen find die be—
ſten. Auf die philoſophiſchen wird jeder unſe—
rer Leſer die Antwort wiſſen, wenn wir an-
ders ſeine jetzige Anſicht deutlich genug darge—
legt haben, z. B. auf die: ob ein Schuſter
ein Philoſoph ſeyn könne? ö
230
der Tugend, der Weisheit und der Gottſelig⸗
keit erheben wollte, weil er ſie als ſein Werk 1
anſehen konnte, und weil er ſich von ihrer Ju⸗ *
gend vielleicht eine Folgſamkeit verſprach : die
es werth war, ihr ein großes Beyſpiel zu geben.
Newmlich das Programm, worin er, wie wir
oben erzählten, den Studenten, und mittelbar N
auch den Lehrern, ſo derbe und bittere Wahr⸗ |
heiten ſagte, war auf dieſen Zweck gerichtet,
aber es war wol nicht genau berechnet gewe⸗
ſen. Ohne Wirkung mochte es nicht geblieben
ſeyn; aber es hatte auch manche Erbitterung
veranlaßt, und dadurch vielleicht die Gemüther
entfremdet, die es vereinigen wollte. Konnte
Thomaſius hoffen, durch irgend etwas die Ge⸗
mũther für ſeinen Zweck leichter zu gewinnen,
als wenn er an ſeinem eigenen Beyſpiel öf—
fentlich zeigte, auf welche Weiſe der
Menſch ſich ſelbſt vergeſſen und reinigen müſ⸗
fe, ehe er würdig wird, die Weihe der Weis-
heit und Tugend zu empfangen? Er fand bald
dazu eine paſſende Gelegenheit. Churföͤrſt
Friedrich III. war in Halle geweſen, um der
feyerlichen Einweihung der neuen Univerficät,
die ſeinen Namen erhielt, beyzuwohnen, und
hatte in einer dreymaligen Anrede an die
*
231
Lehrer und Schüler dreymal die Worte wies
derhohlt: Ich empfehle Euch für allen Din⸗
gen die Einigkeit; und dieſe Worte ſind es,
an welche Thomaſius ſeine Rede anknüpft. “)
Nachdem er, etwas weitläuftig „angeführt,
was Friedrich geſagt und gethan, ſo erzählt er,
was er dabey gedacht, und wie er von feiner
Seite die Abſicht des Churfürſten befördern
möge. Seiner Sittenlehre gemäß kommt jedes
Laſter, alſo auch die Feindſchaft und, Uneinig⸗
keit, aus den drey Affecten des Geldgeizes,
der Ehrbegierde und der Wolluſt. Thomaſius
prüft ſich dieſem gemäß, und ſpricht ſich von
dem erſten gänzlich frey; aber er legt demun⸗
geachtet die Schändlichkeiten, die der Geldgeiz
erzeugt, und befonders die verderblichen Fol—
gen, welche er in den Verhältniſſen einer Uni-
Etwas drolig iſt es, daß, wenn man auf dem
Titel gefunden hat, es ſey dies eine Lection
an ſich ſelbſt, man, en man das Blatt um:
ſchlägt, die Anrede findet: „Gnädigk, Höchſt⸗
Hoch- und Vielgeehrte Herren, wertheſten
Freunde.“ Die Rede iſt eigentlich an die pro⸗
feſſoren und Studenten gerichtet, und Thoma—
ſius erzählt nur von ſich; es iſt eine Rede
über ſich, nicht an ſich ſelbſt.
verſität bewicke, ſo weitläuftig und e. ernſtlich
vor Augen, daß es offenbar t ſeine Abſicht
war größer und eke fn als ſie gewefen ſeyn
würde, wenn er mit philoſophiſcher Freymũ⸗
thigkeit, die oft nichts anders iſt, als unphilo⸗
ſophiſche Hoffart, der Welt feinen Chatacter
hätte bekannt machen wollen. — Der Ehr⸗
geiz dagegen habe ihn, wie er geſteht, von
Jugend auf ziemlich verführet, und wäre der
Leitſtern ſeines meiſten Thuns und Laſſens ge⸗
weſen. Aber der Folgen wegen, die er wieder
darlegt, ermuntert er ſich, ihm zu widerſtehen.
| »Trachte nicht darnach, ſagt er unter andern,
dir einen Anhang zu machen, oder über andre
zu herrſchen: nimm dich aber des gemeinen
Beſten und der Unſchuldigen nach Vermögen
an, und laß dir das Maul nicht ſtopfenꝰ von
denen, die ſolches zu 0 nicht befugt ſind.
Lehre die Wahrheit frey und ungeſcheut, und
widerlege die Irrthümer zwar kräftiglich, aber
beſcheiden und ohne Bitterkeit. — Laß es
ſeyn, daß man dir auf das ſchimpflichſte nach⸗
redet; du biſt ſchuldig, in dieſem Stücke etwas
zu überſehen, denn du haft mit deinen Stachel—
ſchriften in das Wespenneſt geſtört, und wenn
es um der Wahrheit Willen geſchieht, haſt du
233
—
dich zu tröſten, daß es andern vor dir eben fo
gegangen. Laß es ſeyn, daß man dich für ei:
nen Atheiſten und Enthufiajien ausruft; das
hat man alten Philoſophis und ſogar Chriſten
gethan. Laß dich deswegen nicht ſchüchtern
machen, ſondern lehre die Wahrheit, die Gott;
dir zu erkennen giebet. Der wird auch die
Wahrheit fortzupflanzen wiſſen, wenn er gleich
dich nicht zum Werkzeug braucht, und die
Steine werden rufen, wenn die Menſchen
ſchweigen müßten.« — Was endlich die Wol—
luſt betrifft, ſo geſteht Thomaſius, daß ſie in
einem hohen Grade unter ſeinen Gemüthsnei⸗
gungen ſtehe: aber ſie iſt in ſeiner Sittenlehre
grade der Affert, der von den fehlerhaften die
meiſte vernünftige Siebe zuläßt. Dieſer Nei—
gung aber habe, wie er ſagt, der Ehrgeiz eine
Maske vorgehalten, daß die Welt ſie nicht ba;
be erkennen können; in der That aber ſey er
„kein Feind des Weins, der Speiſe, des Frauen—
volks, des Tanzes, der zur Wolluſt reizenden
Muſik, ) und der lieben Töchter der Wolluſt,
) Daß die Muſik als Muſik, d. h. als rei⸗
ner Zuſammenklang von Tönen ohne Verbin—
dung mit Worten zur Wolluſt reitze — daran
zweifle ich. Die Lydiſchen Flöten ſchienen dem
234 us SIT.
der Faulheit und des Müßiggangs. Der ver⸗
derbliche Einfluß dieſes Affects wird gezeigt,
und die Rede mit einer Ermahnung an alle
Lehrer und Schüler beſchloſſen, ſich auf gleiche
Art ſelbſt zu prüfen; dann würde Einigkeit
und Friede die Seegenreiche Frucht ſeyn.
Außer einigen Diſſertationen ließ Thoma
ſius in dieſem Jahr nichts mehr drucken; aber
ſeine akademiſchen Geſchäfte ſetzte er mit uner:
müdetem Eifer fort. Auch beſorgte er eine
neue Auflage von dem bekannten Buche des
noch bekanntern Myſtikers, Peter Poiret, von
der dreyfachen Gelahrtheit, “) und ſetzte ihm
alten Geſetzgeber freylich gefährlich; aber, wie
es mir ſcheint, nicht, weil ſie es an und für
ſich geweſen wären, ſondern weil fie entwe⸗
der üppige Tänze oder Lieder begleiteten, oder
weil ſie zum wenigſten die Erinnerung an üppi⸗
ge Scenen aufregten. In einer ſolchen Ver⸗
bindung aber reizt gewiß nichts mehr zur Wol—
luſt, als die Muſtik.
) De eruditione solida, superficiaria et falsa. >
Poiret nennt nur die Gelehrſamkeit folide, wel:
che durch den intellectum passivum von einer
göttlichen Erleuchtung erkannt wird; was ihm
alsdann die eruditio superficiaria nnd falsa ſeyn
235
eine Vorrede vor, in welchem er es aufs Höch—
ſte empfiehlt: ein trauriger Beweis, wohin ein
weiterſtrebender Mann in einem ungünſtigen
Zeitalter gebracht werden kann. Peter Poiret
war gewiß kein gemeiner Kopf; aber feine les
bendige Phantaſie, umherirrend im unendlichen
Dunkel der Myſtik, lehrte ihn dasjenige ver—
geſſen, was ſein Geiſt durch die göttliche Kraft
des Denkens nicht hatte ergründen können;
überhaupt ſcheint uns zur Schwärmerey einer
der ädlern Geifter zu gehören, die das Gemei—
ne für gemein erkennen, die aber das Unglück
haben, daß ihnen auf dem Fluge zur Wahr—
heit und Gewißheit die Schwinge erſchlafft:
daher irren ſie beſtändig über dem Gewöhnli—
chen umher, und weil ſie nicht höher können,
ſo glauben ſie in der Ahndung des Höhern,
wird, iſt leicht zu vermuthen. Von dem in-
tellectu activo, d. h, von der Vernunft hält er
gar nichts. Gut, daß er für feine Ver⸗
nunft ein Zeugniß durch ſeine Schrift ab⸗
legt; Er beweiſ't im Grunde durch ſein Thun,
daß er fih ſelbſt durch fein Wort verleum⸗
det. — Das Buch kam heraus zu Amſterdam
1692. Vor der Ausgabe von Thomaſtus ſteht
Frankfurt.
0
7
4
236
es ſelbſt zu beſitzen. Poiret hat gute Gedan:
ken, aber er verachtet, wie Leibnitz ſagt, was
nicht zu verachten iſt: gründliche Gelehrſam⸗
keit. 5 Thomaſius riß ſich ſpäter von der Geſell⸗
ſchaft los, in welcher er jetzt ſo viel Heil hoffte,
und machte dies wiederum in einer Vorrede
zu eben dieſem Buche (1708) der Welt bekannt.
Seinem Kopfe machte das Ehre; ob u es zum
Glück ſeines Lebens Beach das kann kein
Andrer ee 9. Rau
9 In einer 1 Abhandlung: Erinnerung
wegen eines gedruckten Buchs, erzählt Shane:
* fius, daß er in dieſem 1694 ſten Jahre eine
Reihe Sätze aufgezeichnet habe, in denen er
ſeine Confeſſtion niedergelegt. Den Kern der»
ſelben brachte er in eine Tabelle, 211 theilte
ſte feinen Zuhörern in der Kirchengeſchichte
mit. Dieſe Sätze und dieſe Tabelle erſchienen
bald darauf gedruckt; Thomaſius prokeſtirt
feyerlich dagegen und bittet alle Obrigkeiten
das Schriftchen zu konfisciren; nicht, weil er
den Inhalt nicht anerkannte, ſondern weil er
fürchtete mißverſtanden zu werden, und weil
er es uberhaupt nicht für den Druck beſtimmt
hatte. Es iſt uns nicht möglich geweſen, das
Büchlein zu erhalten; aber einen Auszug da⸗
von hat Brucker.
237
Inm folgenden Jahr, 1696, gab Thomaſius
ein Selbſtgeſpräch heraus, um der Welt zu
zeigen, in welchem Verhältniß er in der Zus
kunft gegen ſie zu ſtehen entſchloſſen ſey, und
daß er wol wiſſe, wodurch er, von ſeiner Sei—
te, dies Verhältniß zu einem feindlichen ge—
macht habe. Er gab ihm wegen der Zeit, —
und nicht, wie ſeine Gegner ſagten, weil es
Gedanken enthielt, die er in den Feyertagen
aber nicht im übrigen Jahre befolgte — den
Titel „Oſtergedanken, vom Zorn und der bittern
Schreibart,« und es enthält wirklich Gedanken,
die ſich unter einander verklagen und entſchul⸗
digen. Denn »der Geiſt« iſt nicht etwa das
gute Princip, das dem Menſchen als ein
Zeugniß ſeiner göttlichen Abkunft mitgegeben
iſt, und dem »das Fleiſch« als das böfe, oder
als der blinde Trieb ſinnlicher Luft gegenüber:
ſtände: ) ſondern auch dieſes iſt beym Tho—
) In der Geſchichte der Weisheit und Thorheit
ſagt Thomaſtus, Th. II. S⸗ 151: »Das Reich
Gottes und ſein guter Geift iſt in uns, und
der Teufel würket in =. Kindern der Ver⸗
dammniß. Wer aber Sott nicht in ſich be
fühlet auch den Teufel nicht.“
1 1
Fl 3 1
N
8 | N
maſius ehrenwerth, denn es handelt nach
Gründen, und liebt die Wahrheit. Der Geiſt
iſt vielmehr, nach Thomaſius Anſicht, der Chriſt
in ihm, der den Menſchen zu beſſern bemüht
iſt. Er erzählt ſelbſt, in der Abfertigung des
Pietiſtiſchen Unfugs, daß der fromme Spener
ihn wegen ſeiner ſatyriſchen Schreibart treffli⸗
che Erinnerungen und Vermahnungen ge⸗
than: *) daher darf man wol ſagen von dies
ſen Oſtergedanken, der Geiſt in ihnen iſt Spe⸗
ner und das Fleiſch iſt Thomaſius. Jener hält
dieſen ſeine ſatyriſche und bittere Schteibart
vor; dieſet behauptet zwar, fein Zorn ſey da:
her entſtanden, »daß er ſehen müſſen, wie die
Wahrheit und Frömmigkeit ſo verfolget werde,
und daß die Welt die Lügen für Wahrheit
achtet, und Heucheley für Frömmigkeit aus⸗
giebet.« Aber der Geiſt weiß das Fleiſch durch
) Speners Gründe wirkten damals nichts; er
hatte Thomaſtus Satyren nicht geleſen, darum
hatte dieſer Gegengründe. „Der Pietiſtiſche
Unfug“ iſt ein erbärmliches Schriftchen, voller
Lügen und VBerkeumduntzen Thomaſius ließ
eine Abfertigung deſſelben ee in welcher
er ihm das beweißt.
239
ſeine Fragen ſo kleinlaut zu machen, daß es
| geftehen muß, Selbſtliebe, Ehrgeiz und die fü:
ße Luft der Rache habe nicht wenig Antheil
daran gehabt, daß es die Wahrheit — denn
daß es die geſagt habe, geſteht der Geiſt —
ſo geſagt, wie es gethan. Zwar bringt das
Fleiſch manchen trefflichen Grund für die gute
Seite der Bitterkeit im Schreiben vor: alle
Wahrheit ſey bitter. Aber eben deßwegen ſoll
man ſie, wie der Geiſt behauptet, nicht noch,
1 fein Müthgen zu kühlen, durch und
und durch vergällen. »Grauſame Wahrheit iſt
keine Wahrheit mehr, ſondern Grauſamkeit.
Fleiſch. Es iſt aber Heroiſch, wenn die
Wahrheit mit einem Löwen Angeſicht ſich bli⸗
cken läßt. Geiſt. Löwen gehören zu Löwen
und Menſchen zu Menſchen. Es iſt beſſer,
die Wahrheit hat ein freundliches Menſchen—
geſicht, als das Geſicht eines Löwen; willſt
du aber etwas anders, als Menſchliches haben:
die liebliche und von aller Bitterkeit entfernte
Wahrheit hat ein Engels-Angeſicht.« Die
Gründe des Geiſtes bringen das Fleiſch end:
lich dahin, daß es ſeine bisherige bittre Schreib—
art bereuet, Alle, die es damit geärgert, um
Verzeihung bittet, und dazu, daß ſie die Wahr—
240
heit ſelbſt, die es geſagt, nicht ihrer bittern
Schale wegen läſtern wollen: und endlich ver⸗
ſpricht es, daß jeder ſich künftig zu ihm Liebe,
Sanftmuth und Weiſung zu verſehen haben
ſolle.) Aber, wenn auch nicht das Fleiſch
willig und der Geiſt ſchwach war, ſo entband
eine veränderte Überzeugung doch ſpäterhin
dem Thomaſius ſeines Verſprechens, Wia n
nach ſeiner Meynung. Ke
In eben dieſem Jahr „ Thema,
ſius das Buch des Monzambano (Pufendorfs)
de statu imperii Germanici mit Anmerkungen,
die ſeiner nicht unwürdig ſind, die aber, in ſo
fern ſie nicht juriſtiſch oder hiſtoriſch ſind, mit
ſeinen früher geäußerten Principien über das
Naturrecht zuſammenhängen. Zu gleicher Zeit
ließ er eine Disputation, von Brenneiſen ver-
faßt,
*) Die Ueberzeugung, daß die ſatoriſche S.
art unerlaubt ſey, hatte Thomaſtus auch ſchon
in ſeiner Apologie und in der „Abfertigung
des Pietiſtiſchen Unfugs ausge ſprochen; aber
man kann auch bey ihm ſelbſt Gründe finden,
wodurch er widerlegt werden kann; und zwar
aus Schriften nach dieſer peilbde, 3 nn. in der
Vorrede zu den juriſtiſchen Händeln.
241
faßt, drucken, »über das Recht der Fürſten in
Mitteldingen, ) oder Kirchen⸗Ceremonien,«
und begleitete ſie mit einigen Erinnerungen,
| worin er ihre Grundſätze zu den ſeinigen mach—
te. Das waren fie ohnehin; denn Brenneiſen
war Thomaſius Zuhörer, und dieſer hatte die
Grundſätze, von welchen Brenneiſen ausgeht,
faſt wörtlich in feinen Vorleſungen aufgeſtellt,
wie ſeine Lehrſätze beweiſen, »vom Recht eines
chriſtlichen Fürſten in Religionsſachen,« die er
ſeinen Zuhörern dictirt hatte.) Aber auch
dieſe Lehrſätze ſind nicht neu; ſondern ſte ſind
größtencheils entweder von Pufendorf, 0 oder
von ihm ſelbſt in ſeinen frühern Schriften auf⸗
geftelle, oder feine pietiſtiſche Anſicht machte
fie nothwendig. Da fie aber noch im Deut⸗
ſchen nie ſo deutlich ausgeſprochen, und da ſie
allen Thomaſiſchen Schriften dieſer Art zum
Grunde liegen, fo wollen wir einige der vor-
) De jure principis circa adiaphora. Deutſch ſteht
fie: unter den auserleſenen Schriften. Halle
1705.
) Sie machen, etwas fonderbar, den erſten Han:
g del des zweyten Theils der philoſophiſchen und
juriſtiſchen Händel aus.
) In dem Buche: de habitu religionis.
Q
1
4
\
4
a 1
züglichſten, die hieher gehören, davon anfüh⸗
ren, um ſo mehr, da ſie dem Thomaſius einen
neuen Streit zuzogen, der auf ſeine äußere
Lege zwar keinen Einfluß hatte, der aber doch
die Beranlaffung wurde, daß er feine Apologie
ſchrieb und darin die Geſchichte ſeiner Ver⸗
treibung aus Leipzig erzählte.) Sehr gut
beſchreibt Thomaſtus den Staat oder das »ge⸗
meine Befen« alfo: 5 5 die En
J Witz bi hier einmal für immer N
daß faſt jede Schrift, die Thomaſtus bekannt
machte, Widerſpruch fand, ſo wie es ihm ſel⸗
ten an Vertheidiger fehlte Manche brachten
Satyren und Pasquillen zum Vorſchein, die
wiederum ähnliche Erſcheinungen don der an:
dern Sekte veranlaßten. Wir können uns un⸗
möglich darauf einlaffen, fie anzuführen; wir
werden es vielmehr nie thun, fo wie wir es
nicht gethan haben, als nur da, wo Thoma:
ſius ſelbſt ſeinen Gegnern antwortete. Auch
würden wir wol wenig Dank ärnten, wenn
wir dergleichen Schriften aus der Bergeffen:
heit zögen, die fie verdienen. Die beſſern
Gegner und Schüler des Thomaſius haben
Werke von Werth geliefert: die wir zu chara—
eferifiren der Literärgeſchichte überlaffen müſſen.
243
um gemeinen Friedens willen mit der höchſten
Gewalt verſehene Geſellſchaft.« Der Fürſt
„führte dieſe höchſte Gewalt. »Die Regalien
des Fürſten haben nur die Erhaltung des ge—
meinen Friedens zur Abſicht.« Darum »iſt
das Thun und Laſſen der Bürger, das den ge—
meinen Frieden nicht hindern noch befördern
kann, den Rechten eines Fürſten nicht unter—
worfen.« Aber »die bürgerliche Geſellſchaft iſt
wegen des Gottesdienſtes nicht gemacht, beför:
dert auch die Frömmigkeit nicht, hat den Got—
tesdienſt nicht erfunden, braucht auch ſelbigen
nicht als ein Inſtrument, die Uaterthanen zu
regieren. Dies iſt von dem innern Gottes—
dienſt der natürlichen Religion zu verſtehen,
aber »der reicht nicht hin zu des Menſchen Se—
ligkeit. « Gott hat den Menſchen offenbart,
wie er verehrt ſeyn wolle: ſelbſt den Ceremo—
nien nach. »Aber von der jüdiſchen Religion
und den Regalien der jüdiſchen Könige kann
man nicht (wie man doch nach dem Thoma—
—
ſius noch ziemlich allgemein meynte) auf die
chriſtliche, und die Regalien chriſtlicher Fürſten
ſchließen.« — Ein chriſtlicher Fürſt darf kei—
nem fremden Volk ſeine Religion aufzwingen
wollen, und »bey feinen eignen iſt er ſchuldig,
Q 2
*
AN. RE —
ihre Lehrſätze zu dulden, wenn fie gleich irrig
ſind, und ihre Kirchengebräuche, die ſie für
göttlich halten. « Aber »unter dem Prätext
der Religion braucht er nicht ſolche Lehren zu
dulden, die den allgemeinen Frieden und Ruhe
grade zu (directe) turbiren.« Kann der Zürft
entſtandene Spaltungen nicht heben, ſo ſoll er
die Partheyen dulden, aber keine gegenfeitige
Läſterungen erlauben; denn durch einen Rechts⸗
ſpruch darf er keine Meynungen in Religions-
ſachen entſcheiden wollen; und noch weniger
ſoll er dies Concilien, Synoden, Miniſterien
und Facultäten erlauben. Aber weil der Fürſt
für die Ordnung im gemeinen Weſen zu fors
gen hat, und die Kirche ſich im gemeinen We⸗
ſen befindet, ſo »gehört die Ordnung in den
Religionsſachen zu dem Rechte des Fürſten.«
Glaubt die Gemeine, ihre Kirchengebräuche
ſeyen von Gott befohlen, fo darf der Kürft fie
nicht gewaltſam ändern; in ſolchen Dingen
aber, die nach dem Geſtändniſſe der Gemeinen
zu den Mitteldingen gehören, hat er Macht
zu verordnen, was er dem gemeinen Weſen
am zuträglichſten hält. | |
Dieſe Sätze und andre, die x ihnen flies
ßen, find es, welche der Disputation des
245
Brenneifen zum Grunde lagen; und der junge
Mann trägt fie mit der lebhaften Polemik ge-
gen ſein Zeitalter vor, die man einen Jüngling
noch nie verziehen] hat. Er beruft ſich fo oft
dabey auf die Geſchichte, deren Werth jeder
Schüler des Thomaſius zu ſchätzen wußte, und
ſpricht dabey ſo derb wider die kormula con-
cordiae, daß D. Carpzov in Leipzig es ihm und
ſeinem Führer nicht vergeben haben würde,
wenn auch kein andrer Umſtand hinzugekom⸗
men wäre, der den Mann noch mehr gereizt
hätte. Dieſer Umſtand war, daß Carpzovp ſelbſt
ſchon, ohne daß Thomaſius feiner Verſicherung
nach es wußte, den Titel einer Disputation be:
kannt gemacht hatte, »vom Rechte theologiſche
Streitigkeiten zu entſcheiden,« *) deren Inhalt,
wie man leicht vermuthen mag, »das lutheri—
ſche Pabſtthum« begründen ſollte. Dawider
ſtießen die Grundſätze Brenneiſens und feines
Lehrers; darum erzählte Carpzov feiner Ge:
2
meine ſogleich, »daß an einem benachbarten
Orte, wo aller Unflat zuſammen fleußt,« eine
Disputation gedruckt und gehalten ſey, die
gottloſe Lehren enthalte. Um fie aber deſto
1
) de jure dedicendi controversias theologicas.
*
246
beſſer wiederlegen zu können, bediente er ſich
eines Kunſtgriffs, den mon, wie Thomaſtus
fagt, der päbſtlichen Kleriſey abgeborgt hatte.
Er bewirkte durch ſeinen Bruder, den Conſi⸗
ſtorial⸗ Aſſeſſor, daß nicht nur dieſe Disputa⸗
tion, ſondern auch der Monzanbano, der So:
lien wegen, welche Thomaſius ihm beygefügt
hatte, in Sachſen konfiscirt wurden. Darauf,
als kein Menſch das Buch mehr hatte, ließ er
ſeine Disputation drucken, und machte ſei⸗
nen Leſern weiß, er habe Thomaſius und
Brenneiſen widerlegt.) Aber jener begleitete
I
„) Thomaſtus fagf von diefer Disputation; „ich
halte es für eine Schickung Gottes, daß Herr
Carpzovius fie ſchreiben müſſen. Der Papiſti⸗
ſche Clerus hat fonften ein Axioma: man ſollte
des Vaters Noä Schaam nicht aufdecken, Dank,
man ſollte die Irrthümer der Cleriſey nicht of:
fenbar machen. Aber ich meine in dieſer Dis»
putation hat Noah ſeine Schaam felber ent⸗
decket. Denn es wird fo offenbar darinnen
großen Herrn ihr ganzes Jus circa sacra ge-
nommen und zu einem Strohwiſch gemacht,
daß man über die Verwegenheit erſchrickt; und
der Cleriſey wird alle weltliche Macht in die
Hände gegeben, daß es auch ein Jeſuit nicht
Ä 247
ſpäterhin dieſe Disputation des Carpzov mit
Noten, die ſie verdiente, und die ihren Zweck
und ihren Werth nicht verhfillt ließen; dieſer
aber gab, 1696, ſein »Recht Evangeliſcher Fürs
ſten in theologiſchen Streitigkeiten« zu feiner
Vertheidigung heraus; und diefer Vertheidi⸗
gung fügte Thomaſius feine Apologie bey, wor⸗
in er die Geſchichte ſeiner Händel in Leipzig
erzählt; und weil das Urtheil der Schöppen
daſelbſt wider ihn, daß es des Verhafts wür⸗
dig ſey, nicht, obwol er ſich Mühe darum ge⸗
geben, aufgehoben war, und alſo bey Man—
chem noch ein Verdacht gegen ihn exiſtiren
konnte: ſo benutzte er dieſe Gelegenheit, ſich
gegen jede Beſchuldigung zu vertheidigen, die
man, ſo viel er wußte, gegen ihn vorgebracht
hatte.) Dieſe Vertheidigung, bey deren Ab—
ärger machen können. Und doch müſſen der⸗
gleichen Schriften rauoniſiret, und die Politici
beredet werden, als wenn an derſelben die
Wohlfahrt der ganzen Evangeliſchen Kirchen
hinge, hingegen Thomaſti Schriften ſeyn gott;
loſe, Majeſtät läſternde, Atheiſtiſche, die Evan:
geliſche Kirche kränkende u. ſ. w. 2%
) Sie find in dem Bedenken des Oberhofpredi—
gers Carpzav über den Pietismus, wovon wir
248
faffung er Gott gebeten, feine Feder zu regie:
ten, daß er nicht mit Zorn und Bitterkeit ſchrei⸗
ben möge, um ſeine Oſtergedanken nicht Lügen
zu ſtrafen, geht bis zu Brenneiſens Disputa⸗
tion herab, und iſt mit Würde und Kraft ver⸗
fertigt.) Und wie ſehr Thomaſius die Ger
oben ſprachen, enthalten. Beym Conſtſtorio
konnte Thomaſius es nicht dahin bringen, daß
ihm die Anklage femmunicirf wurde. |
) Am nachdrücklichſten und faſt am weikläuftig⸗
ſten vertheidigt er ſein ungünſtiges Urtheil von
der formula concordiae, welche den Theologen
- „Das palladinm ihres After-Pabſtthums war. c
Er erklürk ſie — da ſie nicht eine ſimple Con ·
feſſion des Glaubens, fondern ein Zwangbuch
ſey, was geglaubt werden fol — für ein
böchſt gefährliches und antichriſtiſches Buch,
das Unduldſamkeit, Verketzerung, Verjagung
von Haus und Hof, Aufruhr und Zwieſpalt,
Mord und Todtſchlag veranlaßt habe, welches
er aus der Geſchichte zu erweiſen ſich erbietet;
und daß fie dergleichen noch ferner thun wer⸗
de, darüber appellirt er an die Erfahrung der
Zukunft. — Wegen dieſen Behauptungen gab
Friedrich Auguſt, jetzt König von Pohlen, noch
1679, der Univerſität Leipzig den Befehl, dieſe m
gefährlichen Prineipia zu widerlegen. 1696
. 249
rechtigkeit ſeiner Sache fühlte, und die Ueber⸗
legenheit ſeines Geiſtes kannte — welches bey⸗
des aus den gegenſeitigen Schriften ohnehin
anerkannt werden muß, — davon iſt das ein
Beweis, daß er, zur endlichen Ausgleichung des
Handels, votſchlägt, daß eine unpartheyiſche
Commiſſion darüber richte, oder, Falls dies
nicht annehmlich ſcheinen ſollte, daß die Sache
durch öffentliche Disputationen abgethan wer⸗
de, weil die Weitläuftigkeit des Schriftwech⸗
ſels ihm unerträglich geworden ſey. Dabey ges
Hehe er der ganzen Zahl feiner Gegner acht
Tage zu, um ihn für jeden beliebigen Satz ſei⸗
ner Schriften anzugreifen; er aber verlangt
allein nut Einen Tag, um ſie in ihrer armen
Blöße darzuſtellen. — Seine Gegner haben
die Herausfoderung, oder vielmehr dieſe Be⸗
reitwilligkeit zur Verantwortung, (denn eine
aber wird der Lehre wegen, die wir jetzo be
kennen,“ geboten, ſich aller harten 1 bit⸗
tern Ausdrücke gegen den Thomaſtus, »die wir
nicht anders als ſehr mißfallig vernehmen kön⸗
neu zu enthalten, und das Conßgciren einzu⸗
ſtellen. Dieſer Befehl ift an das Geheimeraths⸗
Dirxectorium. Thomaſtus hat bepde ohne Noten
abdrucken laſſen.
2 | u
„ eee eee e e e e S W 00 0
250
Herausforderung ſchien dem frommen Mann
zu ruchlos) nicht angenommen; wenigſtens hat
der Dispüt nicht Statt gehabt, aber ſie kon⸗
fistieten feine Schrift, fobald fie erſchienen war.
Ein andres Werk, welches Thomaſius noch
1696 herausgab war »die Ausübung der Sit⸗
tenlehre« oder »von der Arzney wider die un⸗
vernünftige Liebe, und der zuvor nöthigen Er⸗
kenntniß feiner ſelbſt.« Sie fährt auf die Weir
ſe fort, wie die Einleitung angefangen hatte;
ſie zeigt, was iſt, nicht was ſeyn ſoll; aber
ſie ſagt manche ſchöne und kräftige Wahrheiten,
die nur eine große Kenntniß der Menſchen
dem gemeinen Leben abſehen konnte. Beſon—
ders ſcharfſinnig zeigt ſich Thomaſius, wo er
die Scheintugenden aus der Vermiſchung der
Laſterhaften Affecten hetleitet. Aber während
der Arbeit ging ihm ein Licht auf, wovon er,
wie wir bey der Einleitung in die Sittenlehre
erwähnt haben, vorher keine Ahndung gehabt
hatte. Nemlich er kam auf die Frage: wie
die Beſſerung des Menſchen möglich ſey? und
er hilft ſich hier auf eine Art, die ihm, bey
feinem Pietismus eben fo beruhigend ſeyn muß-
te, als ſie, nach unſerer Meynung, ſcharfſinnig
iſt. In dem vorletzten Capitel handelt Tho⸗
251
mafius erſt eigentlich von der Arzeney wider
die unvernünftige Liebe, oder von dem, was
die Vernunft lehrt, als das Mittel zur ver—
nünftigen Liebe zu gelangen. Er giebt dabey
keinen kathegoriſchen Imperativ, aber doch,
wie er es ſelbſt nennt, manchen Handgriff, der
nützlich ſeyn würde für den Zweck »bey einem
guten Vorſatz.« Thomaſius war nicht der
Mann, der ein folches Wort ſchreiben konnte,
ohne wenigſtens ſich ſelbſt Gründe darüber an—
zugeben; daher fragte er ſich weiter: aber wo⸗
her denn dieſer gute Vorſatz? Carteſius und
Ariftoteles gaben ihm freylich eine Antwort;
aber da dieſe ihm nicht genügte, ſondern es
vielmehr ſchien, ſie hätten den Hauptpunct um⸗
gangen, ſo waren ihm Luthers Grände gegen
die Freyheit des Willens deſto überzeugender.
Er hatte gezeigt, daß Verſtand und Wille glei:
chen Schritt halten, und zugleich verdorben
und beſſer werden; oder wenn der eine ja ab—
hängig wäre von dem andern, ſo ſey es der
Verſtand von dem Willen und nicht umgekehrt.
Darum ſagt er jetzt: »Wille muß durch Wille
beſtritten werden, und wenn wir tugendhaft
werden wollen, muß ein guter Wille den bö—
ſen beſtreiten. Wo will der Menſch aber den
De — — —
len wir tugendhafte Leute finden, die das kleine
Fünkchen der vernünftigen Liebe, das bey uns
232
ET
guten Willen hernehmen, indem er noch in
dem Stande iſt, daß er den herrſchenden böſen
: x
Willen für etwas Gutes hält, und da der gu:
te Wille von dem Böſen annoch gefeſſelt ge⸗
halten wird.« Daß dies durch eine Einwir⸗
kung von außen, durch einen andern guten
Menſchen geſchehen könne, iſt eine Antwort,
die weder den Thomaſius, noch irgend einen
Denker, befriedigt. »Denn, fragt er, wo wols
iſt, ſtark befeuren ſollten, indem wir ſie, wenn
es ihrer anch giebt, ja nicht kennen können,
weil wir ihnen ſo ungleich ſind? Und es iſt
gewiß, daß wir nur das lieben, was uns gleich
kommt.« Daher ſchließt er, »es ſey höchſt
falſch, daß der Menſch einen freyen Willen
habe.« Da aber dieſe Behauptung nicht nur
ſeine Sittenlehre überflüßig zu machen ſchien,
ſondern auch alle Zurechnung und alle Gerech—
tigkeit der Strafen aufzuheben drohte, was
den Thomaſius gefährlich und frevelhaft dünk⸗
te; ſo ſuchte er dieſer Folge dadurch zuvor zu
kommen, daß er die Eine Seite des Willens,
zum Schlimmerwerden hin, frey ließ, und dem
Menſchen ein Vermögen beylegte, ſich wenig—
A 253
—
ſtens zu halten, daß er nicht immer tiefer fin:
ke. Denn das Gewiſſen — er nennt es das
Fankchen vernünftiger Liebe — mahnt doch den
Menſchen, auch den verdorbenen und elenden:
und er vermag, wenn er auf die Mahnung
achtet, das zu erreichen . daß er nicht ſchlim⸗
mer werde. Dieſes macht die Zurechnung mög⸗
lich; aber für die Beſſerung kann keiner Troſt
aus der Sittenlehre holen. Den will aber auch
dieſe nicht geben; ſondern ihr Zweck iſt nur,
den Menſchen ihren Mangel fühlbar zu ma⸗
chen, und ihn auf dieſe Weiſe zu einer heili⸗
gen Wiſſenſchaft zu führen, zur Theologie.
»Wo demnach die Sittenlehre aufhöret, da
ſuppliret die göttliche Weisheit deren Defect
und Mangel. Die Sittenlehre gehet nicht weis
ter, als daß ſie dem Menſchen den Stand der
Beſtialität zu erkennen giebt, und ihn von
dar zu dem Stand der Menſchheit leitet. Wie
er aber von der Menſchheit und bloßen Vernunft
ab» und zum wahren Chriſtenthum gelertet
werden ſolle, das zeiget die heilige Schrift, und
7 „Die Erkenntniß des Unvermögens natürlicher
Kräfte if die erſte Berührung göttlicher Gnade
und des Lichts der Natur,“ ſagt Thomafius ir
gendwe, vielleicht eben fo wahr, als ſchön.
254 | |
dazu hilft ihm die göttliche Gnade.« Und jo
ſtimmte Thomaſius nicht nur mit ſich ſelbſt
überein, ſondern er knüpfte auch den Menſchen
an den Himmel, den ihm das Chriſtenthum,
nach ſeiner Anſicht, verſprach; und wenn er,
beym Mangel höherer Principien, es auch
nicht aus ſeiner Philoſophie begreifen konnte,
daß die Möglichkeit der Sittenlehre unmög⸗
lich in der Sittenlehre und von der Sitten⸗
lehre bewieſen und begriffen werden kann, ſo
zeigt doch der Ausweg, den er nahm, daß er
weiter gedrungen war, als es gewöhnlich iſt.
Nach einigen Jahren ſchien ihm dieſe Auskunft
nicht mehr nöthig; welche Einſicht ſie ihm
dann entbehrlich machte, werden wir zu ſeiner
Zeit nicht unberührt laſſen. ie
| Thomaſius hing ſeiner Gittenlehre einen 1
„Beſchluße an, in welchem er ſich über den
Zuſammenhang der philoſophiſchen und der
Sittenlehre Chriſti erklärt, und gleichſam ſein
Bekenntniß über das Chriſtenthum darlegt.
Er ſpricht darin, ohne die phantaſtiſchen Ne⸗
belgeſtalten der myſtiſchen Schwärmer, eine
fo ſchöne Religioſität und einen fo hohen, Ein:
heit ahndenden, Glauben aus, daß es uns we⸗
he thut, daß wir dieſen Beſchluß nicht, faſt
*
299
ganz, abſchreiben dürfen: aber er iſt nicht nach
dem Sinn der aufgeklärten Welt.“) Er en:
digt damit, daß er dar Welt, vielleicht vielen
zum Troſt, verkündet, er wolle etliche Jahre
die Feder niederlegen. Unter die Urſachen ſetzt
) Das Eine wollen wir wenigſtens nicht unan⸗
geführt laſſen, weil es beweiſet, daß die Welk-
anſicht des Thomaſtus wahrhaft religios war —
daß er ſagt, er glaube, „daß nur Eine Selig—
keit des Menſchen ſey, die in dieſer Welt an—
gefangen und in jenrr vollendet werden müſſe;
denn wie der Baum fällt, ſo bleibt er lie⸗
gen.“ — „Ich glaube, heißt es nachher, daß
Gottes heiliger Geiſt, der Geift der Weisheit
und der Erkenutniß, das Hauchen der göttli⸗
chen Kraft, und der Strahl der Herrlichkeit
des Allmächtigen, den Menſchen gebe die Weig-
MT, durch die ſie ſelig werden.“ Vielleicht iſt
es nöthig, zu ſagen, daß dieſe Stelle grsßeru⸗
theils aus dem Buche der Weisheit iſt. Tho⸗
maſtus führt mehrere Stellen daraus an, und
räth es mit einfältiger Andacht zu leſen. Und
wir können nicht umhin, es fonderbar zu fin:
den, daß dieſes Buch faſt von niemand geleſen zu
werden ſcheint, da es doch Stellen enthält, die
man bewundern und zu Motto's wählen wür—
4
de, wenn fie ein Grieche geſchrieben hätte.
*
230 5 un
er auch dieſe, die ſeinen Zeitgenoſſen wol
nicht ſchmeichelte, daß man die Perlen nicht
vor die Säue werfen müſſe. Wer aufrichtig
Wahrheit ſuche, der habe in dieſem Theile der
Sittenlehre ſchon den Schlüſſel, der ihm die \
Pforte zu ihren erhabenen Hallen eröffnen
könne; wer ihn aber nur aus Neugierde, und
darum leſe, andre Leute fadeln zu lernen u. f.
w. — dem würde die Wahrheit zu Gift wer—
den. »Endlich die Feinde der Wahrheit hät⸗
ten ſchon an feinen bisherigen Schriften auf
etliche Jahre genug zu verdauen, und die Kö⸗
pfe daran braun und blau zu zerlaufen.«
Dieſe Drohung, eine Zeitlang nicht zu
ſchreiben, wiederholte Thomaſius in einem |
„Bericht, « in welchem er ſich entſchuldigte, daß;
er Bücher, die er herauszugeben verſprochen
hatte, nicht herausgeben könnte. ) Er hielt
auch wirklich in ſo fern Wort, daß er in den
nächſten Jahren weniger ſchrieb als bisher;
wenn es aber bey ſeinem Entſchluß ſein
Wunſch war, wie er in den Oſtergedanken äu—
ßert, »aus dem Beruf, in welchem er in der
Welt ſtand, heraus zu kommen, und es dahin
zu
) Bericht de libris edendis. 8
| 267
zu bringen, daß feiner vergeſſen würde, wie
eines Todten,« fo hätte er ſich auch nicht auf
Disputationen einlaſſen müſſen, welche die Sei—
te berührten, wo die Theologen ſo empfindlich
waren. Er ſchrieb nemlich im Jahr 1697 zwey
Disputationen, wovon die eine die Frage un⸗
terſuchte, »ob Ketzerey ein firafbares Verbre—
chen ſey?« und die andre, nachdem jene ſchon
einen gräulichen Lärm verurſacht hatte, das
»Recht des Fürſten gegen die Ketzer« erörter—
te.“) Wie Thomaſius zuerſt zu Unterſuchungen
dieſet Art gekommen war, das iſt erzählt wor⸗
den; und daß er, als er in ſo heftige Strei⸗
tigkeiten mit den Theologen gerieth, auf den
Gedanken kam, den Urſprung ihrer Anmaßun⸗
) Die eine hatte den Titel: problema jnridicum,
an haeresis sit crimen ? ans die andre De jure
principis circa haereticos. Jene iſt im aten
Bande der Diſfertationen die 35, dieſe die 37.
Deutſch ſtehen ſie unter dem im Text angege—
benen Titel in den auserleſenen Schriften. Die
„dreyfache Rettung des Rechts evangeliſcher
Fürſten in Kirchenſachen“ 1702 und ns Recht
ebangeliſcher Fürſten bey Leichenbegängniſſen,“
ruhen ebenfalls mit jenen auf gleichen Grund⸗
ſätzen; darum haben wir ſie nur in einer Note
anführen Wen
97
258
gen, wovon et in der Bibel nichts fand, in
der Geſchichte aufzuſuchen, war eben ſo natür⸗
lich, als für das Allgemeine höchſt nützlich.
Die Unduldſamkeit, welche die Pietiſten erfuh:
ren, die er ſchätzte, und mit denen er überein⸗
ſtimmte, wenn er ſich auch nicht öffentlich mit
ihnen verband, mußte ihn beſonders darauf
bringen, daß er auf das Verfahren, welches
man von jeher gegen die Ketzer beobachtet hat⸗
te, und auf die Rechtmäßigkeit dieſes Verfah⸗
rens ein achtſames Auge richtete; nnd da er
ſich zu dem richtigen Begriff vom Fürſten er⸗
hob, daß er der Führer der höchſten Gewalt
ſey um des gemeinen Friedens willen, ſo konn⸗
te die Antwort nicht anders ausfallen, als daß
er der Obrigkeit das Recht abſprach, die Ketzer
zu beſtrafen. Die beyden angeführten Dispu—
tationen ruhen denn auch gänzlich auf dieſem
und den andern Sätzen, die wir aus dem Rech—
te des Fürſten in Religionsſachen angeführt
haben, und wir hätten ihrer ſo wenig, als ſei⸗
ner übrigen Disputationen erwähnt, wenn er
nicht ihrentwegen von vielen Seiten für mein:
eidig und einen Gottesläſtrer erklärt wäre.
Wundern darf man ſich darüber nicht; denn
Thomaſius zeigte ſo klar aus der Geſchichte,
259
| daß man nie gewußt habe, was eigentlich ein
Ketzer ſey; zeigte fo klar aus der Geſchichte
»die Practiquen der Pfaffheit, wodurch fie die
Geſetze gegen die Ketzer ausgewirkt,« als er
die Schaamloſigkeit derſelben aus der Ver—
nunft, und aus der Vergleichung der alten Zeit
mit der neuen die Fortdauer des Pabſtthums
unter den Proteſtanten bewies. — Die ohn—
mächtige Wuth der Pfaffen gegen den Thoma—
ſius und feine Disputationen — wovon die
erſte in einem ſehr lebhaften und oft ſatyri—
ſchen Dialog verfaßt iſt, der ſchon beweiſet,
daß die Oſtergedanken der eigentlichen Natur
des Thomaſtus nicht entfloſſen waren ) —,
die Wuth der Pfaffen, ſage ich, hat aufgehört,
aber die Wahrheit ſeiner Äußerungen und Bes
hauptungen waren für das Kirchenrecht we—
ſentlich, machten auf die beſſern einen bleiben—
den Eindruck, und trugen gewiß nicht wenig
) Ich habe in dieſem Dialog S. 267 ein Zeit⸗
wort gefunden, was mir noch ſonſt nicht vor
gekommen iſt, ein Zeitwort ſchlegeln. Co:
viel ich aus dem Zuſammenhange verſtehe —
und es kommt nur einmal vor — fo beißt es:
falſche Schlüſſe machen oder ſchlecht räſonniren
aus einer petuio principii. |
R 2
260 | |
bey, den heiligen Geiſt der Duldſamkeit aus
zugießen, der nur von denen geläſtert werden
kann, welche Religioſttät mit Pfaffenthum ver⸗
wechſeln, und welche in der Geſchichte die Recht⸗
gläubigkeit und Religionstyranney ihr furcht⸗
bares Recht nie üben ſahen. Gleichgültigkeit
gegen die Religion iſt von Toleranz verſchie⸗
den; und wenn ſie ſich an dieſe anzuſchließen
ſcheint, ſo iſt das kein Beweis, daß fie eine
Tochter derſelben ſey— Die Religioſttät ift to⸗
lerant, wenigſtens iſt fie es beym Thomaſſus,
Spener und andern; und es ſcheint, daß das
Gefühl des Mangels derſelben nur mit der
Intoleranz verſöhnen, und ſie wol gar wün⸗
ſchenswerth machen kann. Diejenigen aber,
welche das Zeitalter zurückzudrehen ſtreben,
und durch erborgte myſtiſche Ausdrücke einen
Glauben heucheln, den ſie nicht haben und
nicht haben können, um die Vergangenheit
wiederum in die Zukunft zu ziehen — die han⸗
deln im verkehrten Sinn, zeigen ſich als ſchlech⸗
te Philoſophen, und verſtehen nicht, daß die
Entwickelung des Lebens und das Zeitlichwer—
den des Ewigen nur darin beſteht, daß jeder
Augenblick etwas Neues bringt, was der vor:
hergehende nicht begreifen konnte.
261
f Das folgende Jahr hindurch beobachtete
Thomaſius ſein literariſches Schweigen; aber
er bearbeitete unterdeß, wie es ſcheint, Beyträ—
ge für den frommen Arnold zu feiner befanns
ten Kirchen- und Ketzerhiſtorie, die in den bey:
den nächſten Jahren herauskam. Vielleicht
wäre das Werk ohne den Thomaſius nicht zu
Stande gekommen; aber, da wir nicht wiſſen,
was er daran gethan hat, ſo müſſen wir uns
| auf dieſe Bemerkung beſchränken, und das Ver⸗
dienſt oder Unverdienſt des Werks dem Arnold
gänzlich laſſen. Zugleich widmete ſich Thoma:
ſius, wie zu vermuthen iſt, den Pflichten, die
ihm als Lehrer der Akademie oblagen, und üb⸗
te ſeinen Geiſt an höhern Speculationen, deren
Frucht »der Verſuch vom Weſen des Geiſtes«
war, den er 1699 herausgab. Wenn der Bey—
fall der Welt den Werth eines Buchs entſchie—
de, was nicht der Fall iſt, ſo würde dieſes von
allen Thomaſiſchen das ſchlechteſte ſeyn; abſo—
luten Werth hat es auch wol nicht; aber für
das Streben eines lebendigen Geiſtes nach
Einheit des Menſchen und der Welt iſt es ein
eben ſo ſchöner Beweis, als manches bewun—
derte Syſtem, das mit der Miene der Infalli—
bilität hervortritt, auf die Thomaſius, wie er
262
auch eben nicht Urſache hatte, nie Anſpruch
machte, und in dem Gange ſeines Lebens bezeich⸗ |
net es eine bedeutende Stelle. ) Wir kön⸗
nen aber nichts thun, als etwa die Anſicht dar⸗
legen, die uns dabey zum Grunde zu liegen
ſcheint; denn einmal läßt ſich kein Auszug aus
dem Buche liefern, und dann war Thomafius
auch nicht der erſte, der ſich — ſoll ich ſagen,
zu dieſer Höhe erhob, oder in dieſen Abgrund
vertiefte? Und um ſeine Anſicht zu bezeichnen,
dürfen wir nur ſeine Vorgänger nennen; es
waren Fludd,“) Commenius, ) d'Eſpagnet, 5)
und vielleicht auch Jacob Böhme, wiewol er
den letztern nicht unter denen nennt, die nit
ihm übereinſtimmten. Schon in frühern Jah⸗
) Die confessio doctrinae suae, von der wir oben
togeen daß wir ſie nicht geſehn hätten, ent⸗
hält nach den Auszügen, die Brucker daraus
anfübref, ſchon vieles aus dieſem Buche. |
) Sein Werk hat den Titel: Philosophia Mo-
saica 1638 fol. Alk N 0
%) Sein Enchiridion Physicae restitutae erſchien
1623. 12. zu Paris.
) Von feiner Physices ad lumen divinum refor-
matae Synopsis giebt es eine Edition von
1663. 12.
263
ren hatte Thomaſius das Verfahren der Phy:
ſiker verlacht, welche die wunderbaren Erſchei—
nungen der Natur, die vielleicht unerklärbar
find, nicht nur zu erklären ſich bemühten —
welches er ihnen gern erlauben wollte —, ſon—
dern auch erklärt zu haben meynten, wenn ſie
an ein Wort, was eben ſo dunkel war, als die
Urſache der Erſcheinungen, und nur ihr Unver⸗
mögen beglaubigte, ihre Erklärung anknüpften.
Die Wörter: Kraft, verborgene Qualität, Anla—
gen u. ſ. w. nannte er ſchon damals Zufluchtsör⸗
ter der Unwiſſenheit; ) und weil er fig nicht ges
trauen mochte, weiter zu kommen, als die andern,
ſo hatte er das Studium der Phyſik ganz aufge—
geben, die Philoſophie in engern Gränzen ge-
halten und ſich mit Dingen beſchäftigt, wie
wir geſehen, die unverkennbar eingreifen in das
Leben der Menſchen. Als er ſpäterhin, wie er—
zählt iſt, mit den Pietiſten in Verbindung kam,
) Von dem Worte Kraft ſagt er oft, es ſey ein
Asylum ignorantiae, und von der qualitas oc-
culta macht er in feinem Journal folgende De—
finition: qualitas occulta est vocabulum elegan-
ter sonans cujus vi Physicus ignorantiam suam
obvelare et incautam juventutem occulte pecu-
nia emungere potest.
—
und ſeine Verhältniſſe es nothwendig machten,
dieſe Verbindung zu erhalten, ſo wurde er von
dieſen, indem im Widerſtreite der Welt ihre
offene Frömmigkeit nach und nach zur gutge⸗
meynten, aber ausſchweifenden Schwärmerey
getrieben war, in die Schriften der genannten
und andrer Myſtiker eingeweiht, wie er durch
die Herausgabe von Poirets Buch an den Tag
legte. Vey der Ausarbeitung der Ausübung
der Sittenlehre hatte er nun ferner gefunden,
daß ſie den Grund ihrer Möglichkeit nicht in
ſich ſelbſt habe; und da er ſich durch die Kraft
des klaren Denkens das, was ihm dort unbe⸗
greiflich war, nicht auflöſen konnte, ſo mußte
die göttliche Gnade, eingreifend, wo die na⸗
türliche Kraft aufhört, ihm das Fehlende er⸗
ſetzen. Und als er dieſes Eingreifen der Gott⸗
heit in die Natur bey den Myſtikern ſo weit
durchgeführt fand, ſo konnte ihm Hoffmanns
Experimentalphyſik nicht genügen. Er hatte
ſich an dieſen gewandt, um zu erfahren, ob er
jetzt mehr aus den Experimenten erkennen
möchte, als ehemals; aber bey feiner Vertraut⸗
heit mit dem Sinn der Myſtiker, der deſto
göttlicher ſcheint, jemehr er die Natur als ein
Ganzes umfaßt, und ſich nicht auf das Einzel⸗
265
ne, welches er für kleinlich hält, einläßt, konn⸗
te er mit der Langſamkeit der Experimentir—
kunſt, welche aus den Erſcheinungen die Regel
hetleitet „ ſich nicht verſöhnen; fondern er
meynte, die Regel müßte zuvor aufgeſtellt ſeyn,
und die Experimente, die ſonſt die Koſten nicht
vetdienten, müßten fie nur beſtätigen. Daher
gerieth er auf den Gedanken, die Natur a
priori zu konſtruiren, und er beredete ſich leicht,
daß es geſchehen ſey, da er nur ſo lange ver⸗
einigen und trennen, drehen und wenden durf⸗
te, bis das herausgebracht war, was, wie er
ja vorher wußte, herausgebracht werden ſollte:
die Welt, wie ſie ihm gegeben war. In der
Freude darüber, daß die Natur, wie er fie /
vorfand, erklärt ſey, überſah er, wie es vielleicht
vielen geht, die Mängel ſeines Syſtems, deſ—
ſen Nichtigkeit ihm eingeleuchtet haben würde,
wenn er das, was werden wird, hätte konſtrui⸗
ren wollen; wer aber behauptet, er habe die Ge—
genwart a priori dargeſtellt, der ſollte das, wie
es ſcheint, doch auch von dem Künftigen Fön:
nen. Um das Leben erklären zu wollen, muß
man freylich leben; aber deßwegen iſt es auch
im Leben unerklärlich. Thomaſius kam alſo
mit feinen Lehrern auf die uralte Idee von eis
266 RS | a:
nem allgemeinen Weltgeifte zu deſſen Beſchrei⸗ N
bung das Buch der Weisheit manche Farbe |
lieh, der, ewig ſich gleich und ewig neu, . in
Allem geſtaltet, was war und iſt, im Metall,
wie in der Pflanze, im Thiere, wie im Men⸗
ſchen. Wie aber aus dieſem Geiſte, von deſ—
ſen Thätigkeit die Materie zuerſt das litt, daß
ſie von ihm das Seyn erhielt, Alles wurde,
die verſchiedenen Geiſter, die guten und böfen |
u. ſ. w. das kann, wem daran liegt, es zu
wiſſen, nur in dem Buche ſelbſt nachleſen.
Ob die Idee, die ihm zum Grunde liegt,
nicht ſonſt von andern beſſer ausgefügre iſt,
daran zweifeln wir nicht (denn des Thomaſius
Unwiſſenheit in der Phyſik iſt ſehr groß); viel: |
leicht wird fie es noch immer mehr. Denn,
wie die Idee von jeher die Menſchen beſchäf—
tigt hat, ſo wird ſie es auch in der Zukunft
thun; aber, wenn das auch ein Beweis wäre,
daß ſie wahr iſt, ſo folgt daraus noch nicht,
daß die Aufgabe, die ſie aufſtellt, gelöſet wer—
den kann. Denn will man bloß darthun, daß
alle Veränderung nur eine Erſcheinung Eines
und deſſelben ewigen Geſetzes iſt in einer an—
dern Form: ſo wird ſich auch die Zukunft leicht
erklären laſſen. Will man aber die beſtimm—
267
ten Formen ableiten, in welchen das ewige
Geſetz künftig anders und anders erſcheinen
wird, und will man aufzeigen, was dieſe be—
ſtimmten Formen grade zu dieſen beſtimmten
Formen macht, ſo dürfte das unmöglich ſeyn.
Will man es aber nicht, etwa weil man nicht
kann, ſo erregt man den Verdacht, daß es mit
der Ableitung des Gegenwärtigen und Gege—
benen auch nicht ſo ganz richtig zugegangen
ſey. Und fragen darf man auch: wenn der
Menſch hier Alles löſen könnte, welchen Zweck
behielte die unendliche Zukunft? .
So wie Thomaſius bey ſeiner Schrift, ich
möchte ſagen, mit einem zuſammengehaltenern
Geiſte und mit einem mehr beſonnenen Ver—
ſtande zu Werke gegangen war, als es bey
Schriften dieſer Art der Fall zu ſeyn pflegt,
ſo zeigte er auch durch eine Disputation »über
die Freyen und Leibeigenen der Germanier,« *)
daß dieſe Dinge nicht feine ganze Seele be:
ſchäftigten; “) aber dieſe kurzen Andeutungen
9 b propriis et liberis Germanorum.
) Um den Ton, in welchen die Diſſertation ge:
ſchrieben iſt, zu zeigen, wollen wir eine Stelle
daraus überſetzen: fie wird unſern Ausdruck
rechtfertigen. — Thomaſtus warnt, dem Tas
g
7
7
hat er in ſpätern Schriften weiter ausgeführt,
und das überhebt uns, mehr darüber zu ſagen.
Vom Jahre 1700 fing Thomafius in Ver⸗
bindung mit dem Buddeus an, die bekannten
* 5 * 9 |
citus nicht Alles ſo blindlings zu glauben,
denn er habe die Germanier nur vom Sören:
ſagen gekannt, und zwar nur die ans römi⸗
ſche Gebiet grönzenden. Ex zeigt an einzelnen
Beyſpielen, wie Tacitus, (Oer die Germanier
nur im Geena gegen die Römer babe dar⸗
ſtellen wollen, zur Beſchämung der Letztern),
zu feinen Verſicherungen gekommen war, z. B.
zu der, daß fie, wenn fie nicht Krieg führten
oder auf der Jagd wären, die Zeit mit Schla-
fen und Schmauſen zubrächten. „Deutſche
Sklaven, ſagt er, begleiteten ihre Herren in
Rom in die Curie, ins Bad, aufs Forum, ins
Theater u. ſ. w. Während fie ihren Herren
zuſahen, ſchliefen fie vor langer Weile ein.
Die Römer wunderten ſich darüber: aber Ihr,
was macht ihr denn zur Zeit des Friedens?
Wir jagen. Was denn? geht ihr nicht in die
Curie? Nein. Ins Bad? Auch nicht. Doch
aufs Forum 2 Bewahre. Wer beſorgt das
Haus? die Weiber. Wer die Acker? die Al⸗
ten. Und Ihr? — Was konnten fie antwor⸗
ten? Nichts anders, als: Nichts, d. h. nichts
269
»Halliſchen Bemerfungen«e )) herauszugeben.
Wir rechnen ihm das aber nicht ſehr zum Ver—
dienſt an, und glauben genug gethan zu ha:
ben mit der Anzeige, daß es geſchehen. Denn
die Wiſſenſchaften wurden dem Weſen nach,
wenigſtens von Seiten des Thomaſius, eben
nicht weiter dadurch gebracht, und auf die Pir
teratur unſers Vaterlandes konnten ſie ſchon
deßwegen keinen Einfluß haben, weil ſie lateiniſch
geſchrieben waren. Unter den Auffägen, die Tho:
maſius ſelbſt dazu geliefert, iſt keiner, der, wie
son dem was ihr Römer thut. Die wunder
ten ſich und ſagten (Thomaſtus ſagt es ſelbſt
deutſch): die Kerls thun doch nichts, als daß
a fie freſſen und ſchlafen.“ — Die Liebe zum
Trunk, die Tacitus den Deutſchen Schuld gä⸗
be, habe man ihm nachgeſprochen, um ſich da:
mit entſchuldigen zu können, (wiederum d eutſch)
„daß es ein altes löbliches Herkommen ſey,
und daß die alten ehrlichen Deutſchen ſchon
für tauſend Jahren fo gern getrunken.“ —
uebrigens hat er auch andere Gründe und beſ—
ſere aus dem Tacitus gegen den Tacitus.
) Observationes selectae ad rem litterariam spe-
cläntes.
270
es uns ſcheint, etwas Neues enthielte, was er
nicht in andern Schriften auch geſagt hätte. *
Ein wahres Verdienſt aber erlangte Tho:
maſius dadurch, daß er die Chriſten von der
Neigung zu den gräulichen Schandthaten los⸗
riß, womit der Glaube an den Teufel und ſei⸗
ne Verbündete ſie ſo ſchrecklich befleckt hatte;
daß er die Unſchuld gegen die furchtbaren An⸗
klagen der Verläumdung, der Bosheit, und der
Unwiſſenheit ſicher ſtellte, und den Weibern,
nach Friederichs des Großen Ausdruck, das
Recht vindicirte, in aller Sicherheit alt zu wer:
den: aber dieſes Verdienſt war doch mehr zu—
fällig, als daß er es ſich erworben hätte. Wir
brauchen die alberne Vorſtellung von der He—
rerey, und die eben fo ſinnloſen als phanta⸗
ſtiſch⸗ verwirrten Erſcheinungen, die man aus
ihr herleitete, nicht ausführlich zu beſchreiben;
ſie hat ſich durch die Tradition noch allgemein
genug erhalten, obwol fie im Ganzen für das
erkannt wird, was ſie iſt. Auch iſt es niche
6
) Er hat 20 Beyträge geliefert, die in den 6
erſten Bänden vertheilt ſtehen. Viele davon
betreffen die Schulen; einige die Moral und
das Naturrecht.
27
Jedermanns Geſchäft, ein ekelhaftes Bild zu
entwerfen, bey dem man nicht einmal durch
die furchtbare Größe, mit der es hervorttitt,
ſchadlos gehalten wird für die Unförmlichkeit
des Einzelnen und die Widerlichkeit des Gan⸗
zen. Darum wollen wir nur fagen, daß ſich
dieſer Glaube bis zur Zeit des Thomaſius un—
vermindert erhalten hatte. Wol hatten die
wenigen Verſtändigen ſeine Albernheit verlacht,
und die Menge der Unſchuldigen, die ihm ge⸗
opfert wurde mit Schmach und Schande vor
der Welt, beklagt; aber Vorurtheile, die ihre
jungen Gemüther ſo ganz durchdrungen hat—
ten und die im Alterwerden mit denſelben eins
geworden waren, verblendeten meiſtens auch
die Augen derer, denen man im Übrigen einen
hellen Blick nicht abſprechen kann; und Furcht⸗
ſamkeit vor der Allgewalt der Pfaffen mochte
auch viele zurückgehalten haben, daß ſie ihre
Meynung darüber nicht ſagten. Aber nicht
alle. In Frankreich, England und Holland
hatte man dagegen geſchrieben; und in Deutſch—
land hatte ein Unbekannter den Richtern die
größte Behutſamkeit beym Hexenproceß em⸗
pfohlen. Auch hatte wirklich, wenigſtens im
proteſtantiſchen Deutſchland, das Verbtennen
i
— —
272
der armen Frauen, die das Unglück hatten, er
etwas von der Natur vernachläſſigt zu ſeyn, N
und über 50 Jahre alt zu werden, aufgehört; A
aber auf den leiſeſten Wink des erſten Buben
oder des unwiſſendſten Bauern, daß irgend ei⸗
ne Perſon ſich eines Bündniſſes mit dem Teu⸗
fel verdächtig mache, war das Gefängniß der
Beſchuldigten gewiß, und eine ſchauderhafte
Inquiſition, die ſie wenigſtens um ihre Ehre |
brachte, wartete ihrer: und ſelbſt die Unmün⸗
digkeit war kein Freybrief vor dem Richter⸗
ſtuhle. ) Darum war es allerdings ſehr löb—
lich von dem Thomaſius, daß er die Sache,
die ſchon zur Sprache gebracht war, auffaßte,
und verſuchte, ob er nicht beſſer durchdringen
möchte, als ſeine Vorgänger, die zum Theil, 77
wie
” Thomaſtus hat ſelbſt Acten drucken laſſen/ nach
welchen 1694 ein Kind von 6 Jahren darum zur
Inquiſition gezogen wurde, daß es eine Maus
aus einem Taſchentuch drehen konnte, und eine
alte Frau, die es ihm gezeigt, wäre faſt auf
die Tortur gekommen. |
) 3, B. van Dale und Becker, deſſen Buch aus
den Holländiſchen ins Deutſche überfeßt iſt:
8 die
l
273
wie man geſtehen muß, ſchon weiter gegangen,
als . und fein Name war es wol zu meiſt,
was ſeine Gründe unterſtützte: denn ohne die—
ſen wären ſie vielleicht eben ſo Wirkungslos
geblieben, als die der Andern. Der Arger dar⸗
über, daß bey den erſten Hexen-Acten, welche
an die Univerſität 1694 geſchickt wurden, feine
Stimme, die er unüberlegt und durch Autori—
tät verführt gegen die Beklagte abgelegt hat⸗
te, von feinem ehemaligen Lehrer Stryck ver:
worfen wurde, machte ihn aufmerkſam; und
da ihm nach und nach mehrere Acten dieſer
Art in die Hände fielen, ſo wurde er das un—
gegründete, verblendete und gewaltſame Ver—
fahren, das bey dieſen Proceffen ſtatt fand,
bald gewahr. Darauf las er die Schriften,
die über dieſen Gegenſtand, dafür und dawi⸗
der, geſchrieben waren; und als er endlich das
Weſen des Geiſtes erforſchte, ſo glaubte er
zwar einzuſehen, daß es einen böſen Geiſt ge—
be, der in den Schlechten wohne und wirke:
aber der Teufel, der den Hexereyen als Vor—
die * Welt. Beyde leugneten den
Teufel ganz, jener verdeckt, dieſer grade zu.
Mit dem Teufel war natürlich die Hererey
vernichtet.
G
_
274
„fteber diente, war ihm eben ſo miderfinnig, als \
l ihm lächerlich wurde. Er verſuchte alsdann?“
nach ſeiner löblichen Weiſe, durch die Geſchich⸗ ;
te zu erfahren, wann und wie diefer Teufel
geſchaffen war, und fand, daß, obgleich der
Glaube an Einwürkungen böſer Geiſter ſehr
alt ſey, doch dieſer Teufel ſein Alter kaum auf
500 Jahre gebracht habe. Mit ſolchen Reſul⸗
taten aus ſeiner Philoſophie und der Geſchichte N
verſehen, ließ er 1701 eine Disputation „vom
Verbrechen der Zauberey« *) vertheidigen, die
bald 1702 deutſch mit einer nähern Erklärung
ausgegeben wurde: ) in beyden legte Thoma⸗
ſius jene Reſultate der Welt vor. Er erkann⸗
te noch vieles an, was jetzt thöricht ſcheint;
aber vielleicht war es weiſe Überlegung, die
ihm rieth, ſo zu Werke zu gehen, um ſeine Ab⸗
ſicht deſto gewiſſer zu erreichen. Und ob ſie
) de crimine magiae.
) Auch N der die Disputation unter dem
Vorſitze des Thomaſtug vertheidigte, hat fie
überſetzt und mit zwey Quartanten anderer
Schriften und Acten, die Hereren betreffend, be: |
gleitet.
275
g
erreicht iſt, das kann unſer Zeitalter am beſten
entſcheiden. ) *
. In den nächſten Jahren lebte Thomaſius
ſeinen Geſchäften als Lehrer der Univerſität,
und verbreitete feine Vorleſungen, wie es zu
erwarten iſt, über alle Gegenſtände, welche er
für den künftigen Geſchäftsmann nützlich und
nöthig achtete: aber drucken ließ er nichts au
ßer einigen Programmen und die Beyträge zu
den Halliſchen Bemerkungen. 1705 über er—
ſchien ſein »Natur⸗ und Völkerrecht,« ) das,
wie ſchon der Titel verkündigte, feine »göttli⸗
che Nechtsgelahrtheit« verbeſſern ſollte. Und
in der That, das Gebäude, was er dadurch auf
einen Pufendorfſchen Grund aufgeführt und
größtentheils aus Pufendorfſchen Materialien
) Thomaſtus ſchrieb um dieſe Zeit auch eine
Vorrede zu Zeidlers Tractat von der Wünſchel—
ruthe; 1712 eine Dispufafion: de origine ac
progressu Processus inquisitorii contra Sa 848;
1719 eine Vorrede zu Webſters Buch von der
Hererey; und 1721 eine andre zu Beaumonts
Tractat von Geiſtern, Erſcheinungen, Hexereyen
1. Die Literatur über dieſen Gegenſtand wur—
de ſeit dem Thomaſtus ſehr weitläuftig.
%) Jus naturae et Gentium. 4.
S 2
ih)
zufammengefegt hatte, wied in dieſem Buche
dem Grunde nach ganz eingeriſſen. Die Welt
hat ihn darüber bitter getadelt, und ihm ſein
redliches Streben nach Wahrheit wol gar als
Schwäche des Geiſtes ausgelegt: aber, wer
Pufendorfs Lehre kennt, und mit uns den Gang
—
verfolgt hat, den Thomaſius Geiſt nahm, der
wird es einſehen, daß er bey Pufendorfs Lehre
nicht ſtehen bleiben konnte. Wer indeß die
Welt kennt, der wird es Er fo natürlich fin»
gen, daß man dieſer Wankelmüthigkeit, wie
man es nennt, ſo feind war. Thomaſius hat:
te mit feiner alten Lehre viele Anhänger bes
kommen; man hatte ihm nach- und ausge⸗
ſchrieben, und ſich von der unumſtößlichen
Wahrheit derſelben gewiß gehalten. Nun trat
er ſelbſt wider ſich ſelbſt in die Schranken:
ſollte man ſich ſogleich an ſeine Seite ſtellen,
mit ihm wider die Sache fechten, die man auf
fein Wort früher vertheidigt hatte, und ſo die
Schmach ſeiner Knechtſchaft öffentlich anerken⸗
nen? Die Menſchen ſchämen ſich deſſen, was
keine Schande ſeyn ſollte, der Nachahmung
und des Einhergehens auf dem Wege, den ein
andrer entdeckt hat; darum lügt auch der
Blinde, er ſehe, und wenn er nicht leugnen
| 277
kann, ein Andrer habe ihn hieher geführt, fo
ſtolpert er lieber am Rande umher, um ſich
das Anſehen zu geben, er gehe einen eignen
Pfad. Im dunkeln ſollte keiner den andern
nachtappen; wenn er aber einſieht, warum
dieſer ſeine Schritte hierher gelenkt: warum
ſoll er ihm nicht mit freyer Wahl nachfol—
gen? und warum es nicht geſtehen, daß er
nachfolge? Ein ewiges Geſetz der Welt iſt:
leuchte oder werde erleuchtet; denn des Lichts
ſoll keiner entbehren wollen; und wozu wã⸗
ren Sonnen, wenn es keine Planeten gebe? —
Thomaſius hatte kaum in den Halliſchen Be:
merkungen das, ehemals vertheidigte, aligemei:
ne poſitive göttliche Geſetz verworfen, und ei:
nen andern Begriff vom Geſetze aufgeſtellt,
der ſeinem Naturrecht zum Grunde liegt; ſo
wurde ſogleich das Geſchlecht rege, wovon wir
erſt ſprachen, und andre ſtimmten dieſem bey,
weil wenigſtens die Autorität des Thomaſius
ihre Behauptungen unterſtützt hatte.) Daß
) Weber in Gießen unterſuchte ſogleich in einer
Disputation, ob es wahrhafte allgemeine poſi—
tive göttliche Geſetze gebe und theilfe, etwas f
ſpitz, den Thomaſius in den vormaligen und
nachmaligen (in Thomasium prioristicum et po-
278
1
dieſer aber Gründe hatte, warum er von ſei⸗
ner frühern Meynung abgegangen war, und
was er für Gründe hatte, das hat er ſelbſt in
der Einleitung zu dieſem neuen Werke erzählt;
und wie redlich er dabey verfahren iſt: das
beweiſ't eine Stelle in »dem Berichte von den
künftigen Thomaſiſchen Collegiis und Schrif⸗
ten, ein welchem er es ankündigt. »Es iſt dem
allwiſſenden Gott bewußt, ſagt er, daß ich von
Jugend auf mit aufrichtigem Herzen Wahrheit
geſucht, auch mich nicht geſcheuet, Alles dasje⸗
nige ohne Furcht zu bekennen, was ich gemei⸗
net habe gefunden zu haben, und dasjenige,
zu beantworten, was ich gemeynet habe, irrig
zu ſeyn. — Darum hab' ich auch dasjenige,
was ich bisher von der Moral und dem Recht
der Natur oder ſonſten von der Natur des
ö sterioristienn); er e yy. von dieſem *
gefertigt. Auch Buddeus war gegen ihn; und
überhaupt gerieth ee in dieſer Zeit
mit den Theologen in einen Streit, der ſogar
gerichtlich geworden ſeyn foll, den wir aber
aus Mangel an beſtimmten Nachrichten nicht
erzählen können. Da er keine Folgen für Tho⸗
maſius Leben hatte, ſo liegt auch wol wenig
daran.
*
279
Menſchen gelehret wieder vor die Hand genom—
men und ausgebejjerl.«e
Von einem Syſtem des Naturrechts, das
den Rechtsbegriff und die nothwendige Reali⸗—
ſirung deſſelben aus der Vernunft ſelbſt dedu:
cirte, kam auch bey dieſem neuen Werke des
Thomaſius nicht die Rede ſeyn; will man ihm
aber das überſehen, und ihm nachfolgen, wenn
er aus der Beobachtung des empitiſchen Men—
ſchen ſich Regeln abſtrahirt, nach welchen er
handeln ſoll, ſo wird man viele und große
Wahrheiten und einen nicht gemeinen Scharf⸗
ſinn, den wir ſo oft bey ihm gefunden haben,
nicht verkennen. Aber weil dieſe Wahrheiten
größtentheils doch nicht neu waren, ſo wollen
wir nur das aus dem Werke ſo kurz als möglich
ausheben, wodurch es ſich auszeichnet. — Tho⸗
maſius umfaßt mit dem Worte Naturrecht Al—
les, was in das Handeln des Menſchen ein:
greift, außer der Religion; denn dieſe hat er
ſcharf von dem, was ſich aus der Vernunft er-
kennen läßt, geſondert, und will die Geſetze
der letztern darum befolgt wiſſen, weil es Ge⸗
ſetze der Vernunft find, — nicht weil fie geof—
fenbart find: der Neligiöfe bedarf, wie er ſchon
280 4
oft geſagt, die Natur nicht uche zo feinen N
Wegweiſer. Das Recht der Natur, in dieſem "a
ganzen Umfange, hat zur Mh. (nach 4
dem, was Thomaſius in der Sittenlehre .
gut erkannt hatte): % »der Menſch fol d. | j eni⸗
ge thun, wodurch fein‘ Leben verlangert und
wahrhaftig glücklich gemacht wird; das Ge⸗
gentheil ſoll er vermeiden « Was ſich auf ein
künftiges Leben bezieht, das wird einer höhern f
Wiſſenſchaft zu lehren überlaffen. Bey dieſer
Grundregel war nun zunächſt zu beſtimmen,
worin denn die wahre Glückſeligkeit dieſes Le⸗ |
bens beftehe? Thomafius antwortet: »im in⸗ f
nern und äußern Frieden.« Beyde müſſen ſo⸗
nach erhalten und befördert werden: und dies
giebt eine Sonderung des allgemeinen Geſetzes
in die Moral und das Naturrecht, im neuern
Sinne, zu welchem letztern, was Tho maſius
die Gerechtigkeit (justum) nennt, noch die
Wohlanſtändigkeit (decorum) als Beförderungss
mittel kommt: die erſte heißt ihm die Ehrbar:
keit, honestum. Die Moral bezweckt den in⸗
nern Frieden; die Gerechtigkeit und Wohlan⸗
ſtändigkeit den äußern. Jedes dieſer drey Stü—
cke des Naturrechts hat ſeine eigne Regel, die
wie es uns ſcheint, allein hinreichen würden,
281
den Scharfſinn des Thomaſius. zu beglaubigen.
Die Regel der Gerechtigkeit iſt: »was du nicht
willſt, daß es dir geſchehe, das thue den an⸗
dern nicht, e oder kurz: „verletze keinen, d. h.
A ‚före keinen in der Freyheit, auf welche er ne⸗
ben dir Anſpruch machen kann. Die Wohlan⸗
ſtändigkeit hat folgende Regel: »was du willſt,
daß es dir geſchehe, das thue du dem Andern:
ein ädleres und feineres Geſetz, als das vori⸗
ge blos negative. Daher nimmt es auch zwi⸗
ſchen jenem und dem edelſten, dem der Moral,
die Mitte ein, und umfaßt Alles das, r ozu
der Menſch nicht gezwungen werden kann, und
was von ſeiner guten Willkühr abhängt, uns
geachtet es andern Menſchen erwieſen wird und
zum äußerlichen Frieden gehört. Die Regel
der Moral endlich iſt dieſe: »Was du willſt,
daß der Andere ſich thue, das thue du dir.«
Daß dieſe Regeln den Gegenſtand nicht er—
ſchöpfen, und daß ſie die große Frage unbe—
antwortet laſſen: was man denn nun wollen
ſoll? bedarf keines Beweiſes; aber das hin⸗
dert nicht, ſie für ſinnreich anzuerkennen. —
Übrigens behauptet Thomaſius, ſo wie Ariſto—
teles mit Recht meynte, daß einige gebohrne
Sklaven ſeyen, daß es zweyerley Arten von
Menſchen gebe: Weiſe und Thoren. Für je |
ne, die dieſe zu bändigen haben, bedarf es kei
nes eigentlichen Geſetzes, ſondern nu des
Raths, *) aber für dieſe muß es eine zwingen⸗
de Gewalt geben, auf daß der En Friede
nicht verletzt werde. i h ig N r
Wir glauben hier bees e erwäh⸗
nen zu müſſen, welche Thomaſius in diefem
Jahre unter ſeinem Borfi itze vertheidigen ließ,
und die, wenn ſie auch ſein Schüler, Bernhard,
verfaßt hatte, doch nach den Grundſätzen, die er in
ſeinen Vorleſungen verbreitete, verfertigt war.
Sie betrifft eineu Gegenſtand, für und wider
welchen noch jetzt von berühmten Rechtsgelehr—
7 N 8 1 N a 54 . 1 ; 7 17
) Ja, der Weife bedarf dieſes Raths nicht eins
mal, von Außen her. Er iſt ſich ſelbſt ſein
Geſetz; durch ſeinen eignen guten Willen it
jeder Gerechte frey vom Geſetze und äußern
Zwang. So wahr und klar dieſes if, fo ER
te doch ſogar Leibnitz, gegen dieſen Satz des
Thomaſius ließe ſich manches einwenden. Was
er aber ſelbſt einwendet, daß es keinen fo
vollkommnen Weiſen gebe, trifft den Saß
nur halb. Denn wenn es keinen giebt: nun
fo giebt es keinen; wenn eg aber einen giebt, fo
bedarf er des äußern Geſetzes nicht.
283
ten geſtritten werden ſoll; aber ihn zuerſt zur
Sprache gebracht zu haben — denn was Grä:
vius früher darüber geſagt hatte, war vergeſ—
ſen — iſt vielleicht ein Verdienſt. Der Titel
iſt: Beweis daß die Tortur aus den Gerichten
der Chriſten verbannt werden müſſe. “) Wie
| der Beweis geführt wird, das mögen die, wel⸗
chen daran liegt, ſelbſt nachleſen; welche An»
ſicht aber der Verfaſſer und ſein Lehrer von
der Tortur hatten, das werden wir am beſten
dadurch zeigen, daß wir eine kleine Stelle aus
der Vorrede überſetzen. »Die Tortur iſt eine
traurige Erfindung; denn durch ſie wird den
höchſtunglücklichen, und bis jetzt noch nicht
überführten Angeklagten gewöhnlich eine ſolche
Strafe aufgelegt, welche an Grauſamkeit dies
jenige übertrifft, mit welcher ſie, wenn ſie des
Verbrechens vollkommen überwieſen wären, be—
legt werden würden. Denn kaum, kaum laſ—
ſen ſich die Martern, und mithin die Strafen,
welche durch die Tortur dem menſchlichen Kör—
per angethan werden, mit den Angſten des
Todes vergleichen. O zu frevelhafte Verkehrt—
heit bey Ausübung der Strafgewalt! Was iſt
*) de tortura e foris Christianorum proscribenda.
254
ungerechter? was kann von jedem Schatten
von Gerechtigkelt Entfremdeteres gedacht wer⸗ 1
den, als arme Sterbliche, die noch unül führe
find, mit fo grauſamen Strafen zu gerfteiſchen,
welche zu denken ein Gemüth ſchaudert, dem
noch ein leiſes Gefühl von Menſchlichkeit übrig
iſt?« Und wenn die Vertheidiger der Tortur
hiegegen einwendeten, daß ſie nicht unüber⸗
fährt wären, diejenigen, welchen die Tortur zu
erkannt wird, ſo ließe ſich antworten: aber
wozu denn die Tortur? Wenn ſie überführt
ſind: wozu bedarf es ihres Bekenntniſſes?
Bedarf es aber dieſes, ſo ſind ſie nicht über⸗
führt. Und einen Unüberführten durch Mat:
tern fo lange zu quälen, bis er ſich für ſchul⸗
dig erkennt, iſt eine Gräulichkeit, welche wür
dig zu bezeichnen die Sprache keinen Ausdruck
hat. Daß aber ganz Unſchuldige ſich ſelbſt
des ſchwerſten Verbrechens Schuld geben kön⸗
nen, das hatten dem Thomaſius die Acten be: _
zeugt, welche Hexenproceſſe veranlaßt hatten.
Thomaſius ſcheint die Abſchaffung der Tortur
noch lange nicht erwartet zu haben: aber der
Staat, in welchem er lebte, iſt zum Beſſern
hin auch ſchneller forrgeſchritten, als der kühn—
ſte Geiſt damals vielleicht hoffen mochte.
285
Ein rechtliches Bedenken, welches in dieſem
Jahre, aber ohne den Nahmen des Thoma—
ſius, wiewol er ſogleich erkannt wurde, unter
dem Titel herauskam: »Bedenken über die
N Frage, wie weit ein Prediger gegen ſeinen Lan—
desherrn, der zugleich summus epis copus iſt,
ſich des Bindeſchlüſſels bedienen könne?« —
führte ihn abermals in die Geſchichte und
wurde Veranlaſſung, daß er eine Hiſtorie des
| Kampfs zwiſchen der weltlichen und geiſtlichen
Macht “) zu beſchreiben ſich entſchloß: ein
Vorſatz, den er erſt viel fpäter ausführte. Die
Gelegenheit zu dieſem Bedenken gab eine lu—
theriſche Prinzeſſin, welche einer Heirath we⸗
gen, die von ihrem Vater aus politiſchen
Gründen ſehr gewünſcht wurde, zur katholi⸗
ſchen Religion übergehen ſollte. Mehrere Gut⸗
achten — unter welchen auch eins vom Tho⸗
maſius * hatten dieſen überzeugt, daß fein,
Kind durch dieſen Schritt die ewige Seligkeit
eben nicht in Gefahr ſetzen würde; und obwol
einige Theologen einen ſolchen Übertritt für ge⸗
fährlich und ewig verderblich erklärt hatten, ſo
historia contentionis inter imperium et sacer-
otium
285
hatte die Politik del Gründen der deter Sei⸗
te doch mehr Gewicht gegeben. Aber ſeine
Hofprediger hielten ſich in. ihrem Gewiſſen
überzeugt, daß ſie Alles aufbieten mußten, um
eine Handlung zu hintertreiben, wodurch »ein
Schäflein von ihrer Heerde verlohren gehen
würde. Und da er ſich nicht daran zu kehren
ſchien, ſo fingen ſie an mit ihrem Strafamte,
und mit dem Bindeſchlüſſel zu drohen, und ver⸗
langten, mit einigen Univerſitäten ſich darüber
zu berathen, ob einem Fütſten, der eine ſolche
Abſicht habe, die Abſolution ertheilt werden,
und ob er das heilige Abendmahl würdig ges
nießen könnte? — »damit ſie ſich fremder Sün⸗
den nicht theilhaftig machen möchten, wenn ſie
ihm das Abendmahl reichten.« Darauf wurde
ein Bedenken vom Thomaſius verlangt, ob fie
das Recht hätten, ihren Landesherrn die Abſo—
lution zu verſagen und vom heiligen Abend—
mahl auszuſchließen, wie ſie zu thun droh⸗
en. ) Thomaſius nahm keinen Anſtand, es
*) Wir haben dies erzählt, weil Schröckz Bier ge»
gen den Thomaſius disputirt, und ihn wegen
des Ausdrucks: Bindeſchlüſſel, und deſſen Ber:
wechſelung mit dem Kirchenbann tadelt. Hät⸗
te er die Veranlaſſung zu der Schrift bedacht,
— 83
5 — SEE
P an a Me A en EEE
. — wen 2
—
287
auszuſtellen. Er bringt, wie es dem Juriſten
geziemt, zuerſt die Gründe vor für die Predi⸗
ger; aber dann zeigt er aus der Geſchichte,
daß ſie das Recht ſchlechterdings nicht hätten,
den Fürſten vom Gebrauch des Abendmahls
auszuſchließen — (obwohl ſie ihm die Abfolus
tion, als welche wider ihr Gewiſſen laufen
möchte, verſagen könnten) —, weil der Kirchen
bann mehr eine weltliche als geiſtliche Beſtra—
fung ſey; und er bewieß auch aus der Ver⸗
nunft, daß es ſo ſeyn müſſe, weil ſonſt, wenn
von dem Kirchenbann nicht an den Fürſten —
»den Führer der höchſten Gewalt im gemeinen
Weſen« — appellirt werden könnte, der Staat
»ein zweyköpfiges Weſen werden würde, « wel—
ches den allgemeinen Frieden ſtören müßte, u.
ſ. w. Daß noch ein dritter Fall möglich ſey,
welches vielleicht nicht der ſchlechteſte wäre,
ſah Thomafius entweder nicht, oder durfte als
Proteſtant ihn nicht geſtehen. Seine Schrift
iſt mit dem gewöhnlichen Scharfſinn verfaßt,
und ſich erinnert, daß dem Thomaſtus die Ca:
che vorgelegt wurde, und zwar mit den Wor⸗
. welche die Prediger ſelbſt gebraucht hat—
ten, ſo würde der Tadel von ſelbſt weggefal—
len ſeyn.
— el
BB
BR ME eine e 8 ze.
genſchriften, RR Thomafius. hat W beat,
wortet; 3 fie hat aber gewiß nicht wenig beyge⸗ 5
tragen, die falſchen Begriffe vom Bindeſchläſ⸗ ö
ar zu teinigen, EN e die Theologen 1
* die
| 4 In einer dieſer Gegenſchriften von einem 1
feſſor Edzard in Hamburg kommen fogar Verſe
gegen den Thomaſius vor. Da fie den Geiſt
recht gut bezeichnen, in welchem der größte
Theil der Schriften, welche gegen ihn heraus |
kamen, geſchrieben waren, ſo mögen ſie hier
ſtehen. Sie werden uns der Weitläuftigkeit
überheben, welche die Erwähnung der einzel.
nen I a nach ne ziehen 1 | Alſo
lauten ſie: f 1 |
Ein längſt verlohrner Sohn, der alles Gut
| verpraſſet, | a
Was an Religion, an Chr’ und Namen ift,
Der haſſet, was man ließ und liebet, was
man paſſet,
Der Hohn für Waſſer ſäuft und Spott für
Trebern frißt,
Lacht
289
die Herrſchaft über die Thür zum Himmel zu
15 glaubten.
Nach ſo vielen und ſo ſtarken Angriffen
5 die Geiſtlichen konnte ſich die Welt, die es
ſelten begreift, daß man deßwegen eine Sache
nicht verwirft, weil man ihren Mißbrauch ta⸗
delt, nicht überzeugen, daß es im Ernſt ge⸗
meynt ſey, als Thomaſius 1707 eine Disputa⸗
ö tion herausgab »von der Pflicht eines evange—
1 6 0 Sorſten. ee ge und e
Lacht alle Lehren aus, eahe und vertebre die
„ N 7 N Bibel, ö
Iſt wol ein Ismael und wahres Kirchen.
Uebel.
"Wefpenfter glaubt er nicht, auch keinen Bund
der Seren;
Welch atheiſtiſch Gift, das er hierunter
begt! 1
Er iſt ein Höllen⸗Huhn, das jetzo erſt will
Ekäckſen,
Bis daß es nach und nach die Eier hinge⸗
legt,
Den Sadducäer Geiſt von Neuem auszu-
brüten,
Ach dafür woll' uns doch der liebe Gott
behüten.
T
*
290 : |
Stellen der Kirchendiener zu vermehren. e 2 1
Aber der ganze Ton der Abhandlung beweiſet, ug
daß Thomaſius nicht ſpottete, ſo wie er die
Ungezogenheit eines leichtſinnigen Zeitalter |
nie übte, das zu verſpotten, was keinen Spot 6
verdient; und es gereicht ihm um ſo mehr zut
Ehre, die Sache eines ehrwürdigen Standes zu
führen, je mehr unehrwürdige Dinge er von
den einzelnen Mitgliedern deſſelben erfahren
hatte. Was die Abhandlung ſelbſt betrifft, ſo
wollen wir nur das darüber ſagen, daß, ob⸗
gleich ſehr Vieles von dieſer wichtigen aber ſel⸗
ten beachteten Pflicht geſchrieben iſt, doch in
wenigen Schriften dieſer Art ſoviel gegründete
Wahrheiten mit ſo wenigen Worten geſagt
ſeyn dürften. Aber eben das, daß noch ſo viel,
dieſen Gegenſtand betreffend, geſchrieben wird,
iſt vielleicht ein Beweis, daß dieſe Abhandlung
des Thomaſius zu denen gehört, die das
Schickſal hatten, Wahrheiten . zu
ſagen. f
Schütz gab in N Jahre, 1707, eine
) De officio principis evangelici circa augenda
solaria et honores ministrorum ecclesiae. Unter
: dem im Text angeführten Titel ſteht fie im
zweyten Bande der nuserlefenen Schriften.
291
Beutfige Überfegung von dem Buche des Hugo
Grotius „vom Rechte des Krieges und des
Friedens heraus, welche Thomaſius mit einer
Vorrede begleitete. Um das Verdienſt des Hu:
go Grotius, vwelcher das Werkzeug war, def:
ſen die Weisheit Gottes ſich bediente, die ſo
lange gedauerte Verwirrung des natürlichen
und übernatürlichen Lichts — (d. h. der Offen⸗
barung und des Naturrechts in dem weiten
Sinne des Worts, den wir oben beſtimmt ha⸗
ben) — aufzuheben einen Anfang zu machen —
um ſein Verdienſt und den Werth einer deut⸗
ſchen Überſetzung ſeines Buchs deſto beſſer zu
bezeichnen, giebt Thomaſius einen kurzen Be-
griff von der Hiftorie des Rechts der Natur,
der Lob verdient. Aber was dieſe Vorrede für
den Gang ſeiner Denkungsart bemerkenswerth
macht, das iſt die Außerung, die er hier gegen
die Myſtiker ausſpricht, welche er ehemals ver—
theidigt hatte: »daß die myſtiſche Lehrart zu
feinen Zeiten ganz unverſchämt auftrete, und
die Lehre des natürlichen Rechts als eine heil—
loſe und gefährliche Lehre ſchände und ſchmä⸗
be.« Der Pietismus, nemlich diejenige religis—
ſe Stimmung, die zuerſt mit dieſem Namen
von ihren Gegnern belegt wurde, und die an
T 2
292
dem Thomaſius, wie fie es verdiente, einen > |
warmen Vertheidiger fand, war für ihn der
Stufengang geworden, auf welchem er in die
Tieſe des Myſticismus ſtieg; aber fein Geiſt |
hatte eine zu beſtimmte Form, als daß er ſich
lange in dieſen Irrgängen hätte aufhalten laſ⸗
ſen, und Locke's Buch vom menſchlichen Ver⸗
ſtande wurd der Faden, an welchem er ſich wie⸗
der heraus fand. Dem größten Theile der an⸗ |
dern hingegen, die gleichfalls aus Bedürfniß
des Herzens die Lehre des frommen Speners
und ſeines Schülers, Franke, angenommen hat⸗
ten, war es nicht beſſer gegangen; und da ſie
an den Pfeifern, Carpzoven, Meyern und Los
ſchern fo ungerechte. als unbefugte Bekämpfer
fanden, ſo hatten ſie ſich, um ſich dagegen zu
vertheidigen, auch auf ſich zurückgegangen, zu
einem Körper vereinigt und ſich eben dem blin⸗
den Eifer ergeben, welchem fie Anfangs fo
feind waren, welcher aber ſtets einer Secte ei:
gen iſt. Thomaſius, der ſeinen freyen Nacken
nie dem Joche der Sectirerey beugen mochte,
ſah die Wendung, welche die Sache nahm,
mit Betrübniß; aber er würde ſich doch wahr⸗
ſcheinlich nicht ſo öffentlich gegen diejenigen er⸗
klärt haben, mit welchen man ihn früher ver⸗
—
a, —
293
einigt glaubte, wenn nicht andre Umſtände ihn
vermocht hätten, dem Myſticismus entgegen,
und auf die ſchöne aber ſelbſtſtändige Einfalt
hin zu arbeiten, welche ihn zuerſt dem Pietis—
mus gewonnen hatte, und welche allein ihr
Heil aus der heiligen Schrift, mit reinem Her⸗
zen geleſen, erwartete. Zu dieſen Umſtänden
gehört, daß Tho maſius täglich Studenten ſah,
welche die innere Selbſtbeſchauung und das
Erwarten einer unmittelbar göttlichen Erleuch—
tung »durch Kopfhängen und andre äußere
Zeichen, die man für Beweiſe der Religioſität
hielt, zur Schau trugen, während jedes Wort,
was ſie redeten, ihre Unwiſſenheit und Albern⸗
heit beglaubigte; daß die Univerſität aus:
wärts in den Ruf kam, »die Jugend werde
daſelbſt verdorben durch den Vortrag der fal-
ſchen myſtiſchen Lehren, e und daß ſelbſt Tho⸗
maſius in dieſem Verdacht ſtand. Dies veran—
laßte ihn, ſchon 1699 in feinen »Grundlehren
für einen Studiosum Juris« es der Welt vor
Augen zu legen, daß die Myſtik ihn wenig⸗
ſtens nicht der Vernunft beraubt habe, und
daß er auf Gelehrſamkeit halte; und ſeine
»Klugheitslehre,« vou 1705, verräth gleichfalls
Spuren dieſer Abſicht. Jenes Buch haben wir
2
nicht angeführt, weil es in den »Rautelen«
wiederholt wurde, und von dieſem laßt ich nur
ſagen, daß es viele gute „
die ein ſcharfſehender Mann im Laufe des
bens für das Leben abſtrahirt hatte; und 9
beſonders darauf hinarbeitete, »weil gelehrte
Narren die größten Tarren zu ſeyn pflegen, x
zu zeigen, daß Gelehrſamkeit ohne Klugheit
keinen brauchbaren Mann für die Welt bilde.
Aber daß Thomaſtus jetzt öffentlich gegen die
Pietiſterey, im verderbten Sinne, polemiſirte,
daran ſcheint uns auch noch der Umſtand
Schuld, daß ſich während dieſer Zeit, aus Lie⸗
be zum Myſticismus, hin und wieder Rotten
bildeten, die Pietiſten genannt wurden, und
die durch die Verachtung, in welche die Ver⸗ |
nunft bey ihnen gerieth, bis zur Viehiſchheit
hinabſanken, mit heiligen Worten die ruchlo⸗ f
ſeſten Thaten begingen, und mit ihnen die un⸗
ſinnigſten Ans adelten. *) Wange fühlte
\
U
#) BR ſelbſt bat im dritten Theile der ge.
miſchten Händel die beurkundete Geſchichte ei»
ner ſolchen Rotte von unfinnigen Schwarmern
erzählt; und wenn auch uur der vierte Theil \
von dem wahr iſt, was ihnen zur Laſt gelegt
wurde, fo wird es uns noch immer unbegreif⸗
295
wohl, daß, wenn er auch nicht entfernt Schuld
an dieſen Vorgängen war, er doch durch feine.
Anpreiſung myſtiſcher Schriften dieſen unſau-
n Geiſt menſchlicher Verirrung nähren wür⸗
Dies beſtimmte ihn wol zunächſt, ſich
gegen den Myſticismus zu erklären, und das
Recht der Vernunft, welche in an
dem rächt, der fie verachtet, gegen ihn zu ver:
theidigen; und ſo wurden 10 Pietiſt und ein
frommer Chriſt ihm nach und nach Gegenſätze.
Dieſe Erklarung gegen die Myſtik fängt in der
Vorrede zum Grotius an; und wird noch ſtär⸗
ker in der, womit er eine neue Auflage des
Poiret verſah. Die Tendenz der Vorrede zur
erſten Ausgabe war geweſen, den Poiret anzu—
preiſen und die Gemüther empfänglich zu ma—
chen für feine geheimnißvollen Lehren; die Ten:
denz der letzten aber war, die Gemüther zu
warnen und zu bewaffnen, damit Poirets und
andrer Myſtiker ſo angenehme Beredtſamkeit
ſie nicht verletzen möchte. Und dieſes Streben
lich ſeyn, wie Menſchen, die nicht verrückt wa⸗
ren, auf ſolche Tollheiten gerathen köunken.
Dieſe Acten waren dem Thomaſius, von 1703
an, nach und nach in die Hände gekommen. —
295
iſt in allen folgenden Schriften des 7 0 a
mehr oder minder erkennbar. a. a
1709, | nachdem feine Feinde in ſeinek Ba
terſtadt, Leipzig, entweder geſtorben waren, ;
oder fie verlaffen hatten, wurde Thomaſius,
weil dos neue Geſchlecht den Werth ihres Bür⸗
gers und die Ungerechtigkeit kannte, mit wel⸗
cher man ihn ehemals behandelt hatte, und
welche Genugthuung heiſchte, auch weil am
Hofe die bekannten Veränderungen vorgegan⸗
gen waren, nach Leipzig unter ſehr vortheilhaf⸗
ten Bedingungen berufen. Er aber, dem durch
die liberale Aufnahme, die er gefunden hatte,
der Brandenburgiſche Staat zum Vaterlande
geworden, und der nicht leichtſinnig genug war, |
eine Glaubensformel, an welcher die Sachſen
ihre Seligkeit gebunden glaubten, und von der
ren unreligiofem Zwang Thomaſius ſich über⸗
zeugt hielt, zu unterſchreiben — er ſchlug den
Antrag aus, ſo wie er den des Herzogs Mo⸗
ritz von Zeitz ausgeſchlagen hatte, wodurch er
ihm eine wirkliche Geheimerathsſtelle conferirte; |
Dafür war er von feinem Landesherrn, dem
Könige von Preußen, mit dem Geheimenraths⸗
titel beehrt, und jetzt erhielt er das Verſpre⸗
| | 297
chen. Strycks Stelle nach deſſen Tode zu ers
halten. Stryck ſtarb 1710, und Thomaſius
wurde nun Director der Friedrichs ⸗Univerſität,
Profeſſor primarius und Decan der Juriſtenfa⸗
cultät: Würden, welche die Achtung beweiſen,
die ſich Thomaſius erworben hatte. Darauf
gab er noch in dieſem Jahre heraus: die
ahöchſtnöthigen Cautelen, welche ein Studio⸗
ſus Juris, der ſich zur Erlernung der Rechts⸗
gelahrtheit auf eine kluge und geſchickte Weiſe
vorbereiten will, zu beobachten hat.« Und als
er bald darauf auch die Profeſſur des Canoni⸗
ſchen Rechts erhielt, ſo folgten 1712 die
shöhftnöthigen Cautelen bey der Erlernung
der Kirchen⸗Rechts Gelahrtheit.« ) Thomaſius,
wie jeder Eklektiker, verhält ſich zu ſeiner Phi⸗
loſophie, wie der Bewohner eines Hauſes, das
er gemiethet hat, zu dieſem. Die einzelnen
Zimmer und Gemächer werden ſo fein verziert,
als er es vermag, die Verbindung derſelben
mit einander ſo geſchickt angelegt, als es thun:
lich iſt, und überhaupt alles ſo eingerichtet,
f dj Das erſte Buch hat den Titel: cautelae circa
. praecognita jurisprudentiae, das andre cautelae
eirca praecognita jurispr. ecclesiasticae. Deutſch
kamen ſie 1713 heraus.
298
daß er fo bequem als möglich darin wohnen
möge: aber er achtet nicht darauf, ob Wie 9
vielleicht auf den Sand gebauet, und er un⸗
terſucht nicht den Grundſtein des See
es nicht ſein Eigenthum iſt. Thomaſius giebt
in beyden Büchern die Grundlehren von 1699
erweitert und verbeſſert. Aber auch dieſe
Grundlehren enthielten faſt nichts, was nicht
in ſeinen frühern Schriften zerſtreuet geweſen
wäre, vermehrt mit einem Auszuge aus Ar⸗
nolds Geſchichte und Pufendorfs Verhältniß
der Religion zum Staate. Thomaſtus liefert
gleichſam einen Auszug aus ſich ſelbſt, und
wer nur wiſſen will, was er lehrte, der wird
es größtentheils aus dieſen Büchern erfahren;
aber der will am wenigſten wiſſen von dem
Thomaſtus. Zwar hat er manches hier geſagt,
was frühern Sätzen geradezu entgegengeſtellt
iſt; aber das gilt nur von einzelnen, wenigen
Sätzen. Das, worüber am wenigſten in ſeinen
andern Schriften vorkommen möchte, dürfte in
dem erſten dieſer Bücher wohl das Kapitel von
den mathemathiſchen Wiſſenſchaften ſeyn, die er
zwar ſehr empfiehlt, über die er aber auch einige
Grundſätze aufſtellte, welche ihm einen Gegner
an dem Profeſſor Weidler zu Wittenberg zu⸗
N 299
zog. Das Intereſſanteſte aber dürfte wol die
Erzählung ſeyn, worin Thomaſius den Gang
zeichnet, den ſeine religiöſe Überzeugung ge—
nommen hat, von ſeiner Erziehung in der
Rechtgläubigkeit des Lutherthums an bis zu
dem Grundſatze hin: man müſſe ſich vor der
Orthodoxie in Acht nehmen; wir aber können
ihn größtentheils aus den Reſultaten, die wir
geſehen haben, nachzeichnen: darum dürfen
wir dieſe Erzählung nicht erſt wiederholen.
Was aber das Hiſtoriſche im zweyten Theil
betrifft, (woben freylich Arnolds Kirchengeſchich—
te ſehr benutzt iſt: aber Thomaſius hatte, wie
wir bemerkt haben, auch daran Antheil, und
darum iſt das große Lob, was er ihr ertheilt,
vielleicht etwas einfeitig), fo wollen wir darü⸗
ber mit Beziehung auf die übrigen hiſtoriſchen
Werke des Thomaſius, ſie mögen nun das
deutſche Reich, oder das Natur- oder ein an⸗
deres Recht betreffen, nur eine allgemeine Be⸗
merkung hinzuſetzen. Hiſtoriſche Werke, die
nicht in ſich vollendet, ſondern von ſpätern
Werken übertroffen ſind, und alſo zwiſchen die—
ſen und frühern als Mittelglieder ſtehen —
können, wie es uns ſcheint, nur im Allgemeinen
characteriſirt werden, indem gezeigt wird, wel⸗
300
che Stufe der hiſtoriſchen Kunſt ſie, zu der
Vollendung der letztern hin, bezeichnen, und
welche eigenthümliche Menſchheit, als der Eha⸗ |
racter des Verfaſſers, ſich darin offenbart; oder
fie müffen ganz im Befondern dargelegt wer⸗
den, indem man auß die einzelnen Faden Rück⸗
ſicht nimmt, die hier zuerſt in die Hiſtorie ge⸗
zogen worden, damit der folgende Geſchicht⸗
ſchreiber fie in feiner Darſtellung nicht wieder
entſchlüpfen laſſe. Jenes liegt einer Literärge⸗
ſchichte ob, dies haben gleichzeitige literariſche
Blätter zu leiſten. Die hiſtoriſchen Arbeiten
des Thomaſius zeichnen ſich aber weder durch
die Form, in welcher ſie dargeſtellt ſind, noch
durch eine Anſicht der Dinge aug, die nicht
s dem erklärbar wäre, was wir über ihn ges
* haben. Daher können wir über ſeine hi⸗
ſtoriſchen Schriften nur bezeugen, daß ſie mit
Fleiß zuſammengetragen und mit Wahrheits⸗
liebe und einem idem oft en ba ver⸗
faßt ſind. 1999 A en
Was aber diejenigen Schriften betrifft,
die ſich auf das damals gangbare Recht, und
überhaupt auf Gegenſtände beziehen, die für
den eigentlichen Juriſten gehören, und die von
dieſer Zeit an vom Thomaſius herauskamen:
501
ſo beſcheiden wir uns, daß wir die Dinge nicht
1 verſtehen, und wollen lieber kein Urtheil geben,
als ein ſolches, an deſſen Gewißheit wir .
nicht zn PRren:. I) wa
f
71 0
TEN beyden en von Schriften können fol⸗ 1
gende gerechnet werden außer den ſchon ange⸗ 8
führten:
1 Feudalia Thomasiana , quae ‚ exbibent
| selecta capita historiae Juris Feudalıs Germanici.
| Die zweyte Edition mit einer Dissertatio de
*
originibus feudal. A bom Babe 1706 Die gr
erſchien 1708.
Historia contentionis inter imperium et sacer-
dotium usque at saeculum 16. 1722.
Historia Juris naturalis. 1779.
Naevorum Jurisprudentiae Romanae antejns-
tin. libri II. 1707. .
Specimen prudentiae 8 1710. 4.
Annotationes ad Ulr. Huberi libros tres de
jure civitatis. 1708. 4.
Additiones ad Ulrici Huberi praelectiones Ju-
xis civilis. 1725. 4.
Notae ad singulos institutionum et Pandecta-
rum titulos. 1713. 4.
J. P. Lancellotti Inslitutiones juris canonici,
. 4.
Pufendorfs Tractat don der geiſtlichen Mo⸗
302
en eines MN Auſſehens, der
Veranlaſſung mehrerer Schriften, und wegen
Beſchuldigungen der Srreligiofität und des
Atheismus, die ſogar bis vor den Landesherrn
des Tho maſius kamen, aber eben ſo, wie eine
frühere Inſinuation ohne Wirkung blieben ra)
wegen alles dieſen wollen wir die Disputa⸗
tion »von der Kebs: Ehe,« *) welche 1713 her⸗
aus Fam, hier anführen, Thomaſius hatte, wie
wir wiſſen „die Profeſſur des Canoniſchen
Rechts erhalten. Aber er betrachtete dieſes
Amt nicht als ein ſolches, das ihn verpflichte,
bey dem bisher Üblichen ſtehen zu bleiben; fon:
dern er glaubte verbunden zu ſeyn, als Lehrer
des Kirchenrechts dieſes ſo weit zu verbeſſern,
als es ihm möglich ſeyn möchte. Schon früher
hatte er dahin gearbeitet als ein Rechtsgelehr⸗
ter, jetzt glaubte er fig doppelt dazu verpflich⸗
narchie des Stuhls zu Rom mit Anmerkungen.
„ 17 .
Anmerkungen über Oſſens Tractat von Ver⸗
beſſerung des Juſtiz- ünd Policey⸗Weſens.
Vorrede über Johann Clerici verteutſchte Le⸗
bensbeſchreibung einiger Kirchenväter und Ke—
—
tzer 1721. 8.
) De Concubinatu. Jenes ift der deutſche Titel.
303
tet. Das Hauptgebrechen des Kirchenrechts
meynte er in dem Eherechte entdeckt zu has
ben, weil über die Ehe aus dem Pabſtthum
her, worin ſie für ein Sacrament gehalten
wird, ſehr verwirrte Begriffe im Schwange wa:
ren. Darum hatte er ſchon eine Disputation
»bom Kamworte« geſchrieben, wodurch das Weib
ſich zuerſt für die Braut eines Mannes er⸗
klärt; und wollte durch ſie, und durch dieſe
neue Disputation die Welt, wie es ſcheint, vor⸗
bereiten auf ſeine Anmerkungen zum Lancelott.
Übrigens will Thomaſius gar nicht die Recht⸗
mäßigkeit der Kebsehe vertheidigen, ſondern er
will nur zeigen, daß die Gründe, welche man
bisher dawider angeführt, nicht hinreichten, ihre
Unrechtmäßigkeit darzuthun, und bey dieſer Ges
legenheit will er reinere Begriffe über die Ehe,
wie fie ſchon mehr gelehrt waren, verbreiten.
Darum zeigte er, daß die Kebsehen erſt ſehr
ſpät in den Ruf der Unehrlichkeit und der
Schändlichkeit gekommen ſeyen, und bewieß,
daß die Gründe, welche man gegen fie anzus
führen gewohnt war, aus dem römiſchen Bes
griffe von der Ehe als Sakrament, den die
Proteſtanten verworfen hatten, entſtanden wä»
ren. Darauf meynte man, daß nach der Ver⸗
304
ara dieſer Gründe — die Thon
verwarf, um auf beſſere zu dringen
Kebsehe von ihm das Wort geredet ſey, und
mehrere, unter welchen ſein College, der Abe
Breithaupt, und der Paſtor Reinbeck in Berlin,
griffen ihn darüber an. Auf welche Weiſe e
das erhellt aus »der Widerlegung der Einwür⸗
fee gegen dieſe Disputation, die wahrſcheinlich
vom Thomaſius, der ſich Antoninus nannte,
ſelbſt iſt. »Kaum, heißt es darin, war dieſe
Disputation zum Vorſchein gekommen, als
man ſie als eine Sache anſahe, welche alle
Religion aufhübe. Es wurde nicht allein wi⸗
der allen Wohlſtand öffentlich dawider dispu⸗
tirt, ſondern auch allenthalben Alles veranſtal⸗
tet, dem Herrn Autor Verdrießlichkeit zu ma⸗
chen. Und durch dieſes Lermblaſen ſind andre
erregt worden, den Krieg häufig anzukündigen.
Wenn ſich aber die Leute einbilden, daß der
Herr Autor mit ihnen ſich in einen Streit eins
laſſen werde, ſo fürchte ich, ſie werden ſich ſehr
betriegen. Denn dieſer Streit iſt nicht fo be⸗
ſchaffen, daß die Wohlfahrt der Republik und
der Religion daran hänge, weil ja der Autor
freywillig geſteht, daß der Concubinat heutiges
Tages mit beſtem Rechte verboten werde. «
c
In
Ir- dür
305
In den Jahren 1715 bis 1717 veranſtalte⸗
te Thomafius in 24 Stücken »Summariſche
&
Nachrichten von auserleſenen, mehrentheils al:
ten in der Thomaſiſchen Bibliothek vorhande⸗
nen Büchern. Zwar hat er ſelbſt wenig daran
gearbeitet, aber die Recenſionen ſcheinen uns
von ſeinen vorzüglichern Schülern herzurühren,
die zugleich ſeine Freunde waren; denn in Al⸗
len herrſcht, wenn nicht ſein Geiſt, doch ſeine
Srundſaätze. Und wenn fie von der einen Sei—
te beweiſen, in welcher Geſellſchaft Thomaſius
ſein Leben hinbrachte, ſo enthalten ſie von der an⸗
dern ſchätzenswerthe Nachrichten. Übrigens brachte
Thomaſius dieſe und die nächſtfolgenden Jahre zu
mit der Herausgabe der genannten hiſtoriſchen
und juriſtiſchen Bücher, mit Beſorgung neuer
Editionen der frühern, und mit Vorleſungen,
die er ſtets veränderte, um nicht durch das be⸗
ftändige Wiederholen derſelben dieſe Beſch afti⸗
gung zum Handwerk zu erniedrigen.
Die »ernſthaften, aber doch munteren und
vernünftigen Thomaſiſchen Gedanken und Er:
innerungen über allerhand juriſtiſche Händel«
erſchienen 1720 und 1721 in vier Quartbänden,
und lieferten, was ihr Titel verſprach. Auser—
leſen ſind dieſe Händel, und betreffen ſolche
u
x
306 i ü
* 7 5
Gegenſtände, die jeden intereſſiren, der es der
Mühe werth hält, andre Zeiten und andre
Menſchen kennen zu lernen, als die, welche
die Gegenwart in ſeinem väterlichen Haufe
zeigt. Die Anſichten, welche den Uftheilen
des Thomaſius zum Grunde liegen, können
unſern Leſern nicht fremd ſeyn, und der mun⸗
tere Ton, worin fie dargeſtellt find, beweiſs't,
' daß fein Geiſt nicht gealtert war. Über dieſe
Munterkeit fpricht er in der Vorrede; und die
Stelle verdient wohl, daß wir fie abſchreiben,
da fie feine jetzige Gemüthsſtimmung beweiſ't,
und da es ohnehin vielleicht das letzte Mal ift,
daß wir ihn hören werden. Er erzählt, er ſey
ſchlecht und recht erzogen, und freymüthigen
und fröhlichen Sinnes geweſen; darum habe
er die Wahrheit anfänglich kühn geſagt: auch
wohl in bitterm Scherz, weil er nur an an⸗
dern gethan, was er ſelbſt wohl habe leiden
können. Seine Verbannung aus ſeinem Va⸗
terlande habe ihn die Zeit und die menſchliche
Natur beſſer kennen gelehrt. Da habe er ges
ſehen, daß die Gatyre zwar auch ein Mittel
wäre, tiefgewurzelte Irrthümer zu erkennen zu
geben, daß fie aber nicht leicht Beſſerung ber
wirke. »Wie aber insgemein, fährt er fort,
307
zu geſchehen pflegt, daß, wenn man ſich von
einem erkannten Irrwege entfernen will, man
gar leichte, wenn man ſich nicht wol in Acht
nimmt, auf einen andern Irrweg gerathen
kann: alſo ging es auch mir eine Zeitlang,
daß ich vermeynte, die Wahrheit könne nicht
anders, als durch Leſung ernſthafter und an:
dächtiger Bücher erhalten werden, und müßte
auch hinwiederum mit lauter Ernſt oder mit
Seufzen und Weinen vorgetragen werden.
Jedoch gab Gott Gnade, daß ich meinen Fuß
auch aus dieſem Irrthum bey Zeiten zurück
zog, und deutlich begriffe, daß die Erkenntniß
der Wahrheit an und für ſich ſelbſt von dem
Vortrage derſelben nicht dependiret. — Ich
wurde vergewiſſert, daß ſo wenig der ernſthaf—
te und ſeufzende Vortrag die Lehrer vor Irr—
thümern bewahrete, als der muntere und leb—
hafte Vortrag nebſt einem ungezwungenen und
ſinnteichen Scherz der Erkenntniß und Fortpflan—
Sung der Wahrheit ſchädlich Wet daß da⸗
her ein jeder Wahrheitsliebender das Talent
das ihm Gott diesfalls gegeben, brauchen und
bey demſelben bleiben ſolle. Wenn z. B. der
felige Johann Arnd, und der Gottesfürchtige
D. Spener Lutheti oder Erasmi freudige
308
Schreibart hätten affectiren wollen, würden fü ie
ſich ſehr ptoſtituirt haben; und im Gegenteil,
sc 3 8
wenn der Mann Gottes Lutherus, und der an⸗ 1
dre Werkzeug Gottes Erasmus von Rotterdam
ihre freudige und ſinnreiche Schreibart hätten
verſtecken, und eine traurige, oder auch nur
ernſthafte allezeit gebrauchen wollen, würden
ſie dem Pabſtthum lange ſo großen Schaden
nicht gethan haben, als ſo geſchehen. „ — lÜbri⸗
gens erzählt Thomaſtus im dritten Bande ſei⸗
ner Händel einen Theil ſeiner Schickſale in
Leipzig, und dieſe Erzählung ſetzt er in den
»pernünftigen und cheiſtlichen, aber nicht ſchein
heiligen Gedanken und Erinnerungen über al⸗
lerhand gemiſchte ieee und Juriſtiſche
Händels fort. |
Unter dieſem Titel erſchien ae von
1723 bis 1725, in drey Octavbänden, ein Werk,
das mit der Fortſetzung der Recenfionen von
Büchern aus der Thomaſiſchen Bibliothek be⸗ |
ginnt, und dann eine Neihe von rechtlichen
Fragen enthält, die mit eben den Vorzügen
beantwortet, und zum Theil den Rechten gemäß
entſchieden find, wie die des vorigen Werks.
Wodurch aber dieſes beſonders ſchätzenswerth
wird, das ſind eben die Nachrichten von dem
\
309
Leben des Verfaſſers. Dieſen Gedanken fügte
er 1726, alſo im paſten Jahre feines Lebens,
einen Anhang hinzu, in welchem er die Erläu⸗
terung einiger dunkeln Stellen des Cicero, die
er von mehrern gelehrten Männern ae
hatte, mittheilte, und alsdann einigen von de⸗
nen, die wider ihn geſchrieben hatten, zeigte,
warum er ihnen nicht geantwortet habe; theils
hatte er es unterlaſſen, um Streitigkeiten zu
vermeiden, in der Überzeugung, das Feuer wer:
de ſchon verlöſchen, wenn es nicht geſchürt wür⸗
de; theils, weil der Gegenſtand zu unbedeu⸗
tend geſchienen, oder man nur im Worte von
ihm diſſentirt habe; theils auch, weil die Ver⸗
faſſer der Schriften gegen ihn keiner Antwort
werth geweſen. Dieſe Schrift war, ſoviel wir
haben erſahren können, die letzte des Thoma⸗
fius. *)
9 Die Gelegenheit zu den Erläuterungen gab
eine Anfrage des Thomaſtus in den gemiſchten
Händeln über eine Stelle in Cicero's Orator,
worin dieſer ſagt, man ſetze nobiscum, weil
cum nobis — obscoenius klingen würde. Tho⸗
maſius begriff nicht recht, warum? Und da er
einmal beym Fragen war, ſo bat er auch noch,
daß man ihm eine andre ähnliche Stelle erklä—
Asſang⸗ ſetzte er darauf ſeine aka tischen
Votrleſungen noch fort; aber bald zog er ſich
zurück, weil ihn ſein Alter daran mahnte, daß
unſers Bleibens nicht auf Erden it und über⸗
gab ſein Amt ſeinem Nachfolger, der ſchon er⸗
nannt war. Aber er ſah ſeines Lebens Ende
mit der heitern Ruhe entgegen, die das Be:
wußtſeyn, gelebt zu haben, noch nie verließ.
Er hatte, wie Schlözer ſagt, auf Mit⸗
und Nachwelt mehr gewirkt, als Alle Philofo:
phen Griechenlands zuſammengenommen: ob er
ren möchte; nemlich den Brief des cicero an
den Pätus, ad familiares IX. 22, den er Aber
nicht nannte. — Zum Beweiſe aber, daß Tho⸗
fine eben fo munter endete, wie er anfing, .
wollen wir aus dem zweyten. Theil des An⸗
hangs folgendes erzählen. Ein gewiſſer Predi⸗
ger Erdmann hatte wider ihn geſchrieben
unter dem Namen Salzmann. Toomaſtus
ſagt, das habe er gethan, weil er ſich der
Stelle aus dem Matthäo erinnert: Ihr ſeyd
das Salz der Erden, und weil der arme
Gre nkloß gemeynt, er ſchicke ſich vortreff⸗
lich auf ihn. Thomaſius rieth ihm, die Stelle
bey einer folgenden Schrift auf das Titelblatt
zu fegen, aber ja die Worte nicht zu vergaſſen,
daß das Salz zuweilen dumm würds.
1 2
W
—
| 311
aber genützt oder geſchadet, Wahrheit gelehrt
* 8 geirrt, darüber grübelte er nicht: er hatte
es redlich gemeynt, und wußte, daß die Tha—
ten des Menſchen nur Saamen ſind, hinge⸗
ſtreut in die Flur der Zeit und Früchtetragend
nach dem Plane des Ewigen. Darum ſtimmte
iühn der Rückblick auf den Gang feines Gehalt⸗
reichen Lebens zu einer heiligen Andacht, zu
frommen Betrachtungen und zur kindlich⸗dank⸗
baren Ergebung an den Allwaltenden. Der
23ſte September des 1728ſten Jahrs war der
letzte Tag ſeines Lebens. Um den Sterbenden
ſtanden ſeine Gattin, Frau Auguſta Chriſti⸗
ne, D. Polycarp Heylands Tochter, die ſeit 48
Jahren mit ſeltener Treue die Gefährtin ſeines
Lebens geweſen war; ſein Sohn, Chriſtian Po⸗
lycarp; zwey Töchter; fünf Enkel und zwey
Enkelinnen: ein Sohn und zwey Töchter harr⸗
ten des Vaters ſchon im Reiche der Seligen.
Er blickte heiter in die Zukunft; die Seinigen
weinten, ſeine Freunde trauerten, und Deutſch⸗
land fühlte ſeinen Verluſt.
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Neutralizing agent: Magnesium Oxide
Treatment Date: Sept. 2004
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